Die Unterwasserwelt von Christian Petzolds »Undine«

Fluch der Romantik

Zum Auftakt seiner filmischen Trilogie über Figuren der deutschen Romantik beschäftigt sich Regisseur Christian Petzold mit dem weiblichen Elementargeist Undine. Seine Wasserfee ist eine studierte Historikerin, die ihr Schicksal selbst bestimmen will.

In Christian Petzolds neuem Film »Undine« findet sich eine der schönsten Liebesszenen des Gegenwartskinos. Es ist mitten in der Nacht. Die von Paula Beer gespielte Undine hat gerade das Manuskript für einen Vortrag über das protzige Berliner Stadtschloss fertiggestellt. Der verliebte Christoph, berührend dargestellt von Franz Rogowski, von dem der Regisseur einmal sagte, er habe die »unglaublich schöne Traurigkeit von Belmondo«, bittet die übernächtigte Frau nun inständig darum, ihm ihre Rede vorzutragen. Gebannt hängt der einfühlsame Traummann an den Lippen seiner Angebeteten, einer brillanten Stadthistorikerin, die sich als Museumsführerin verdingt und sehr viel über die Architektur der auf Sumpfland errichteten Hauptstadt weiß. Zärtlich flüstert Christoph ihr zu, sie sage »so schlaue Sachen auf so schöne Weise«. Von so viel Aufmerksamkeit können die meisten jungen Frauen in einer Partnerschaft wohl nur träumen. Aber bei Undine handelt es sich ja auch in Wahrheit um einen uralten Wassergeist. Und bis Undine den sensiblen Christoph zum ersten Mal in die Arme schließen kann, muss auch sie einiges durchmachen.

Die Tauchgänge in Ritterrüstungen ähnelnden Anzügen, die an Richard Fleischers alte Verfilmung von Jules Vernes »20 000 Meilen unter dem Meer« denken lassen, hat Petzolds herausragender Kameramann Hans Fromm an Originalschauplätzen unter Wasser eingefangen. Lediglich der Monsterfisch ist eine computergenerierte Kreatur.

In seinem neuen, dem magischen Realismus verpflichteten Film interpretiert Petzold den Undine-Mythos, eine mittelalterliche Adaption der Nymphen aus der griechischen Mythologie, auf phantasievolle Weise neu. Laut Egenolf von Staufenbergs Gedicht aus dem 14. Jahrhundert bekamen die armen Wasserfrauen erst dann eine Seele, wenn ein Mann ihnen seine Liebe schwor, und sie mussten ihn umbringen, sobald er ihnen untreu wurde. 1811 griff der der deutsche Romantiker Friedrich de la Motte Fouqué den Mythos in einem Kunstmärchen auf. Seither wurde der Stoff unzählige Male bearbeitet. Ingeborg Bachmann legte 1961 mit ihrer atemberaubenden Kurzgeschichte »Undine geht« eine weibliche Lesart des Stoffes vor und machte aus dem Objekt männlicher Begierden ein selbstbestimmtes Subjekt. Ihre Undine klagt die ihr untreu gewordenen Männer zwar furios an, zieht sich am Ende jedoch lieber ins Wasser zurück und überlässt die Männer ihrem Schicksal.

Als Petzolds Undine von dem kaltschnäuzigen Johannes (Jacob Matschenz) betrogen wird, hat sie gleich mehrere Probleme zu lösen. Um den uralten Fluch abzuwenden, müsste sie den Verräter umbringen, wozu sie allerdings wenig Lust verspürt. So eröffnet sie dem verdutzten Mann mit stahlhartem Blick, dass er nicht einfach so mit ihr Schluss machen könne, weil sie ihn dann wohl oder übel töten müsse. Darauf reagiert der moderne Macker erwartungsgemäß mit völligem Unverständnis.

Was soll Undine tun? Eigentlich möchte sie wie andere Frauen leben und lieben! Musikalisch findet der Zwiespalt Undines seine Entsprechung in einem Soundtrack, der sowohl das melancholische Doppel­violinenkonzert in d-Moll von Johann Sebastian Bach als auch die grelle Discohymne »Stayin’ alive« umfasst. Der Song von den Bee Gees erklingt erstmals in jener Szene, in der der Industrietaucher Christoph seiner neuen Flamme Undine eine Herzdruckmassage zum lebensrettenden Rhythmus des Songs geben muss. Bei einem gemeinsamen Tauchgang wäre Undine beinahe ­ertrunken.

