Der neue Tarifvertrag in der ­Leiharbeit hält die ungleiche Bezahlung aufrecht

Leiharbeit bleibt billig

Erneut haben sich die DGB-Gewerkschaften für eine Fortsetzung des Tarifvertrags in der Leiharbeitsbranche und damit gegen den Grundsatz gleicher Entlohnung entschieden.

Lohndumping und Belegschaftsspaltung gehen weiter: Kurz vor dem Jahreswechsel einigten sich die Gewerkschaften des DGB mit den Unternehmerverbänden der Leiharbeitsbranche auf einen neuen Tarifvertrag.

Die Tarifverhandlungen für die mehr als 750 000 Beschäftigten in dieser Branche waren weitgehend unbeachtet geblieben, was vor allem an der Zurückhaltung der Gewerkschaften lag. Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied, lobte die Ergebnisse der mehrmona­tigen Verhandlungen im Namen der »Tarifgemeinschaft Leiharbeit« des DGB als »wesentliche Verbesserungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Leiharbeitsbranche« und als »weiteren wichtigen Schritt zur Angleichung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten dieser Branche«.

Bei einem Konjunktureinbruch können Unternehmen weiterhin auf Leiharbeit zurückgreifen, ohne Konflikte mit den Gewerkschaften zu riskieren.

Einem Blick auf den Tarifabschluss hält dieses positive Urteil jedoch kaum stand: Bei einer ungewöhnlich langen Laufzeit von drei Jahren sollen die Löhne jährlich lediglich zwischen 1,9 und 4,1 Prozent steigen. Für die Mehrheit der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, die sich in den unteren beiden Entgeltgruppen befindet, bedeutet dies gerade einmal eine Erhöhung von etwa einem Euro pro Stunde. In der untersten Entgeltgruppe steigen die Löhne von derzeit 9,66 Euro im Osten und 9,96 Euro im Westen bis zum Jahr 2022 auf bundesweit 10,88 Euro. Die Angleichung der Ost- an die Westlöhne zum 1. April 2021 war bereits 2016 vereinbart worden.

Die Löhne bleiben damit nur knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 9,35 Euro und weit unter der Lohnuntergrenze von zwölf Euro, die von vielen Sozialverbänden und den Gewerkschaften gefordert wird, um zu verhindern, dass Geringverdienerinnen und Geringverdiener unter Altersarmut leiden müssen. »Der Tarifabschluss mauert zahlreiche betroffene Leiharbeiter für mehrere Jahre unter dieser derzeit diskutierten und geforderten Grenze ein«, schreibt der Pro­fessor für Volkswirtschaftslehre der Hochschule Koblenz, Stefan Sell, auf ­seinem Blog »Aktuelle Sozialpolitik«. Auch bei ihren Forderungen nach mehr Urlaub mussten die Gewerkschaften deutlich zurückstecken. Die ab dem zweiten Beschäftigungsjahr geforderten 30 Tage pro Jahr soll es erst ab dem vierten Beschäftigungsjahr geben.

Die Arbeitgeberverbände zeigten sich zufrieden mit dem Tarifabschluss. Uwe Beyer, Vorstandsmitglied des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister, lobte in einer Pressemitteilung des Interessenverbandes Deutscher Zeitarbeitsunternehmen die durch die lange Laufzeit des Tarifvertrags gegebene hohe »Planungssicherheit«. Diese sei »angesichts der gegenwärtigen und zukünftigen Unsicherheitsfaktoren von großem Wert«. Anders gesagt: Auch bei dem erwarteten Konjunktureinbruch können deutsche Unternehmen auf Leiharbeit zur flexiblen Steuerung zurückgreifen, ohne mit den Gewerkschaften in Konflikt zu geraten.

