Maggie Nelson schildert in dem Essay "Die Roten Stellen" den Prozess gegen den Mörder ihrer Tante

Goodbye to Jane

Die Rekonstruktion eines Verbrechens und seiner Auswirkungen auf die Biographien der Angehörigen des Opfers: In ihrem großartigen Buch »Die roten Stellen« schreibt Maggie Nelson über den Prozess gegen den Mörder ihrer Tante.

Die 1973 geborene US-amerikanische Autorin Maggie Nelson ist mit dem Wissen aufgewachsen, dass die Schwester ihrer Mutter einem abscheulichem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, das nicht aufgeklärt werden konnte: 1969 war Jane Mixer 23 und studierte Jura an der Universität von Michigan, als sie im März am Schwarzen Brett nach einer Mitfahrgelegenheit in ihre Heimatstadt Muskegon suchte. Am nächsten Tag auf einem Friedhof in der Gegend von Ann Arbor fand man ihre Leiche. Über Jahrzehnte wurde die Tat mit einer brutalen Mordserie in Verbindung gebracht, die als »Michigan Murders« in die Kriminalgeschichte der USA einging und Stoff für zahlreiche Bücher des true crime-Genres bot.

Mit Nelsons Requiem »Jane: A Murder« erschien 2005 ein Buch, das sämtliche Klischees dieses ­Genres unterläuft. Nelson ist Professorin für Literatur und schreibt über Kunst, Feminismus, Queerness und Gewalt. Ihr teils autobiographischer, teils fiktiver und teils auf authentischem Material wie Mixers Tagebucheinträgen basierender Gedichtband ist eine poetische Annäherung an die Persönlichkeit der ihr unbekannten Tante, deren Tod Nelsons Kindheit und Jugend dennoch überschattet hat. Die Collage setzt den semipornographischen Schilderungen des Lebens der Opfer in den Wahre-Verbrechen-Büchern ein vielschichtiges Frauenporträt entgegen; ein surrealistisches Bild von Jane und eine Auseinandersetzung mit herrschenden Ansichten über Frauen in der US-amerikanischen Gesellschaft Ende der sechziger Jahre.

Nelsons zentraler Begriff lautet »Murder Mind« und beschreibt sowohl den inneren Zustand des Mörders während der Tat als auch die Verfassung von Angehö-rigen, Ermittlern und der Autorin selbst in den Momenten der inten-siven Beschäftigung mit dem Verbrechen.

Kurz nachdem Nelson das Buch abgeschlossen hatte, nahm der Fall ihrer erschossenen Tante eine überraschende Wende. 35 Jahre nach dem Mord konnte der Täter zufällig überführt werden, und es zeigte sich, dass die Tat in keiner direkten Verbindung zu den »Michigan Murders« stand. In dem Buch »The Red Parts«, das 2007 in den USA erschienen ist und jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, schildert Nelson die Gerichtsverhandlung gegen den des Mordes an Jane Mixer beschuldigten Gary Leiterman. Eine DNA-Probe, die der 62jährige Krankenpfleger und Familienvater hatte abgeben müssen, weil er mit gefälschten Rezepten für Schmerzmittel aufgeflogen war, hatte einen überraschenden Treffer in der Datenbank ergeben. Die DNA Leitermans stimmte mit damals an der Leiche Mixers gefundenem Material überein.

Im ersten Teil von »Die roten Stellen« beschreibt Nelson, wie sie und ihre Mutter sich gedanklich auf die Teilnahme an dem Prozess vorbereiten. Selbst wenn man einige Gerichtsfilme gesehen und Justizreportagen gelesen hat, stellt man bei der Lektüre fest, dass man eigentlich wenig darüber weiß, welche Belastungen mit einem solchen Prozess für die Angehörigen verbunden sind. Es geht schon los mit der Anreise und der Suche nach einer passablen Übernachtungsmöglichkeit für die Dauer eines sich über Wochen hinziehenden Prozesses und endet nur vorläufig damit, dass die Angehörigen im »Opferraum« sitzen und warten, dass nach Stunden oder Tagen der Beeper vibriert, der die bevorstehende Urteilsverkündung der Geschworenen anzeigt.

Nelson, die zur damaligen Zeit in Connecticut lebt, und ihre in Kalifornien wohnende Mutter haben sich von allen anderen Verpflichtungen freigemacht, um an den Verhandlungen in Ann Arbor teilnehmen zu können, und organisieren eine Wohnung für sich. Der Bundesstaat Michigan hat zwar angeboten, beide im Zimmer eines Motels unterzubringen, aber die Vorstellung, einen Monat lang einen Raum mit ihrer Mutter während eines Mordprozesses zu teilen, erscheint Nelson wie das Szenario für eine makabere Reality-Show.

