Die Staaten der EU streiten über Mindestlöhne

Das mindestens Nötige

Die EU-Kommission strebt eine Angleichung des Mindestlohns in den Mitgliedsstaaten an. Widerstand dagegen gibt es nicht nur von Arbeitgebern, sondern auch von Gewerkschaften.

Noch sind die Unterschiede zwischen den EU-Staaten sehr groß. Die EU-Kommission legte Deutschland vergangene Woche nahe, den Mindestlohn deutlich zu erhöhen. Denn es steht nach wie vor schlecht um die »Europäische Säule sozialer Rechte«, die im November 2017 unter EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker proklamiert wurde. Unter anderem faire Arbeitsbedingungen, Sozialschutz und Chancengleichheit wurden damals angekündigt. Doch die Realität in der Europäischen Union sieht anders aus.

In Dänemark, das keinen Mindest­lohn kennt, kommen selbst sehr schlecht bezahlte Beschäftigte auf ungefähr 13 Euro Stundenlohn.

Jeder sechste Beschäftigte in der EU arbeitet im Niedriglohnbereich, oft unter prekären Bedingungen; fast jeder zehnte zählt mittlerweile zu den sogenannten working poor, leidet also unter Erwerbsarmut; auch die Unterschiede in der Gehaltshöhe wachsen stetig. Dies korrespondiert mit einer steigenden Zahl von Beschäftigten ohne tarifvertraglich geregeltes Arbeitsverhältnis: EU-weit ist der Anteil tariflich entlohnter Arbeit der EU-Kommission zufolge zwischen 2000 und 2015 von 68,5 auf 59,5 Prozent gesunken, besonders stark in Zentral- und Osteuropa.

Um Abhilfe zu schaffen, wurde in den vergangenen Jahren immer wieder ein europäischer Mindestlohn gefordert. Die Sozialdemokraten in der EU hatten ihn bei den Europawahlen 2019 zu einem zentralen Thema gemacht, sehr zum Unwillen der Unternehmerverbände. Man sei »strikt gegen eine EU-Gesetzgebung zum Mindestlohn«, bekräftigte Markus J. Beyrer, der Generaldirektor des EU-Unternehmerverbands Business Europe, jüngst im Handelsblatt.

Widerstand kommt allerdings auch von den Gewerkschaften jener Länder, in denen es noch keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. In Dänemark, Schweden und Finnland beispielsweise, den Ländern mit dem EU-weit höchsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad, wird das Lohnniveau seit eh und je über Tarifverträge zwischen Unternehmern und Beschäftigten ausgehandelt. Der Staat hat sich herauszuhalten – und so soll es nach dem Willen der maßgeblichen Gewerkschaften dort auch bleiben.
Doch die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) will das Vorhaben schnell verwirklichen. Wohl auch, um die Stimmen der Sozialdemokraten im Europaparlament zu bekommen, kündigte Junckers Nachfolgerin noch als Kandidatin für ihren derzeitigen Posten an, sie werde innerhalb der ersten 100 Tage ihrer Amtszeit »ein Rechtsinstrument vorschlagen, mit dem sichergestellt werden soll, dass jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält«. Als EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte ist es der Luxemburger Nicolas Schmit von der sozialdemokratischen LSAP, der dieses Instrument liefern muss.

Am Dienstag vergangener Woche stellte der Politiker in Straßburg die Grundzüge vor. »Jetzt sind 44 Tage um, und schon präsentieren wir den ersten Vorschlag«, witzelte Schmit mit Blick auf den ehrgeizigen Zeitplan seiner Vorgesetzten. Es gehe nicht darum, »einen Mindestlohn im Sinne eines einheitlichen Betrags einzuführen«, stellte er klar. Es solle vielmehr einen rechtlichen Rahmen geben, innerhalb dessen Löhne festgesetzt werden.

Nach dem Willen von der Leyens soll die Initiative vor allem dazu beitragen, die Abwanderung von Fachkräften aus Osteuropa in Richtung Westen zu bremsen. Doch in den östlichen EU-Mitgliedsstaaten gibt es den Mindestlohn bereits. In Rumänien und Bulgarien etwa habe er das häufig geforderte Niveau von 60 Prozent des mittleren Einkommens, auch als Medianeinkommen bezeichnet, »mehr oder weniger erreicht, und trotzdem sind die Menschen arm«, so Schmit zur Jungle World. Ein Hauptziel sei es daher, die Mindestlöhne in diesen Ländern anzuheben.

Neben den genannten nordischen Ländern verzichten lediglich Österreich, Italien und Zypern bislang auf einen gesetzlichen Mindestlohn. EU-weit reichte dessen Spanne im Juli 2019 von monatlich 286 Euro in Bulgarien bis zu 2 071 Euro in Luxemburg, wobei dort Einkommenssteuer und Sozialbeiträge etwas geringer als in Deutschland sind. In 14 der 22 EU-Länder mit Mindestlohn liegt dieser dem EU-Statistikamt Eurostat zufolge weit unter 1 000 Euro im Monat. In Dänemark hingegen, das keinen Mindestlohn kennt, kommen selbst sehr schlecht bezahlte Beschäftigte auf ungefähr 13 Euro Stundenlohn, in Deutschland liegt der Mindestlohn derzeit bei 9,35 Euro. In Finnland und Schweden ist das Lohnniveau ähnlich hoch wie in Dänemark, nicht zuletzt dank der Tarifautonomie und gewerkschaftlicher Organisation.