Für die Gewerkschaften ist Leiharbeit ein schwieriges Thema. Das Grundsatzprogramm des DGB forderte bis 1996 ein generelles Verbot der Leiharbeit. In Zeiten steigender Arbeitslosenzahlen galt Leiharbeit auch den Gewerkschaften als probates Mittel, um Langzeitarbeitslose wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Das Ende 2001 beschlossene »Gesetz zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente« und das ein Jahr später ver­abschiedete »Erste Gesetz für moder­ne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« (»Hartz I«) beendeten die gesetzlichen Einschränkungen der Leih­arbeit und ermöglichten den Boom der Branche.
Die Mitwirkung der Gewerkschaften an dieser Deregulierung der sogenannten Arbeitnehmerüberlassung hat zu einem Glaubwürdigkeitsverlust geführt, der die Mobilisierung der Betroffenen erschwert. Heutzutage vertritt im DGB niemand mehr die Auffassung, Leiharbeit könne für Berufsrückkeh­rerinnen und Berufsrückkehrer oder Langzeitarbeitslose eine Brücke in ­reguläre Beschäftigung sein. Für eine Wiederaufnahme der Forderung nach dem Verbot der Leiharbeit wollen sich die meisten Gewerkschaften jedoch nicht aussprechen.

Ob in der Branche Tarifverträge überhaupt sinnvoll sind, ist in den DGB-­Gewerkschaften umstritten, da diese den 2003 im Zuge der Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes festgeschriebenen Gleichbehandlungsgrundsatz relativieren. Als jedoch christliche Gewerkschaften begannen, Tarifverträge mit äußerst niedrigen Löhnen abzuschließen, vereinbarten die DGB-Gewerkschaften noch 2003 einen Flächentarifvertrag für die Leih­arbeitsbranche. Dieser beinhaltete einen Stundenlohn von 6,85 Euro in der niedrigsten Stufe.

Die Auswirkungen des Abschlusses, der vom DGB als »großer Erfolg« gefeiert wurde, waren für viele Leiharbeiter gravierend. Nicht nur wurden damit Armutslöhne per Tarifvertrag festgeschrieben und der Gleichbehandlungsgrundsatz aufgegeben. Beschäftigte aus bereits tarifgebundenen Leiharbeitsfirmen mussten zudem im Zuge der Anpassung ihrer Hausverträge an die neuen Tarife Einbußen akzeptieren. 2011 wurde der Tarifgemeinschaft der christlicher Gewerkschaften die Tariffähigkeit aberkannt. Die von ihr verhandelten Vereinbarungen wurden für unwirksam erklärt. Der Weg wäre damit wieder für den gesetzlich veran­kerten Gleichheitsgrundsatz frei gewesen.

Mit einer großangelegten Kampagne unter dem Motto »Niedriglohn per Tarifvertrag? Schluss damit!« versuchten 2013 verschiedene Initiativen und auch namhafte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, ein Ende des tarifvertraglichen Lohndumpings durchzusetzen. Aber auch zahlreiche Anträge der Gewerkschaftsbasis auf Aufhebung des Tarifvertrags scheiterten. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass die Gewerkschaften die Tarifverhandlungen lieber ohne großes Aufsehen über die Bühne bringen wollten. Sie scheinen die Spaltung der Belegschaften zum Wohle der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie akzeptiert zu haben. Denn Deutschlands Stellung in der Weltmarktkonkurrenz fußt auch auf dem billigen und flexiblen Einsatz von Leiharbeitern. Stünde Leiharbeitern derselbe Lohn zu wie den Stammbelegschaften, würde dies die Lohnkosten der Unternehmen erhöhen und die Leih­arbeit unrentabel machen.

Im möglichen Verlust dieses Wettbewerbsvorteils sehen viele Beobachterinnen und Beobachter nicht nur ein Risiko für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportindustrie, sondern auch für die Arbeitsplätze der dort traditionell gut organisierten Stammbelegschaften. Es ist daher wenig erstaunlich, dass die Gewerkschaften zwar auf eine gewisse Regulierung der Leiharbeit drängen, um den Druck auf die Stammbeschäftigten etwas zu mindern, den Wettbewerbsvorteil billiger Leih­arbeiter aber erhalten möchten.