Der türkische Dissident Osman Kavalas wurde im Gezi-Prozess freigesprochen, aber erneut inhaftiert

Erst inhaftieren, dann einsperren

In der Türkei wurde der im Gezi-Prozess freigesprochene Geschäftsmann Osman Kavala erneut angeklagt. Diesmal wird ihm die Unterstützung des Putschversuchs vom Juli 2016 vorgeworfen.

Reich und Sozialist zu sein, reiche nicht aus, um der gerechten Strafe zu entkommen, höhnte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, als der ­Istanbuler Geschäftsmann und Kulturmäzen Osman Kavala trotz eines Freispruchs nicht aus der Untersuchungshaft im Hochsicherheitstrakt der Strafvollzugsanstalten Silivri entlassen wurde. Dort sitzt der 62jährige trotz einer Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), ihn umgehend freizulassen, seit über zwei Jahren in Einzelhaft. Am 18. Februar war er von dem Vorwurf, Drahtzieher der Gezi-Proteste von 2013 gewesen zu sein, freigesprochen worden. Doch aufgrund eines neuen Vorwurfs wurde Kavala nicht aus der Haft entlassen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun erneut gegen ihn, ihm wird vorgeworfen, einem Kreis internationaler Drahtzieher des gescheiterten Putschversuchs vom 15. Juli 2016 anzugehören. Präsident Erdoğan hatte bereits nach der Verhaftung Kavalas am 18. Oktober 2017 behauptet, der »rote Soros« stehe in Verbindung mit der Fethullah-­Gülen-Bewegung und dem ungarisch-amerikanischen Milliardär George ­Soros, der Umsturzversuche in der Türkei finanziere. Zugleich dazu erschienen entsprechende Artikel in den regierungsnahen Zeitungen unter Überschriften wie »Der rote Baron«.

Erdoğan hatte bereits nach der Verhaftung Kavalas 2017 behauptet, der »rote Soros« stehe in Verbindung mit der Fethullah-Gülen-Bewegung und George Soros, der Umsturz-versuche in der Türkei finanziere.

Mücella Yapıcı war wie Kavala eine der drei Angeklagten im Gezi-Prozess, denen lebenslange Haftstrafen drohten. Am Tag des Freispruchs, am 18. Februar, weinte die Umweltexpertin bei der Istanbuler Architektenkammer vor Freude. Nachdem die Staatsanwaltschaft nur eine Woche zuvor die Höchststrafe gefordert hatte, sei Yapıcı sicher gewesen, verurteilt zu werden, sagt sie der Jungle World. Ihre Erleichterung mischt sich mit Wut über das Schicksal Kavalas. Der Geschäftsmann unterhält ­unweit der Architekten­kammer, in der Yapıcı arbeitet, das Kulturzentrum Depo. »Das war ein ganz mieses Manöver«, schnaubt Yapıcı verächtlich. »Erst fordert die Staatsanwaltschaft die Höchststrafe, das kam bis zur Rechtsreform 2004 der Todesstrafe gleich. Wir wurden ja des Landesverrats angeklagt. Dann ein Freispruch, um dann ein neues Szenario zu entwerfen. Und der Präsident greift mehrfach direkt mit Äu­ßerungen in das Verfahren ein. Eine Farce.«

Die Taktik, Gefangenen die Frei­lassung anzukündigen, ist altbekannt. In den neunziger Jahren wurden poli­tische Häftlinge nach dem Verbüßen der Untersuchungshaft oft aus der Zelle entlassen, um beim Verlassen des Gefängnisses wieder festgenommen zu werden. Damit begann dann die Untersuchungshaft von neuem. Im No­vember 2019 wurde der Schriftsteller Ahmet Altan zunächst aus der Haft entlassen, um nach knapp einer Woche aufgrund einer neuen Anklage wieder inhaftiert zu werden. Dasselbe geschah nach nur einem Tag Eren Erdem, einem ehemaligen Abgeordneten der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Gegen den früheren Vorsitzenden der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, wurde ein neues Verfahren eröffnet, um zu verhindern, dass er, falls er in anderen Verfahren freigesprochen würde, freikäme.

