Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Spanien

Jung, zugewandert, stigmatisiert

Reportage Von Jan Marot

»Mena« werden unbegleitete minderjährige Migranten in Spanien genannt. Rechtsextreme haben die Jugendlichen als Feindbild entdeckt und unterstellen ihnen, kriminell und gewalttätig zu sein. Flüchtlings- und Migrantenorganisationen kämpfen gegen die Stigmatisierung an.

Er hat schwarze Locken, dunkle Haut, ist etwa 1,65 Meter groß, 17 Jahre alt und kommt aus Al Hoceïma an den Ausläufern des nordmarokkanischen Rif-Gebirges. Und er passt dadurch zu einem der wichtigsten Feindbilder der rechtsextremen spanischen Partei Vox. Denn Mahmoud* ist ein sogenannter Mena, einer der »minderjährigen Migranten ohne elterliche Begleitung« (Menores Extranjeros No Acompañados), wie sie im spanischen Recht bezeichnet werden. Mangels Erziehungsberechtigten an Ort und Stelle übernehmen die Regierungen der Autonomieregionen sowie in der Flüchtlingshilfe tätige NGOs die elterliche Rolle, doch nur bis zum 18. Lebensjahr. Der bürokratische Terminus »Mena« wurde von Vox genutzt, um Stimmung gegen minderjährige Migranten zu machen. Kritiker meinen, der Begriff Mena entmenschliche die Personen, die damit bezeichnet werden.

»Ich vermisse meine Heimat. Meine Mutter glaubt wohl, ich sei längst gestorben.« Bilal*, unbegleiteter minderjähriger Migrant

Mahmoud ist der älteste Sohn einer Bauernfamilie. Er ist Halbwaise, seine Mutter starb, bevor er fünf Jahre alt war, und von seinen acht Geschwistern haben nur fünf die früheste Kindheit überlebt. Er gelangte, wie er sagt, unter einem LKW versteckt über die Grenze aus Marokko in die spanische Exklave Ceuta in Nordafrika. Volljährige Migranten ohne Visum haben meist keine Chance, von dort legal auf das iberische Festland überzusetzen. Doch als Minderjährigem blieb ihm eine Abschiebung aus Ceuta erspart. Diese werden häufig rechtswidrig vorgenommen. Mahmoud wurde erst nach Málaga und dann in ein Heim nahe der maurischen Prachtfestung Alhambra in Granada gebracht. Dort lebt er mittlerweile seit über zwei Jahren.


Wachsendes Misstrauen
Mit dem nahenden Frühling, wenn sich die andalusische Sonne wieder mehr zeigt, verbringt er die freien späten Nachmittagsstunden mit seiner Clique auf einer steinernen Bank im Parkareal in der Nähe des Heims. Die Jungen hören marokkanischen Maghreb-Rap auf dem Handy, sie kiffen ab und zu, surfen im Internet, betrachten Clips auf You­tube, schauen sich in sozialen Medien um, auch um Kontakt mit Freunden und Familie an ihren Herkunftsorten zu halten. Drei von Mahmouds Freunden sind Marokkaner, der 15jährige Ahmed* und der 17jährige Mohammed* kommen aus dem Rif, der 16jährige Omar* kommt aus der Westsahara. Der fünfte im Bunde, der 17jährige Bilal*, kommt aus der algerischen Hafenstadt Oran. Sie alle teilen sich zwei Smartphones, mitunter kriegen sie sich dabei in die Haare.

