Taylor Jenkins Reids Roman »Daisy Jones & The Six«

»Ach du Scheiße, wir sind Rockstars«

Literatur im Stil eines MTV-Interviews: Taylor Jenkins Reids nostalgietrunkenes Popdrama »Daisy Jones & The Six« zeigt, dass auch die Retrokultur originell sein kann. Wenn nur die Protagonistin nicht so berechenbar wäre.

Der in seiner vielstimmigen Erzählform wie eine Musikdokumentation angelegte Roman »Daisy Jones & The Six« von Taylor Jenkins Reid rekonstruiert Aufstieg und Ende einer Band in den siebziger Jahren. Daisy, Frontfrau der Gruppe und Protagonistin des Buchs, wächst als vernachlässigtes Kind eines Künstlerehepaars in Los Angeles auf. Viel zu jung beginnt sie, durch die angesagten Clubs am Sunset Strip zu ziehen. Sie weiß, dass sie singen kann. Besser als alle Rockstars zusammen, mit denen sie anbandelt. Mit kleineren Auftritten, befeuert von Alkohol und Drogen, schafft sie es schnell ins Vorprogramm von The Six, einer von den Brüdern Billy und Graham Dunne gegründeten Jungsband, die Mitte der Sechziger bereits Erfolgsalben veröffentlicht hatte. Ein magischer gemeinsamer Auftritt mit Billy, dem Leadsänger von The Six, ist der Anfang ihrer von künstlerischen Differenzen und sexueller Anziehung geprägten Zusammenarbeit und der Beginn des Bandprojekts Daisy Jones&The Six. Mit den Worten der Protagonisten: »DAISY: Die Menge ist durchgedreht. Die Wände haben ­gewackelt. BILLY: Ich spürte, wie das Mikro vibrierte, weil die so geschrien und mit den Füßen gestampft haben, und ich dachte: Ach du Scheiße, wir sind Rockstars.«

Vor allem zu Beginn des Buchs geht es um die Mechanismen der Musikindustrie. Spätestens bei der Arbeit am ersten großen Album geraten die Gleichheitsideale aus der Anfangszeit der Band in Widerspruch zu dem Starkult, der sich um den Leadsänger Billy entfaltet.

Band und Biographien sind fiktiv, das Popdrama beruht jedoch lose auf Motiven und Ereignissen der Bandgeschichte von Fleetwood Mac. Diese Gruppe wurde im britischen Blues-Boom groß und legte dann 1977 in den USA nach einigen Besetzungswechseln mit »Rumours« das Westcoast-Album schlechthin vor. Fans werden Fleetwood Mac in der von Reed erfundenen Truppe nicht unbedingt wiedererkennen; doch das stört nicht, denn das dunkelleuchtende Popdrama im Stil eines endlosen MTV-Interviews wendet sich gar nicht an Fans und Liebhaber. Man muss nicht mal ein eingefleischter Musikfan sein, um den vor der Kulisse ­Kaliforniens spielenden Rockroman amüsant zu finden.

Vor allem zu Beginn geht es um die Mechanismen der Musikindustrie. Spätestens bei der Arbeit am ersten großen Album geraten die Gleichheitsideale aus der Anfangszeit der Band in Widerspruch zu dem Starkult, der sich um den Leadsänger Billy entfaltet. Um Machtkämpfe, Neid und Liebesbeziehungen innerhalb der Band dreht sich der mittlere Teil. Der stete Rückbezug auf reale Popgeschichte ist ein Kunstgriff, der der Erzählung eine Aura der Authentizität verschafft. Fleetwood Mac eignen sich als Projektionsfläche auch deshalb so gut, weil die Band eine turbulente Geschichte voller eigenwilliger Charaktere hat und als eher mittelbekannte Band unerwartet das bis dahin meistverkaufte Album in der Geschichte der populären Musik vorlegte, dessen eingängige Melodien bis heute im Ohr geblieben sind.

Fleetwood Mac in den Siebzigern (v. l . Lindsey Buckingham, Stevie Nicks, Mick Fleetwood, Christine McVie & John McVie)

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mauritius images / Pictorial Press Ltd / Alamy

Als »Daisy Jones & The Six« 2019 in den USA erschienen, sprang das Buch so fort auf die Bestsellerlisten der New York Times und der Sunday Times. Kaum eine Influencerin ließ es sich nehmen, auf Kanälen wie Youtube darüber zu sprechen. Jugendliche singen die im Anhang des Buchs abgedruckten Songs der Band. Die ins Netz gestellten Schnipsel der angekündigten Amazon-Miniserie sorgten ebenso für Aufregung wie die Nachricht, dass darin Riley Keough die Titelrolle übernehmen wird, die Enkelin von Elvis und Priscilla Presley. In Deutschland erscheint das Buch in diesen Tagen in einer gelungenen Übersetzung von Conny Lösch, die den Redeschwall der Rockstars angenehm flüssig übertragen hat, ohne der Diktion das Kantige, Großmäulige und Überdrehte zu nehmen. Anfangs ist man sich noch unsicher, ob man die sich auf 300 Seiten hinziehenden Interviews wirklich lesen will. Doch die demokratische Form der Banderzählung mit ständigen Perspektivwechseln trägt tatsächlich bis zum Schluss. Trotz aller Retrolastigkeit derzeitiger Popkultur, in die sich das Buch zweifellos einfügt, scheinen durchaus noch Innovationen möglich zu sein.