In Petzolds modernem Großstadtmärchen, das in einem gespenstisch menschenleeren Berlin spielt und sich wie sein großartiges Drama »Phönix« (2014) um eine verratene Frau dreht, bekommt Undine zunächst einmal die Chance, die Geister der Vergangenheit abzuschütteln. So verliebt sie sich in einer unvergesslich komischen Szene, in der ein ­unheilvoll zerberstendes Aquarium und ein wunderbar unflätiger Berliner Kellner eine Rolle spielen, unsterblich in den schüchternen Christoph. Nicht nur, dass er ein Mann ist, der Undine um ihrer selbst willen liebt, der Traummann verdient passenderweise auch noch unter Wasser seinen Lebensunterhalt und hat gerade häufig in einem westfälischen Stausee zu tun. Dort zieht auch der imposante, ausnehmend hässliche Riesenwels Gunther seit Urzeiten ­seine Bahnen.
Die Tauchgänge in Ritterrüstungen ähnelnden Anzügen, die an Richard Fleischers alte Verfilmung von Jules Vernes »20 000 Meilen unter dem Meer« denken lassen, hat Petzolds herausragender Kameramann Hans Fromm an Originalschauplätzen unter Wasser eingefangen. Lediglich der Monsterfisch ist eine computergenerierte Kreatur.

Natürlich nimmt Christoph auch seine wasserliebende Undine mit an seinen nassen und gefährlichen ­Arbeitsplatz. Die lautlos-poetischen Unterwasserszenen des Liebespaares in einer blauen Parallelwelt versöhnen den Zuschauer damit, dass die Figur des Christoph zu wenig Entwicklungsspielraum bekommt, wodurch er gelegentlich ein bisschen schräg wirkt.

Privat geht der Industrietaucher Christoph auch schon mal im T-Shirt baden

Bild:
© Schramm Film / Marco Krüger

Eine dauerhafte Liebesbeziehung ist dem neuen deutschen Filmtraumpaar Rogowski und Beer in Petzolds letztem Film »Transit« (2018), der ebenfalls Realitätsebenen auf ungewöhnliche Weise miteinander verschränkte, verwehrt geblieben. Umso mehr fiebert man nun mit den beiden füreinander wie geschaffen wirkenden Figuren mit.

Doch unglücklicherweise holt das im Film allgegenwärtige Wasser die von Paula Beer gespielte Undine wieder ein. Schon in Petzolds eigenwilliger Anna-Seghers-Romanadaption »Transit« musste die von Beer dargestellte Marie den Tod durch Ertrinken sterben, während der von Rogowski gespielte Georg am Ufer auf sie wartete. Ein Aquarium, Wasserhähne, Tränen, Teiche, ein sanierungsbedürftiger Stausee, die Spree und ein Pool kündigen es an: Am Ende muss sich die rothaarige Wassernymphe doch noch ihrem Fluch stellen, um ihren Liebsten zu retten. Aber zumindest entscheidet sie selbst über ihr Leben – und nicht das Schicksal. Am Ende schimmert in Petzolds Interpretation des Mythos ein Hauch von Hans Christian Andersens herzzerreißendem Märchen »Die kleine Meerjungfrau« durch, das auf denselben sagenhaften Stoff zurückgeht.

Ungeniert verknüpft der Regisseur den Undine- Stoff mit der Geschichte der deutschen Hauptstadt, die im Mittelalter auf einem trockengelegten Sumpf errichtet wurde. Ebenso wie die moderne Undine versucht Berlin sich immer wieder radikal von seiner Vergangenheit zu lösen, man denke nur an die nahezu vollständig ausradierte Berliner Mauer und den ruckzuck abgerissenen Palast der Republik, an dessen Stelle demnächst das Humboldt-Forum hinter der originalgetreu nachgebauten Fassade des alten Berliner Stadtschlosses eröffnen wird. Dazu hat die Stadthistorikerin Undine viel Interessantes zu sagen. Der auf filmische Konventionen pfeifende Petzold zeigt ihre faszinierenden Vorträge im Berliner Stadtmuseum, während derer sie durch die gebannt lauschende Touristenmenge zu schwimmen scheint, in voller Länge.

Wird die verdrängte historische Vergangenheit Berlin irgendwann einholen wie der Fluch die kluge Undine? Und welche herrlich ver-rückten Geschichten, welche eigenwilligen Frauenfiguren wird Petzold in seinen nächsten Filmen präsentieren? Das mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichnete Liebesdrama »Undine« soll schließlich nur der Auftakt zu einer von den Elementargeistern der deutschen Romantik inspirierten Trilogie sein. Petzold scheint von seiner Vorliebe für Gespenster einfach nicht lassen zu können.

Undine (D/F 2019). Buch und Regie: ­Christian Petzold, Darsteller: Paula Beer, Franz Rogowski. Filmstart: 2. Juli