»Ich will eine gute Ausbildung abschließen«, erzählt Mahmoud, »zunächst das bachillerato«, wie das Abitur in Spanien heißt, »und dann eine Arbeit finden, damit ich meinem Vater und meinen Geschwistern finanziell unter die Arme greifen kann.« Nur alle paar Wochen schaffe er es, mit ihnen zu sprechen, meist über Whatsapp. Omar und Bilal haben überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihren Verwandten. Omar, der vor knapp zwei Jahren über die Grenzzäune der spanischen Exklave Melilla kletterte, ist Vollwaise. Seine Geschwister habe er aus den Augen verloren, nachdem er mit seinem alten Handy alle Telefonnummern verloren habe, sagt er. Bilal kam auf einem Flüchtlingsboot nach Spanien. »Ich vermisse meine Heimat. Meine Mutter glaubt wohl, ich sei längst gestorben«, sagt er. Zurückzukehren komme für ihn aber keinesfalls in Frage.

»Ja, das Geld ist knapp. Eigentlich gibt es keines für uns«, sagt Mahmoud. Zehn Euro in der Woche bekomme er als eine Art Taschengeld. Darum verkauften er und seine Freunde, »hin und wieder«, wie sie sagen, überteuertes Gras in Kleinstmengen, meist an Touristen, Engländer, Deutsche, Holländer und Franzosen. Zu stehlen oder jemanden auszurauben, komme für sie nicht in Frage. In nahezu akzent­freiem Spanisch erzählt Mahmoud weiter, wie schwer es sei, in Granada spanische Freunde zu ­finden. Seit Vox Stimmung ­gegen Menas wie ihn mache, spüre er wachsendes Misstrauen und Distanz, nicht bei seinen Mitschülerinnen und Mitschülern, aber meist bei älteren Spanierinnen und Spaniern.


Worten folgte ein Sprengsatz
Im Wahlkampf zu den Parlamentswahlen im November warf Vox »den Menas« vor, Raub, Diebstähle und Vergewaltigungen zu begehen. Spanier seien auf den Straßen nicht mehr ­sicher, behauptete Vox. Javier Ortega Smith, der Generalsekretär der Partei, forderte, straffällig gewordene jugendliche Migranten »direkt in ihre Ursprungsländer abzuschieben«. Rocío Monas­terio, die Parteivorsitzende für Madrid, spazierte im Wahlkampf durch den Stadtteil Hortaleza, um medienwirksam Stimmen verängstigter Bewohnerinnen und Bewohner einzufangen. Frauen trauten sich nicht mehr, allein einkaufen zu gehen, konstatierte sie. Tage zuvor war sie in einem Viertel in Sevilla in derselben Mission unterwegs gewesen, wo es auch ein Zentrum für unbegleitete minderjährige Migranten gibt. Antirassistische Organisationen hatten sie daraufhin wegen eines »Hassdelikts« angezeigt.

»Die ›Mena‹ fallen nicht unters Migrationsrecht, sondern sie müssen den Kinderrechten entsprechend behandelt werden. Das ist eine Angelegenheit der Regionen und nicht des Staats.« Montse Sánchez, Caminando Fronteras / Walking Borders

Die Kampagne zeigt Wirkung: In Hortaleza warf ein Unbekannter am 4. Dezember Ermittlungen zufolge eine Übungsgranate auf ein auch von jugendlichen Migranten bewohntes Erstaufnahmezentrum und Jugendheim. Der Sprengsatz detonierte nicht und wurde später von Sprengstoffexperten der Polizei kontrolliert zur Explosion gebracht. Das von der Region Madrid betriebene Heim ist auf 35 Personen ausgelegt, doch sind meist knapp 100 darin untergebracht. Drei Monate vor dem Anschlagsversuch platzierte die rechtsextreme Gruppe Hogar Social ein Transparent am Zaun, das vor den Mena warnte. Auch der franquistische Leitspruch »Arriba España« (»Hoch lebe Spanien«) wurde an die Wände gesprüht. Bereits im Ok­tober hatten maskierte Täter zwei junge Migranten in der Nähe des Heims verprügelt.

