Die geplante Rentenreform wird ­Altersarmut produzieren

Die große Demontage

Seit Anfang Dezember wird in Frankreich gegen eine geplante Renten­reform gestreikt, die zu einer umfassenden Wirtschaftsreform gehört. Das vorhaben ähnelt der deutschen »Agenda 2012«.

»Not und Elend: vor, während und ­sogar nach der Rente« war auf einem der Schilder zu lesen, das Demons­tranten Anfang Dezember im südfranzösischen Valence mit sich trugen. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter sollte nach den Reformplänen der französischen Regierung von 60 auf 64 Jahre erhöht werden. Zahlreiche vorteilhafte Sonder­regelungen für Beschäftigte im Öffentlichen Dienst wie Arbeitern der Eisenbahn oder Krankenpflegerinnen sollen abgeschafft werden. Ein Rentensystem nach Punkten und ein generelles Renteneintrittsalter sollen eingeführt werden. Die Regierung spricht von Reformen, die nötig seien, um das System gerechter zu ­gestalten und um Vergleichbarkeit herzustellen. Nach wochenlangen Protesten verweist sie auf Privilegien einzelner Berufs­gruppen, um die Proteste zu spalten. Dies scheint in dieser Woche erstmals gelungen zu sein.

Die Gewerkschaft CGT hat eine durchschnittliche Rentenkürzung von 25 Prozent berechnet, sollten die Gesetze verabschiedet werden.

Die größte, ursprünglich an der Sozialdemokratie orientierte Gewerkschaft CFDT ist nach der Rücknahme des ursprünglich geplanten Eintritts­alters bereit, den Protest und den Streik zunächst auszusetzen. Doch die weiter links stehende Gewerkschaft CGT hat eine durchschnittliche Rentenkürzung von 25 Prozent berechnet, sollten die entsprechenden Gesetze verabschiedet werden. Ihrer Ansicht nach geht es der Regierung auch darum, nach der Vereinheitlichung auf der Basis von Rentenpunkten in Zukunft durch eine Reduktion des Punktwerts Kürzungen leichter durchsetzen zu können. Sie ruft ihre Mitglieder daher dazu auf, mit dem Arbeitskampf so lange zu führen, bis die Rentenabsenkungen vollständig zurückgenommen werden.

Vieles erinnert an die im Zuge der »Agenda 2010« in Deutschland vorgenommenen Kürzungen der Sozialausgaben durch die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder (SPD). Auch der Vorschlag der Regierung von Emmanuel Macron, verschiedene Sozialleistungen zu einem sanktionierbaren »Aktivitätseinkommen« zu schrumpfen, erinnert an das deutsche Hartz-IV-System.

Zusammen mit dem Premierminister Édouard Philippe regiert Macron Frankreich wie ein rasch zu modernisierendes Unternehmen. Sie verkörpern den neuen Managertyp: schlank, dynamisch, leistungsorientiert und bereit, persönliche Opfer zu bringen. So hat Macron im Dezember medienwirksam auf seine Rente als Staatsprä­sident verzichtet. Ob ihm das helfen wird, bleibt abzuwarten. Sein Ansehen hat spätestens seit dem Protest der ­sogenannten Gelben westen Ende 2018 gelitten. Er gilt vielen als arrogant und ignorant hinsichtlich der Sorgen der Menschen. In Umfragen von Anfang Januar zeigte sich nur noch ein Viertel der Befragten mit seiner Arbeit zufrieden.

Anders als in Deutschland ist der Widerstand gegen die Kürzungen von Sozialleistungen sowie die Privatisierung der Krankenhäuser und anderer öffentlicher Einrichtungen in Frankreich groß, er hält seit dem Amtsantritt Macrons an. So wurde der Protest zunächst vom Streik des Pflegepersonals in den Notaufnahmen der Krankenhäuser, dann von Lehrern und Studierenden und schließlich besonders von den Angestellten der staatlichen Eisenbahn SNCF getragen. Allen Einschränkungen im Alltag zum Trotz unterstützt weiterhin eine deutliche Mehrheit der Franzosen die Streikenden. So veröffentlichten kürzlich in der Tages­zeitung Libération 500 Intellektuelle einen Aufruf, den Streik unter anderem durch Einzahlungen in die Streikkasse zu unterstützen.

Die für den 15. und 22. März angesetzten landesweiten Kommunalwahlen verstärken das Interesse der Regierung, öffentliche Proteste wenigstens kurzfristig zu minimieren. Sie scheint dabei nach folgender Strategie vorzugehen: Zuerst erfolgt der Abbau sozialer Ausgaben, Proteste dagegen versucht die Regierung mit einmaligen Zahlungen sowie kurzfristigen Prämien einerseits und kleineren Zugeständnissen andererseits zu befrieden. So nahm sie als Reaktion auf die Proteste der Gelbwesten die Erhöhung der Steuer auf Dieselkraftstoff zurück, Mindestlohnempfänger bekamen einen einmaligen Zuschuss. Einen solchen erhielten am Jahresende auch die zahlreiche Notaufnahmen bestreikenden Pflegekräfte. Das ändert jedoch nichts an den strukturellen Kürzungen im öffentlichen Sektor, deren Auswirkungen immer offensichtlicher werden. Dem Statistik­amt Insee zufolge leben in Frankreich fast 14 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

In Frankreich gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügt, also über weniger als 1 026 Euro im Monat. Die Industrie schrumpft, die Arbeitslosigkeit geht nur langsam zurück und die Reallöhne sind im Vergleich zum Vorjahr sogar um 1,3 Prozent gesunken. Dennoch konnte Frankreich einer aktuellen OECD-Studie zufolge im vergangenen Jahr ein Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent verzeichnen. Das sind 0,6 Prozentpunkte mehr als in Deutschland. Besonders die Binnenkonjunktur trägt das Wachstum in Frankreich. Ein Grund dafür könnte die hohe Staatsverschuldung sein, die im vergangenen Jahr etwa 100 Prozent des BIP betrug und weiter steigen dürfte. Das französische Wirtschaftswachstum wird von einigen auch darauf zurückgeführt, dass die als Reaktion auf die Proteste der Gelbwesten aufgeschobenen Steuererhöhungen und gesenkten Abgaben die Nachfrage gestärkt hätten.

Der im Vergleich zu Deutschland und in Relation zu den Wirtschaftszahlen hohe soziale Standard ist auch auf die hartnäckigen Abwehrkämpfe der Gewerkschaften, besonders der CGT, seit den neunziger Jahren zurückzuführen. Die verbreitete Altersarmut in Deutschland gilt in Frankreich weiterhin als abschreckendes Beispiel.