Das Buchcover prasst mit Retro­ästhetik: Es zeigt ein in psychedelische Farben getauchtes Porträt einer jungen Frau mit wilden Locken, leicht geöffnetem Mund und somnambulen Blick. Über der Brust läuft der Schriftzug »Daisy Jones & The Six« in der rundlich geschwungen Typographie der Siebziger. Ein Poster mit Flower-Power-Appeal und Pornoanklängen. Genau so hätte es millionenfach in Jugendzimmern und WG-Küchen der Siebziger hängen können.

Die Protagonistin entspricht einerseits dem Frauenideal, das in der damaligen Musikindustrie herrschte. Daisy lehnt sich aber zugleich gegen schmierige Manager, Ausbeutung und künstlerische Entmündigung auf und behauptet sich als Sängerin und Songwriterin. Dabei weiß sie Bandmitglied Karen lange Zeit auf ihrer Seite. Karen fällt im Buch die Aufgabe zu, das Nymphenhafte der Hauptfigur durch betont toughes und solidarisches Auftreten zu kompensieren. Bisweilen etwas plakativ, verkörpert sie die kämpferische Frau und Keyboarderin, eben eine, die der popfeministischen Musikerinnenbewegung den Weg ebnen sollte. Aber auch sie sieht blendend aus, ist wie alle anderen jung, energiegeladen und – ganz wichtig – dünn. Was unter anderem an Drogen und schlaflosen Nächten liegt.

Billy, der »charismatische Leadsänger« und begabte Songwriter, hat schon früh seine große Liebe ge­heiratet. Ihre eigenen künstlerischen Ambitionen hat seine Frau Camila aufgegeben, um ganz die liebende Ehefrau an der Seite Billys und die gute Mutter ihrer drei gemeinsamen Töchter zu sein. Nach einem Zusammenbruch in jungen Jahren weiß Billy, dass er in diesem Geschäft nur überleben kann, wenn er fortan die Finger von den Drogen lässt. Und das mit aller Konsequenz. Nicht zuletzt deshalb wird die Arbeit mit der tablettenabhängigen Daisy am ersten gemeinsamen Album zu einer Zerreißprobe. Zudem will Daisy weder die von Billy komponierten Liebeslieder für dessen Gattin Camila zum Besten geben noch akzeptiert sie seinen Führungsanspruch in der Band.

Es knallt, kracht und knistert also. Ironischerweise ist die gebrochene Figur Billys über weite Strecken ungleich interessanter als die Protagonistin selbst. Womit auch schon die größte Schwäche des Buchs benannt ist: Daisy Jones ist im Grunde die langweiligste, weil berechenbarste Figur in der Gruppe. So lustig sich die in Superlativen schwelgenden Aussagen von Bandkollegen, Musikkritikern und Veranstaltern über »die Stilikone der Siebziger« auch lesen – »Sie war einfach cooler als alle anderen um sie herum«, »Du hast gedacht, sie hat Felsbrocken im Rachen, über die der Klang erst mal drüber musste«, »Als sie auftauchte, trug sie ein Männerhemd mit Button-Down-Kragen als Kleid. Das war’s. Ich weiß noch, wie ich dachte: Wo hat sie bloß ihre Hose gelassen?« –, so gleichgültig bleibt einem gerade diese Figur, der jede Entwicklung versagt bleibt. Da lobt man sich den Six-Gitarristen Eddie Loving. Als schlauer Mastermind gestartet, leidet er immer mehr darunter, im Schatten des narzisstischen Sängers zu stehen. Der Bandname mit der genialen Sexassoziation war schließlich seine Idee. Aber nach den Auftritten liegt er regelmäßig alleine im Bett. Eddie wird schnell zum Stänkerer in der Gruppe.

Rockstar-Klischees? Davon wimmelt es nur so in dem Buch. Sie machen einen Gutteil des Lektürespaßes aus. Man sieht einer Handvoll talentierter Teenager in den Hollywood Hills bei ihrer Transformation zu Rockstars zu. Der erste Plattenvertrag, die erste Rolling Stone-Titelgeschichte, die erste Welttournee. Aber der Erfolg kommt und geht, und alle Interviews rekonstruieren die Geschehnisse, die zum plötzlichen Ende der Band auf dem Höhepunkt ihrer Popularität geführt haben. Um dieses kreisen die Erinnerungen mit düsteren Andeutungen und Vorgriffen. Die Legende, die das Buch behauptet, geht so: Daisy & The Six waren die gigantischste Band der siebziger Jahre. Als sie im Juli 1979 in Chicago ihre Auflösung bekanntgaben, bebte die Popwelt und die Sonne verdunkelte sich über den Bergen von Hollywood. Die über einen Zeitraum von acht Jahren geführten Gespräche sollen helfen, das größte Rätsel der Popgeschichte zu lösen. Was geschah mit Daisy Jones & The Six? Ohne zu spoilern, kann man über den Schluss so viel sagen: Wie bei den meisten Rockstarbiographien ist das Ende nicht ganz so aufregend wie der Anfang.

Taylor Jenkins Reid: Daisy Jones & The Six. Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch. Ullstein, Berlin 2020, 368 Seiten, 19,99 Euro