Mit der Freilassung Kavalas im Gezi-Prozess erfüllte die Türkei jetzt formell auch die Vorgaben des EGMR mit Sitz im französischen Straßburg. Dieser hatte am 10. Dezember 2019 Kavalas Freilassung gefordert, da die Anklageschrift keine Beweise für die Anklage enthalte. Zu dem Zeitpunkt saß Kavala bereits seit zwei Jahren und zwei Monaten in Untersuchungshaft. Nun müssen die Anwälte Kavalas erneut den Rechtsweg beschreiten und wieder gen Straßburg ziehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Entscheidung dort diesmal zügiger getroffen wird.

Nachdem sich bereits im Gezi-Prozess ein obskurer Zeuge in Widersprüche verstrickt hatte und Kavala an ­Orten gesehen haben wollte, an denen er sich nachweislich nicht aufgehalten haben konnte, wurde nach der erneuten Festnahme nun die absurde Konstruktion publik, mit der die Staatsanwaltschaft ihre jüngste Entscheidung begründet. Im Mittelpunkt steht Henri J. Barkey, ein Nahostexperte und von 2015 bis 2017 Leiter des US-amerikanischen Middle East Program des Woodrow Wilson International Center for Scholars. Er forscht seit Jahren zur islamisch-konservativen Bewegung in der Türkei und hat in diesem Zusammenhang auch Gespräche mit Vertretern der Fethullah-Gülen-Bewegung geführt und sich dafür eingesetzt, dass Gülen in den USA eine Green Card erhielt. Barkey wurde unmittelbar nach dem Putsch als Geheimdienstagent der CIA und Drahtzieher des Putschversuchs denunziert. Regierungsnahe türkische Medien wie Yeni Şafak, Star, Akşam, Sabah und Haber 7 hatten auf ihren Titelseiten ­tagelang behauptet, Barkey sei nach dem Putsch aus der Türkei nach Griechenland geflohen. Später stellte sich heraus, dass der Politikwissenschaftler von einer Gruppe von Staatsbeamten und Fachleuten zu einer Konferenz auf den Prinzeninseln in der Provinz Istanbul eingeladen worden war. An dieser Konferenznnahm auch der für seine Affinität zur Regierung bekannte Politikprofessor Mensur Akgün teil. Er ­äußerte in der islamisch-konservativen Zeitung Karar, dass er die Vorwürfe überhaupt nicht nachvollziehen könne. Es sei eine internationale Konferenz zu Fragen des Mittleren Ostens gewesen. Er kenne Barkey seit Jahren als Gesprächspartner der islamisch-konservativen Regierung, der Wissenschaftler habe auf der Tagung über den Iran ­referiert.

Kavala hatte mit diesem Treffen auf den Prinzeninseln gar nichts zu tun. In den Akten tauchen Protokolle seiner Vernehmungen auf. Er äußerte sich jedoch zu einem zufälligen Treffen mit Barkey in einem Restaurant im Istanbuler Hafenviertel Karaköy. Dort hatte er mit Vertretern der Unesco zu Abend gegessen und den ihm bekannten ­Forscher beim Betreten des Lokals kurz begrüßt. Weitere von der Polizei angeblich ermittelte Treffen und Telefongespräche bestreitet der Geschäftsmann. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die Vorwürfe ebenso aus der Luft gegriffen sind wie die im Gezi-Prozesses. Einer von Kavalas Anwälten, Tolga Aytüre, sagte der Online-Zeitung T24, die Staatsanwaltschaft behaupte, Kavala habe 93 Mal mit Barkey telefoniert. Diesen Vorwurf konnten die ­Anwälte bereits mit Unterlagen der Telefongesellschaft widerlegen. Dennoch bleibt Kavala weiterhin ein nicht verurteilter Gefangener des türkischen Staats.