Über soziale Medien, in erster Linie Twitter und Facebook, verbreiten Rechtsextreme zudem zahlreiche Falschmeldungen über Migranten. Teilweise griffen auch etablierte Medien diese auf. Zu den zahllosen fake news, die Vox über eigene Kanäle verbreitet, zählt die Behauptung, jugendliche Migranten erhielten monatlich 664 Euro. Tatsächlich erhalten unbegleitete minderjährige Migranten je nach Autonomieregion in der Woche ein »Taschengeld« von drei Euro für die Jüngsten bis sieben Jahre, bis zu sieben oder zehn Euro für Ältere. Einzig Katalonien gewährt allen elternlosen Jugendlichen zwischen 18 und 23 Jahren, Spaniern oder Ausländern, die in regionaler Obhut sind, knapp 600 Euro monatlich.


Stigma und Statistik
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR äußerte sich »extrem besorgt« über die Stigmatisierung von jugendlichen Migranten. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef und Save the Children sowie spanische Migranten- und Flüchtlingsorganisationen verurteilen die Hasskampagne der Partei Vox. Der Prozentsatz junger Migranten, die Straftaten begehen, ist verschwindend gering.

Den Daten des spanischen Innen­ministeriums zufolge lebten im April 2019 12 300 unbegleitete jugendliche Migranten in Spanien, die Mehrheit von ihnen stammt aus Marokko und Alge­rien, viele weitere kommen aus Ländern südlich der Sahara. Über 5 180 von ihnen leben im südspanischen Anda­lusien. Lediglich 0,52 Prozent wurden laut der andalusischen Regionalregierung seit 2015 straffällig. Für Katalonien, wo etwa 2 000 dieser Migranten leben, besagt ein Bericht der Regionalpolizei Mossos d’Esquadra, dass 82 Prozent der jugendlichen Migranten nie in Konflikt mit dem Gesetz gekommen seien. Deutlich ist der Anstieg der Zahl jugendlicher Neuankömmlinge in Spanien. 2017 zählte man lediglich 6 414, derzeit sind es mehr als doppelt so viele. Mit nur etwa acht Prozent ist der Anteil weiblicher Minderjähriger sehr gering.

Neben den oft überbelegten staatlichen und regionalen Zentren kümmert sich spanienweit eine Vielzahl an NGOs um die jungen Migranten. Manchmal nehmen auch Familien sie in Obhut. Im asturianischen Gijón kümmert sich die NGO Accem um betreutes Wohnen. Maximal acht jugendliche Migranten bringe man in einer betreuten Wohnung unter, sagt Vanessa Martínez von Accem zur Jungle World. »Das katastrophale Bild, das die Medien von den Jugendlichen zeichnen, hat auch in der Nachbarschaft Ängste und Widerstände ausgelöst.« Doch es sei ihnen und der NGO gelungen, die Bewohnerinnen und Bewohner zu sensibilisieren, dabei habe man eine Fülle an Vorurteilen ausräumen können. »Wir haben bisher über 100 Jugendliche in unseren Wohnungen betreut, nur drei waren etwas konfliktbereiter. Aber die Pubertät ist für alle eine turbulente Zeit, ob man nun Spanier ist oder nicht«, so Martínez. Zudem dürfe man auch nicht vergessen, welche Traumata die Kinder und Jugendlichen erlebt hätten, sei es in den Herkunftsländern oder während der mitunter langen und überaus gefährlichen Flucht nach Spanien, auf einem Schlauch- oder Holzboot, in einem LKW oder Kleinlaster oder an eine Fähre geklammert.

