In der Coronakrise muss Solidarität bedingungslos sein

Solidarität ist bedingungslos

Von Ruth Oppl

So sehr es gegenwärtig der Solidarität bedarf, so wenig ist sie meist im Wortsinn gemeint, wenn mit Verweis auf die Covid-19-Pandemie an die Bevölkerung appelliert wird.

diskoSolidarität sei das Gebot der Stunde, heißt es ­gegenwärtig auf allen Kanälen. Doch was ­bedeutet das unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie? Und wie verträgt ­Solidarität sich mit dem Prinzip des »social distancing«?

 

Kein Politiker, der momentan nicht von Solidarität spricht, keine Zeitung, die sie nicht beschwört, und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte den Appell zur Solidarität ins Zentrum ­ihrer Fernsehansprache zur Coronakrise. Tatsächlich bildeten sich in Deutschland innerhalb kürzester Zeit in nahezu allen Städten und Gemeinden Netzwerke für Nachbarschaftshilfe, für Obdachlose wurden Gabenzäune installiert, man nähte Gesichtsschutzmasken in Heimarbeit und Tausende meldeten sich bei den Landwirten, um bei der anstehenden Spargelernte zu helfen. Dabei geriet außer Acht, dass es ansonsten nicht weit her ist mit der Solidarität und dass das auch in der Vergangenheit nicht besser ausgesehen hat.

Solidarität droht zu einer Art Volksgemeinschaft zu verkommen, wo sie im Nationalen verhaftet bleibt.

Vieles erinnert an den sogenannte Flüchtlingssommer von 2015. Auch damals appellierte Angela Merkel mit ihrem berühmt gewordenen »Wir schaffen das« an die Hilfsbereitschaft der Einzelnen, aber auch damals wurden dem Engagement dieser Einzelnen kaum zusätzliche staatliche Hilfen zur Seite gestellt. Jetzt zieht wieder eine ­Situation herauf, in der solidarische Menschen mit privatem Engagement Hilfe leisten und es damit – wenn auch unabsichtlich – dem Staat erlauben, sich weitestgehend aus der Verantwortung zu stehlen. So wie die Einrichtung der sogenannten Tafeln dazu beigetragen hat, Armut durch die Mild­tätigkeit Einzelner abzufedern statt als soziales Problem kenntlich zu machen, das staatlich gelöst werden muss, soll auch der Aufruf, bei sich zu Hause provisorische Atemschutzmasken zu basteln, vor allem die Unfähigkeit des Gesundheitsministers Jens Spahn vertuschen. Auch die freiwilligen Helfer von 2015 können davon berichten, wie sie in ihrer Arbeit, die auf die Integration der Geflüchteten ausgerichtet war, durch ein staatliches System behindert wurden, das auf die Abschreckung und Gängelung von Geflüchteten aufgebaut war und ist.

Dabei ist in einer Gesellschaft, in der Ellbogeneinsatz die beste Strategie für beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg darstellt und das Prinzip »Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht« alle sozialen Beziehungen durchdringt, Solidarität in Situationen, in denen der Staat versagt, verdammt, hilflose Ersatzhandlung zu bleiben, und läuft Gefahr, den Neid anderer auf sich zu ziehen. Auch das ist aus der Zeit nach 2015 vor allem als Strategie der AfD und anderer rechtsextremer Gruppen bekannt, die die solidarische Hilfe, die den Geflüchteten kurzzeitig zuteil wurde, bis heute gegen die in Deutschland herrschende Altersarmut erfolgreich ausspielt.

In der Coronakrise finden jeweils in Konkurrenz zueinander gesetzte Solidaritätsakte ihre Entsprechung darin, dass die Maßnahmen, die dem Schutz der Risikogruppen vor einer Ansteckung mit dem Virus dienen sollen, gegen die Schutzbedürftigkeit anderer Gruppen ausgespielt werden. In der Triage – wenn Ärzte darüber entscheiden müssen, wer noch behandelt wird und wer nicht mehr – findet das Konkurrenzprinzip seinen endgültige Ausdruck. Deshalb kann das Argument nie lauten, dass social distancing abzulehnen sei, weil es Flüchtlingsunterkünfte gibt, in denen die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen nicht eingehalten werden können. Es muss natürlich umgekehrt argumentiert werden: Eben weil social distancing lebensrettend ist, müssen Geflüchtete aus den ­Lagern geholt werden, in denen sie auf engstem Raum zusammengepfercht werden. Ähnlich muss es für die Hallen der Onlinehandelskonzerne, wie Amazon oder Zalando, die Callcenter und die Baustellen, wo überall noch gearbeitet wird, heißen: Eben weil unter bestimmten Arbeitsbedingungen ein Abstand von zwei Metern nicht eingehalten werden kann, muss dort die Arbeit eingestellt werden. Als Amazon unlängst in den USA einen Angestellten feuerte, der wegen des mangelnden Schutzes gegen Covid-19 zur Stilllegung einer Amazon-Lieferhalle aufgerufen hatte, weil dort die Arbeitssicherheit nicht mehr gewährleistet war, und die Entlassung damit begründete, dass der Mann mit dem Streik die Betriebsvorschriften zum social distancing nicht eingehalten habe, bekam man vielmehr einen ersten Vorgeschmack auf kommende soziale Kämpfe.

