Ein Gespräch mit dem Gewerkschaftssekretär Matthias Ammer über die gewerkschaftliche Debatte über Arbeitszeitverkürzung

»Zeitsouveränität heißt auch Abwesenheit von Stress und Zeitdruck«

Interview Von Martin Brandt

Matthias Ammer ist Gewerkschaftssekretär der IG Metall Nordhessen. Seit Anfang 2019 können Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie ihre Arbeitszeit für maximal zwei Jahre auf 28 Stunden pro Woche reduzieren. Zuvor waren mehr als 1,5 Millionen Beschäftigte in den Streik getreten. 1995 setzte die IG Metall schrittweise die 35-Stunden-Woche durch.

Wie wird in der IG Metall über Arbeitszeitverkürzung debattiert?

Die Debatte über die Arbeitszeit hat in den vergangenen Jahren wieder an Fahrt aufgenommen. 2017 gab es eine Beschäftigtenbefragung, an der sich 680 000 Menschen aus über 7 000 Betrieben beteiligt haben. Dabei wurde deutlich: es gibt derzeit keine eindeutige Mehrheit für eine generelle Arbeitszeitverkürzung. Es gibt aber ein sehr starkes Interesse an flexiblen Arbeitszeitregelungen, die zum einen kurzfristige individuelle Bedürfnisse und zum anderen eine lebensphasenorientierte Arbeitszeitgestaltung in den Blick nehmen. Daraufhin wurde in der IG Metall lange über ein geeignetes Konzept diskutiert.

Welche Konsequenzen hatten diese Diskussionen?

In der Tarifrunde 2018 konnten wir zwei neue Elemente der Arbeitszeitverkürzung durchsetzen. Einmal die vorübergehende Verkürzung der Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden für maximal zwei Jahre. Das beantragen jedoch nur wenige Beschäftigte. Es ist nicht massenwirksam, weil es nicht mit einem Entgeltausgleich einhergeht. Diesen Nachteil haben wir mit einem zweiten Element auf andere Weise behoben.

Was beinhaltet das zweite Element?

Dabei geht es um die Wahl »Entgelterhöhung oder acht freie Tage«, die an drei Voraussetzungen gekoppelt ist: Entweder ich bin Schichtarbeiter, ich habe eine zu pflegende Person zu Hause oder ich erziehe Kinder. Bundesweit haben dies eine Viertelmillion Menschen beantragt. Bei der Wahl zwischen mehr Geld und mehr Zeit haben sie sich für die freien Tage entschieden. Es wurde also sehr gut angenommen und ist weiterhin heiß begehrt.

Gab es neben dem großen Erfolg seitens der Beschäftigten Kritik an dem Tarifvertrag?

In der Tat hatte der Tarifvertrag einen Pferdefuß, da es uns nicht gelungen ist, Teilzeitbeschäftigte zu integrieren. Da das häufig Frauen sind, die wegen Kindererziehung oder der Pflege Angehöriger ein besonderes Interesse an den acht freien Tagen hätten, muss es uns in Zukunft darum gehen, diese einzubeziehen.

Bei einer Arbeitszeitverkürzung befürchten einige Unternehmen einen starken Anstieg der Lohnkosten, weil bei vollem Lohn- und Personalausgleich die Arbeitsstunde teurer wird. Andere begrüßen die positiven Effekte der Arbeitszeitverkürzung: zufriedenere Mitarbeiter sowie eine höhere Produktivität. Macht es einen Unterschied, ob Unternehmen sich eine Arbeitszeitverkürzung leisten können oder nicht?

Selbstverständlich spielen höhere Lohn- und Personalkosten für die Arbeitgeber eine entscheidende Rolle. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass es hierbei nicht nur um eine ökonomische, sondern auch um eine Machtfrage geht. In vielen klassischen Industriebetrieben gibt es immer noch eine traditionelle Hierarchiestruktur: Entscheidungen werden von oben nach unten durchgestellt; Anpassung ist ein wirksameres Mittel aufzusteigen als Kritik. Trotz blumiger Rhetorik – Stichwort: flache Hierarchien – wird fleißig weiter zentralisiert. Es ist immer noch entscheidend, wer das Sagen hat. Trotz effektivitätsgetriebener Unternehmensstrategie bestehen viele Arbeitgeber auf Anwesenheit im Betrieb. Das ist für viele junge Beschäftigte der »Generation Y« trotz unbefristeter Arbeitsverträge und gutem Einkommen ein Horrorszenario. Das Argument, die Produktivität eines Unternehmens steige mit der Zufriedenheit der Mitarbeiter, spielt vielleicht bei den Arbeitgebern anderer Branchen eine Rolle, aber nicht in der Metall- und Elektroindustrie.