Verbände wie die schwedische Zentralorganisation der Angestellten (TCO), die 13 Gewerkschaften und mehr als 1,4 Millionen Beschäftigte vereint, sehen daher ihre Verhandlungsmacht und das Wohlergehen ihrer Mitglieder durch den Mindestlohn gefährdet. Selbst geringfügige Veränderungen einer bestehenden Arbeitsmarktpolitik könnten die Kräfteverhältnisse zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen bei Tarifverhandlungen entscheidend verändern, schrieb die TCO-Präsidentin Therese Svanström im Online-Portal EU-Observer. Das befürchtet sie auch von der geplanten Regelung der EU.

Der zuständige EU-Kommissar Schmit widerspricht: »Diese Länder können in jedem Fall ihr Verhandlungssystem fortsetzen.« Keinesfalls wolle man eine Verpflichtung schaffen, Mindestlöhne einzuführen. Ziel seines Entwurfes sei es vielmehr, dass in allen Mitgliedsstaaten, in denen es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, »dieser auch eine würdige Lebensführung ermöglicht«, so Schmit bei seiner Straßburger Pressekonferenz.

Trotz einer detaillierten Problemanalyse lasse der Entwurf der EU-Kommission allerdings jeden konkreten Vorschlag vermissen, kritisiert Esther Lynch, die stellvertretende General­sekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds (ETUC). »In Anbetracht der ganzen Ankündigungen im Vorfeld hatten wir große Erwartungen, doch nun sind wir enttäuscht. Der Entwurf enthält nicht einmal eine grobe Skizze für konkrete Maßnahmen und dafür, was man damit erreichen will«, so die Gewerkschafterin im Gespräch mit der Jungle World.

Auf die Kritik angesprochen, zeigt sich Nicolas Schmit überrascht darüber, »dass die ETUC glaubt, wir kämen schon in der ersten Konsultationsphase mit konkreten Ideen«. Selbstverständlich habe man eine ganze Menge davon, »aber wir wollen zunächst mal hören, was die Sozialpartner sagen«.

Sechs Wochen haben Unternehmerverbände und Gewerkschaften der einzelnen Mitgliedsstaaten nun Zeit, um mitzuteilen, was sie von der Ana­lyse der EU-Kommission halten. Erst dann werde man einen wesentlich präziseren Vorschlag machen, der dann abermals kommentiert werden soll. Ungefähr Ende September soll dann ein konkreter Entwurf an die EU-Institutionen geliefert werden.

Lynch von der ETUC geht das tastende Verfahren solcher Absichtserklärungen nicht schnell genug. Man müsse sich fragen, wie ernst es der Kommission mit dem Thema sei, sagt sie. »Wir brauchen konkrete Schritte, die Spiel­regeln müssen komplett neu formuliert werden. Richtungsweisende Signale ­erwarten wir von den Konsultationen der kommenden Wochen nicht.« Auch die Botschaft an die nordischen Gewerkschaften reicht Lynch nicht aus: »Wir haben konkrete Ideen erwartet, wie die Kommission das dortige System der Tarifverhandlungen zu schützen gedenkt. Doch auch dazu findet man in der jetzigen Initiative nichts.« Man fürchtet dort bereits, dass ein Unterbietungswettlauf in Richtung der Lohn­untergrenze beginnen könnte.

»Es verwundert mich sehr, wenn die Schweden glauben, dass über europäische Mindestlöhne Druck auf ihre Löhne entstehen könnte«, meint Schmit dazu im Gespräch mit der Jungle World. »Wenn wir versuchen, die Mindestlöhne in Rumänien, Bulgarien und anderen Ländern zu erhöhen, dann wird der Lohndruck eher vermindert. Denn Lohndumping auch innerhalb der EU ist eine Realität.«

Einig sind sich Schmit und Lynch darin, dass die Lohnhöhe prinzipiell nicht über Mindestlöhne, sondern über Tarifsysteme ausgehandelt werden muss. Wie das allerdings angesichts einer stetigen Zunahme prekärer Arbeitsbedingungen und ungeregelter Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungsbereich und anderen Sektoren gelingen soll, bleibt fraglich. Lynch pocht auf gewerkschaftliche Organisation, Schmit auf Verhandlungen mit den Sozialpartnern. Es sei ein schwieriger Prozess, gibt er zu: »Ich habe da auch keine konkreten Mittel.«

Zumindest einen konkreten Vorschlag, der rasch zu besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen führen könnte, hat Lynch für die EU-Kommission schon parat: »Sie könnte mit ­gutem Beispiel vorangehen und dafür sorgen, dass öffentliche Aufträge nur noch an solche Firmen gehen, die zu Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaften bereit sind.«