Solidarität droht dort zu einer Art Volksgemeinschaft zu verkommen, wo sie im Nationalen verhaftet bleibt. Internationale oder wenigstens EU-weite Solidarität fehlte nicht nur in der Finanzkrise 2008, auch im Umgang mit Geflüchteten ließ man die Staaten des Mittelmeerraumes seit Einführung der Dublin-Verordnung allein – was nun zu einem Massensterben in den Lagern führen könnte. Nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurde in Deutschland ein Exportverbot für medizinische Hilfsgüter erlassen, medizinisches Gerät, das für Italien bestimmt und von Italien bezahlt war, wurde zurückgehalten und ging »verloren«. Covid-19-In­fizierte im Elsass wurden per Militärhelikopter nach Nancy oder Straßburg ausgeflogen, weil deutsche Krankenhäuser die Hilfe verweigerten, und Deutschland blockierte gemeinsam mit Österreich und den Niederlanden Finanz­hilfen für Italien und Spanien im Europarat. Von »europäischer Solidarität« sah man wenig. Erst als China, Russland und Kuba Ärzteteams und dringend benötigte medizinische Ausrüstung nach Italien schickten, war auch Deutschland bereit, Hilfe zu leisten, und nahm eine Handvoll ita­lienischer Patienten auf.

»Solidarität ist keine Einbahnstraße« – mit dieser abgeschmackten Phrase werden alle möglichen Schikanen gerechtfertigt, denen jene unterworfen werden, die sich in einer Notlage befindet und auf Hilfe angewiesen sind. Das galt für Griechenland in der Finanzkrise ebenso wie für jeden Arbeitslosen, der Hartz IV bezieht. Und so wie Griechenland sich dem Diktat der EU-Troika unterwerfen musste, mussten sich Arbeitslose von Thilo Sarrazin ­erklären lassen, dass sie sich im Winter »einfach warm anziehen und die Heizung drosseln« sollen. Gerne wird im Zuge der Pandemie auch darauf verwiesen, dass die Notlage derjenigen, die nun Arbeitslosengeld beantragen, »unverschuldet« sei. Darin schwingt bereits die Unterscheidung zum bisherigen Hartz-IV-Empfänger mit, bei dem es bisher angebracht schien, dass er sein Vermögen aufbrauchen und eventuell in eine kleinere Wohnung ziehen muss, weil ihm angelastet wird, seine Notlage »selbst verschuldet« zu haben.

Statt die individuellen Lebensrisiken des privaten Einzelnen durch eine ­Solidargemeinschaft abzufedern, werden Unternehmensverluste durch Steuermittel aufgefangen. Dem Einzelnen, der nicht weiß, wie er mit Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Prozent des zuvor erhaltenen Gehalts seine Miete und sein Essen noch bezahlen soll, nachdem es bisher mit 100 Prozent gerade so gereicht hat, bleibt nur, Schulden anzuhäufen, während die sogenannten Soloselbstständigen oder Kleinunternehmer froh über 60 Prozent ­ihrer zu erwartenden Einkünfte wären, da sie tatsächlich überhaupt kein Einkommen mehr haben. Hier zeichnet sich bereits jetzt ab, wie Wut aufeinander unter jenen entsteht, die aus dem Flickwerk der »unbürokratischen« Hilfen, die in jedem Bundesland bislang anders ausfielen, jeweils unterschiedlich hohe beziehungsweise niedrige Summen abbekommen.

Dabei kann Solidarität nur dann als solche gelten, wenn sie bedingungslos ist. Sie unterliegt eben nicht der Gegenleistungslogik einer Geschäftsbeziehung, sondern beinhaltet als einziges Versprechen, dass derjenige, der solidarisch handelt, auch umgekehrt Solidarität erfährt, wenn er selbst der Hilfe bedarf. Daran muss festgehalten halten werden, vor allem jetzt, wo erste Stimmen laut werden, die den Schutz der Wirtschaft vor den Schutz der Gesundheit der Menschen stellen wollen, während andere betonen, dass nicht alle gerettet werden können.