Worin zeigt sich, dass es auch um eine Machtfrage geht?

Im Nachgang des Tarifabschlusses bezüglich der Wahl zwischen der Entgelterhöhung oder acht freien Tagen habe ich den Eindruck, dass die Arbeitgeber weiter nachtreten. Obwohl sie den Tarifabschluss selber unterzeichnet haben, passt er ihnen überhaupt nicht. Sie haben nicht damit gerechnet, dass so viele Beschäftigte die Option in Anspruch nehmen. Sie wünschen sich, dass er wieder zurückgenommen wird, und drohen teilweise sogar damit, aus Tarifbindungen auszusteigen, Standorte zu verlagern oder Stellen abzubauen.

Welche anderen Konflikte um die Arbeitszeit gibt es?

Es gibt zum Beispiel Streit über die Arbeitszeitkonten. In normalen Zeiten können Beschäftigte diese Konten für sich nutzen, indem sie entweder später anfangen oder zeitiger mit der Arbeit aufhören. Wenn es jedoch eine hohe Auftragslage oder eine Wirtschaftskrise gibt, dann nutzen die Arbeitgeber die Konten für ihre eigenen Bedürfnisse. Die Freiheiten der Beschäftigten sind hier stark von Wirtschaftsschwankungen abhängig. Ein weiteres Beispiel ist die Teilzeit. Wenn ein Arbeitgeber Sätze sagt wie: »Du musst jetzt aber länger dableiben«, oder: »Die anderen ziehen mit und du nicht«, obwohl eine Beschäftigte das gar nicht leisten kann mit Blick auf ihren Teilzeitvertrag, wird Druck ausgeübt.

Neuerdings entstehen vermehrt Initiativen wie die »4-Stunden-Liga« oder die Kampagne für eine Viertagewoche. Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin plädiert für die Viertagewoche und den Sechsstundentag. Besteht die Gefahr einer Verdichtung der Arbeit, wenn das Arbeitsvolumen einer Fünftagewoche auf vier Tage verteilt wird?

Die drohende Verdichtung der Arbeit ist tatsächlich ein ernstzunehmendes Argument gegen eine generelle Arbeitszeitverkürzung. Das ist bereits derzeit sichtbar, wenn frei werdende Stellen nicht wieder besetzt werden, sondern die Arbeit von den verbliebenen Beschäftigten übernommen werden muss. Zeitsouveränität der Beschäftigten heißt auch Abwesenheit von Stress und Zeitdruck. Andererseits haben Slogans für eine Viertagewoche oder einen Vierstundentag das Potential, bei den Beschäftigten die Vorstellung von einem schöneren Leben zu wecken. Derzeit bleibt das jedoch ein Gedankenspiel. In der gegenwärtigen Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie geht es in Zeiten von Transformation und nun auch Corona in den meisten Betrieben ausschließlich um Beschäftigungssicherung. Es gibt und droht Kurzarbeit. In Betrieben, die auch derzeit hohe Gewinne erzielen, melden uns die Beschäftigten zurück, dass sie eine stärkere Entgelterhöhung möchten.

Ende Januar fand im Haus der Jugend in Frankfurt am Main eine »Strategiekonferenz für kämpferische Gewerkschaften« statt, mit Beteiligung unter anderem der IG Metall. Wie finden Sie diese Vernetzung?

Ich finde das grundsätzlich gut. Auch die eben genannten zivilgesellschaftlichen Projekte haben eine wichtige Funktion für die Vernetzung und um die Gewerkschaftsarbeit voranzutreiben. Was mir aber fehlt, ist die betriebliche Anbindung. Wir haben Resolutionen und sprechen uns grundsätzlich für eine Arbeitszeitverkürzung aus. Die entscheidende Frage ist jedoch: Gibt es im Betrieb eine Basis dafür? Gibt es Betriebsdebatten? Meines Erachtens fehlt eine Übersetzung dieser Resolutionen und Vernetzungen in die Betriebe. Die Beschäftigten müssen dies auch wollen und mittragen, damit wir die Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern wagen und das durchsetzen können.

Die Bewegung muss von unten kommen?

Genau, denn der Vorschlag der finnischen Ministerpräsidentin kommt ja von oben, von der Politik, und wird dann nach unten durchgereicht. Unser gewerkschaftlicher Ansatz ist jedoch einer, der von unten kommt und sich nach oben kämpft. Der Strukturwandel der Industrie durch den Einsatz von Robotern und Digitalisierung wäre eine ideale Gelegenheit, um die geringere Zahl an Arbeitsstunden, die dann anfällt, in Form von Arbeitszeitverkürzung unter den Beschäftigten aufzuteilen.