»Die ›Mena‹ fallen nicht unters Migrationsrecht, sondern sie müssen den Kinderrechten entsprechend behandelt werden. Damit ist das eine Angelegenheit der Regionen und nicht des Staats«, betont Montse Sánchez von der NGO Caminando Fronteras/Walking Borders aus Chiclana de la Frontera (Cádiz) im Gespräch mit der Jungle World. Auch sie gibt den Medien eine Mitschuld an der Stigmatisierung der Mena: »Die meisten Spanier kennen keine jungen Migranten. Was sie über diese denken, kommt aus dem Fernsehen, der Zeitung, von Twitter oder aus dem Mund reak­tionärer und rassistischer Politiker. Mit der Realität hat das nichts gemein.«

»Andalusien ist als die Region, wo die meisten ankommen, ein Brennpunkt, neben Murcia oder den Kanaren. Aber viele Mena zieht es ins Baskenland oder nach Katalonien, in die wohlhabenderen Gegenden Spaniens, wo sie sich bessere Chancen erhoffen«, sagt Sánchez. Die von rechten Parteien regierten Regionen Murcia und Andalusien, wo Vox eine Koalition aus der Volkspartei (PP) und den Ciudadanos stützt, sowie die Exklaven Ceuta und Melilla fordern vom Staat, die Mena im Land zu verteilen. Die neue linke Regierung aus der sozialdemokratischen Partei PSOE und dem linken Bündnis Unidas Podemos kündigte diesbezüglich Pläne an. »Ich finde die Idee nicht gut, man muss hier sehr vorsichtig sein. Mena sind in erster Linie keine Immigranten, es sind Kinder und Jugendliche. Sie müssen wie alle anderen auch behandelt werden«, bekräftigt Sánchez. »Man muss sich besser orga­ni­sieren, bestehende Strukturen optimieren, mehr Mittel aufbringen, aber es muss jetzt nicht das Rad neu erfunden werden.« Auch sei es denkbar, dass etwa eine Region die Vormundschaft hat und ein Aufnahmezentrum in einer anderen Region die Obhut.


Volljährig in die Vergessenheit
Problematisch für die Jugendlichen ist ihr 18. Geburtstag, denn mit der Volljährigkeit fallen sie aus dem Schutz der regionalen Obhut. »Was nicht bedeutet, dass sie nicht mehr schutzbedürftig wären. Sie sind in einem fremden Land, ohne familiäres Netz. Sozialen Rückhalt haben sie meist nur bei Freunden, die in derselben Situation sind«, sagt Sánchez. »Ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Mittel droht ihnen, auf der Straße zu landen.« Viele würden dann ihre Migration fortsetzen, in Richtung Nord­spanien und weiter in andere europä­ische Länder, sagt sie.

In Jerez de la Frontera hat sich aus einer Bürgerinitiative eine Bewegung zur Unterstützung der mittlerweile volljährigen ehemaligen Mena formiert, die Wohnungen anbietet, aber auch Druck auf die regionalen Behörden ausübt, damit diese sich der Problematik annehmen. In Madrid und Barcelona riefen volljährige Migranten das Kol­lektiv »Ex-Mena« ins Leben, das als Netzwerk dient und zur gesellschaftlichen Sensibilisierung beitragen will. Die NGO Andalucía Acoge führt derzeit eine Kampagne in den sozialen Medien unter dem Motto »No me dejes en la ­calle« (»Lass mich nicht auf der Straße«).

Neben Obdachlosigkeit und dem Weg in die Kriminalität besteht vor allem für weibliche Mena die Gefahr, in die Fänge von Prostitutionsnetzwerken zu geraten, wie unlängst durch Fälle rund um Aufnahmezentren des Instituto Mallorquín de Servicios Sociales (IMAS) auf den Balearen bekannt wurde. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen der Prostitution minderjähriger Migrantinnen in bislang 16 Fällen. »Junge Migrantinnen werden doppelt diskriminiert«, sagt Sánchez, »sie treffen Rassismus und Machismo.« Der Druck auf sie sei groß, da Behörden, von der Grenzpolizei bis zu den Betreuern im Heim, davon ausgehen, dass sie mit Hilfe von Menschenhändlern nach Spanien gelangt und dabei ohnehin vielfach sexuell missbraucht worden seien. Dies sei zwar ein reales Problem, so Sánchez, gelte aber keineswegs für alle.

*Name von der Redaktion geändert