Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist weiterhin hoch

»Jagd auf Juden«

In einigen Bereichen ist die Zahl antisemitischer Vorfälle im vergangenen Jahr gesunken, doch eine grundsätzliche Verbesserung der Lage ist nicht in Sicht.

Der Hass auf Jüdinnen und Juden bleibt auf einem hohen Niveau. Wie die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) mitteilte, gab es im vergangenen Jahr allein in Berlin 881 antisemitische Vorfälle. Darunter waren 33 Angriffe, 38 gezielte Sach­beschädigungen und 59 Bedrohungen. Im Vorjahr waren es 1 085 Vorfälle, die Zahl sank also um knapp 19 Prozent. Bundesweit stieg die Zahl antisemitischer Straftaten dagegen an. Die Behörden registrierten 72 antisemitische Gewalttaten im Jahr 2019. Insgesamt ermittelte die Polizei bei Delikten mit antisemitischen Hintergrund 1 019 Tatverdächtige.

Im Bereich Rechtsextremismus stieg die Zahl der von der RIAS registrierten Vorfälle von 251 auf 258. Die Zahl derjenigen, die im Zusammenhang mit konkreten politischen Auseinandersetzungen, beispielsweise Demonstrationen, von antisemitischen Angriffen, Bedrohungen und Beschimpfungen betroffen waren, halbierte sich im vergangenen Jahr. Die Ursache für diese Verringerung sieht RIAS in der Auflösung einer maoistischen Jugendorganisation aus dem Bezirk Neukölln. Auch die Zahl der bekannt gewordenen antisemitisch motivierten gewalttätigen Angriffe in Berlin sank im Vergleich zum Jahr 2018 um gut 28 Prozent, von 46 auf 33. Zugleich stieg aber die Teilmenge dieser Angriffe, die Juden und Menschen, die für Juden gehalten wurden, betraf, von 19 auf 25. Das führt die RIAS darauf zurück, dass sich die Anzahl der Attacken des antiimperialistischen und verschwörungsideologischen Mi­lieus auf politische Gegner verringert hat; diese trafen häufig nichtjüdische israelsolidarische Linke. In fünf von sieben aufgeführten Fallbeispielen, die im Bericht der Informationsstelle veröffentlicht wurden, sprachen die Angreifer arabisch. Obwohl insgesamt ein deutlicher Rückgang der Fallzahlen zu verzeichnen war, sieht RIAS keine »Entspannung mit Blick auf den Antisemitismus in Berlin«. Möglicherweise sei auch die Bereitschaft zur Meldung entsprechender Vorfälle gesunken. Oft hört man von Resignation, wenn man mit Juden spricht, die sich Hoffnungen wegen der Einrichtung von Meldestellen gemacht hatten.

Der regelmäßigen symbolischen Ablehnung des Antisemitismus durch staatliche Institutionen stehen Ereignisse gegenüber, die deutlich machen, wie es um die Akzeptanz eines vielfäl­tigen jüdischen Lebens hierzulande steht. Man denke etwa an den fehlenden Polizeischutz für die Synagoge in Halle am höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur, als ein Rechtsextremer 2019 versuchte, dort ein Massaker zu begehen, und zwei Menschen ermordete. Die Tatsache, dass der Polizeidirektion in Halle nicht bekannt war, wann wichtige jüdische Feiertage anstehen, zeigt das Desinteresse staatlicher Institu­tionen jenseits deutscher Feier- und Gedenktage.

Anfang des Jahres wurde das Kompetenznetzwerk Antisemitismus (Kompas) gegründet, doch das dürfte daran nicht viel ändern. Das Netzwerk besteht aus dem Berliner Anne-Frank-Zentrum, der »Bildungsstätte Anne Frank« in Frankfurt am Main, dem Bundesverband der RIAS, dem »Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment« der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) sowie der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Kiga). Es soll »die Angebote im Bereich der Antisemitismusprävention, der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit, der Beratung sowie der Dokumentation und Analyse antisemitischer Vorfälle« bündeln und weiterentwickeln. Konkret will man durch Bildungsarbeit, Beratung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle dem Antisemitismus entgegengetreten. Ende Juni stellte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin das Projekt vor und präsentierte die neue Web­site des Zusammenschlusses. Der Bund fördert das Netzwerk in den kommenden vier Jahren mit zwei Millionen Euro – angesichts der Tatsache, dass allein im Rahmen des Programms »Demokratie leben« jährlich rund 115 Millionen ausgeschüttet werden, ein überschaubarer Betrag.

In dem gemeinsam vom Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (Apabiz) und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) herausgegebenen Jahresbericht »Berliner Zustände« wird als Schwerpunkt neben dem nazistischen Straßenterror in Neukölln auch der wachsende Antisemitismus genannt. »Ich habe den Eindruck, dass die Jagd auf Jüdinnen und Juden eröffnet ist«, wird der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde, Sigmount A. Königsberg, in dem Ende Juni veröffentlichten Bericht zitiert. Schon vor dem Anschlag in Halle registrierte der Politologe »eine Reihe von Angriffen«. Vor allem die Attacke auf den Rabbiner Yehuda Teichtal bleibt im Gedächtnis. Zwei Männer hatten den Rabbiner der orthodoxen Bewegung Chabad Lubawitsch im Beisein seines Sohnes auf dem Nachhauseweg von einem Gottesdienst auf offener Straße auf Arabisch beschimpft und bespuckt.

Die Berliner RIAS sah bei elf antisemitischen Vorfälle im vergangenen Jahr einen islamistischen Hintergrund. 86 gemeldete Vorfälle ordnet die RIAS dem »antiisraelischen Aktivismus« zu. In der Veröffentlichung »Berliner Zustände« kommt das Thema islamistische Rechte dagegen nicht vor. »Dass es uns für die aktuelle Ausgabe nicht gelungen ist, ein Projekt zu finden, das sich diesem Thema fundiert mit einem eigenen Artikel widmet, bedauern auch wir«, sagte Frank Metzger von der ­Redaktion der »Berliner Zustände« der Jungle World.