Den Zumutungen des Prozesses will sie sich stellen wie eine Kriegerin aus der Mythologie. Konzentriert verfolgt sie die düstere Diashow mit den Fotos der Gerichtsmedizin. Die Abfolge der im Prozess gezeigten Bilder vom Leichnam ihrer Tante strukturieren die Kapitel des zweiten Teils des Buches. Über die fast schon meditative Betrachtung der Bilder nähert die Autorin sich den letzten Stunden und Minuten im Leben ihrer Tante, etwas, das sie als eine »Dienst­leistung« beschreibt, eine Art des nachträglichen Beistands für die junge Frau im Angesicht des ­Todes.

Mit großer sprachlicher Klarheit lotet Nelson die dunkelsten Tiefen ihrer vom gewaltsamen Tod der Tante lebenslang belasteten Psyche aus. Sie fragt, wie ihre Mutter die Ermordung der Schwester verwunden und wie sich das Verbrechen auf ihre Erziehung ausgewirkt hat; welche Möglichkeiten haben die Angehörigen eines Mordopfers, ihren Zorn und ihre Trauer zu bewältigen? Der zen­trale Begriff des Textes lautet »Murder Mind« und beschreibt sowohl den inneren Zustand des Mörders während der Tat als auch die Verfassung von Angehörigen, Ermittlern und der Autorin selbst in den Momenten der intensiven Beschäftigung mit dem Verbrechen. Dahinter steht die grauenvolle Erkenntnis, dass der Versuch der Rekonstruktion, des Verstehens und der Bewältigung im übertragenen Sinne in den Kopf des Mörders führt.

In der ansonsten gelungenen deutschen Übertragung von Jan Wilm wird aus dem schwer ins Deutsche zu übersetzenden »Murder Mind« das »Mordgemüt«, worunter man sich den von Gert Fröbe in »Es geschah am hellichten Tag« verkörperten Tätertypus sicherlich besser vorstellen kann als einen mit allen Wassern gewaschenen Intellektuellen wie den von Anthony Hopkins gespielten Psychiater Hannibal Lecter. Vielleicht wäre es angemessener gewesen, den Begriff unübersetzt zu lassen. Welchem Täterprofil der Mörder von Mixer letztlich entspricht, bleibt im Buch so rätselhaft wie die Tat und ihre bizarren Details, etwa die symbolische Bestattung des Leichnams auf einem Grab; die Ermordete war mit einem Regenmantel bedeckt, eine Ausgabe von Josef Hellers Roman »Catch-22« lag neben der Toten. Auch wenn der zuständige Ermittler den Täter als einen »abgehalfterten Weihnachtsmann nach einem Herzinfarkt« beschreibt, von dem wohl keine Gefahr mehr ausgehe, sprechen die in seinem Nachttisch gefundenen Polaroids des nackt und offenkundig betäubt auf dem Ehebett der Leitermans hingestreckten Hausmädchens eine andere Sprache.

Nelsons Buch ist auch eine kluge Reflexion über den Umgang mit dem Tod. Je größer der innere Abstand zur Ermordung der Tante wird, desto mehr Raum nimmt die Auseinandersetzung der Autorin mit dem frühen Tod ihres Vaters ein. Ihr literarisches Werk hat sich thematisch im Lauf der Zeit immer weiter aufgefächert. In dem zum Queer-Klassiker avancierten autobiographischen Essay »The Argonauts« von 2015, der zwei Jahre später auch auf Deutsch erschienen ist, schreibt sie über ihre Ehe mit dem transsexuellen Künstler Harry Dodge und über die Bedeutung von Mutterschaft und Familie in einer Zeit, in der traditionelle Geschlechterrollen an Geltung verlieren. Das 2009 veröffentlichte Buch »Bluets« ist eine Meditation über die Farbe Blau in der Kunst.

Im Vergleich zu Nelsons anderen Texten ist »Die roten Stellen« eher konventionell erzählt. Es erlaubt sich Abschweifungen, verbindet Prosa, Poesie, Biographie und Theorie, vermischt aber weder Fiktion und Realgeschehen, noch wechselt es die Erzählperspektive. Das literarische Vorbild für das Buch, so Nelson, sei ­Peter Handkes Text »Wunschloses Unglück«, den der Autor nach dem Selbstmord seiner Mutter verfasst, um der »stumpfsinnigen Sprachlosigkeit« zu entkommen, die das Unglück in ihm ausgelöst hat. Deutlich erinnert »Die roten Stellen« wegen der radikalen Ehrlichkeit der Introspektion, der genauen Beschreibung von familiären Konstellationen und ihren Auswirkungen auf die eigene, weibliche Entwicklungsgeschiche an die wunderbare autobiographische Prosa von Annie Ernaux. Wie Ernaux geht es Nelson um die Verteidigung der Freiheit gegen die Fesselung an Herkunft und Vergangenheit. Was letztlich bedeutet, die Tote verab­schieden zu müssen.


Maggie Nelson: Die roten Stellen. Aus dem amerikanischen Englisch von Jan Wilm. Hanser, Berlin 2020, 220 Seiten, 23 Euro