Mit popkultureller Symbolik protestiert eine neue Jugendbewegung in Thailand gegen Armee und König

Mit Harry Potter gegen Militär und König

In Thailand protestiert eine neu entstandene Jugendbewegung mit popkulturellen Codes gegen das Militärregime und die Monarchie. Erste gemeinsame Aktionen mit feministischen und LGBT-Gruppen sowie unabhängigen Gewerkschaften finden statt.

Die Studierenden hatten gerade angefangen, als die Pandemie dazwischenkam. Im März hatten sie auf dem Uni-Campus erste Protestaktionen organisiert – dann kam Covid-19 und die Menschen blieben zu Hause. Die Proteste, die sich gegen das Militärregime richten, verlagerten sich ins Netz. Mit der #MilkTeaAlliance nahmen junge Aktivistinnen Bezug auf die Demokratie­bewegungen in Hongkong und Taiwan. Süßer Milchtee wird in allen drei Ländern gerne getrunken und dient nun als panasiatische Kulturreferenz gegen autoritäre Regime. Der Hashtag breitete sich rasend schnell auf Twitter aus. Nun gibt es wieder Proteste auf der Straße, insbesondere zahlreiche Flashmobs. Der Protest beschränkte sich keineswegs auf die Hauptstadt Bangkok, sondern findet im ganzen Land statt. Ein Campus nach dem anderen, auch an den Universitäten in den ländlichen Gebieten, wurde in einen Ort des Widerstands verwandelt.

J. K. Rowlings Bösewicht Voldemort – »der, dessen Name nicht genannt werden darf« – dient den Protestierenden als Chiffre für den verhassten König.

Dann schlossen sich auch die Schülerinnen und Schüler der Sekundärstufe der Bewegung an. Die Schulen in Thailand sind Orte hierarchischer Macht und militärischen Drills. Das Curriculum ist erzkonservativ und ideologisch – die Kinder bekommen »thailändische Werte« eingetrichtert und sollen so zu gehorsamen Untertanen des Königs und des Militärs geformt werden. Oft wird die Schulerziehung als Grund für den angeblich unterwürfigen Charakter der Thais angeführt. Nun sieht man, wie Schülerinnen und Schüler in ihren Uniformen beim vorgeschriebenen Morgenappell zur Nationalhymne den Arm zum revolutionären Dreifingergruß heben. Versuche, repressiv dagegen vorzugehen, führten nur dazu, dass sich noch mehr solidarisierten. Aufnahmen von Schülerinnen und Schülern, die offen und kontrovers mit Lehrern oder dem Bildungs­minister diskutieren, breiten sich im Internet aus.

Die Bewegung verwendet erfolgreich eine Symbolik, die Jugend- mit Pop- und Protestkultur verschmilzt. Der Dreifingergruß – bereits seit Jahren Ausdruck demokratischer Gesinnung – ist aus der Roman- und Filmreihe »Die Tribute von Panem« entlehnt. Die Hymne der Bewegung ist die thailändische Version des »Liedes des Volkes« aus dem Film »Les Misérables«, der auf dem gleichnamigen, auf Deutsch unter dem Titel »Die Elenden« erschienenen Roman von Victor Hugo basiert. In beiden Fällen geht es um die Revolution »des Volks« gegen eine brutale Diktatur der reichen Oberschicht. Motive wie die japanische Comicfigur Hamtaro, ein süßer Goldhamster, der täglich im thailändischen Fernsehen zu sehen ist, oder Harry Potter werden für Protestbotschaften verwendet. ­Joanne K. Rowlings Bösewicht Voldemort – »der, dessen Name nicht genannt werden darf« – fungiert als Chiffre für den verhassten König Maha ­Vajiralongkorn.

Anlass der Proteste ist das repressive, aber auch äußerst plumpe Vorgehen des Militärregimes. Nach den Scheinwahlen im März 2019, mit denen sich die Junta eine demokratische Legitimation verschaffen wollte (Onkel Tu ist jetzt Demokrat - Jungle World 13/2019), ließ sich General Prayut Chan-o-cha zum Ministerpräsidenten wählen. Danach ließ er die Future Forward Party, eine der beiden großen Oppositionsparteien, verbieten, für die über sechs Millionen vor allem junge Menschen gestimmt hatten. Ihre Stimmen wurden damit annulliert.

Dann kam die Coronakrise, in der das Regime dilettantisch vorging. Eine ­Notverordnung, die angeblich wegen Covid-19 verlängert wurde, diente zur Unterdrückung von Regimekritikern. Am 4. Juni entführten Bewaffnete den thailändischen prodemokratischen Satiriker Wanchalearm Satsaksit in seinem Exil in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, er ist seither »verschwunden«. Vier Studenten, die aus diesem Anlass in Bangkok am 9. Juni protestierten, verhaftete die Polizei.

Angeführt von der Student Union of Thailand (SUT) hat die Bewegung drei Forderungen aufgestellt: die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen, eine neue, demokratische Verfassung sowie ein Ende der politischen Verfolgung. Die große Neuerung ist jedoch die offene Kritik an der Monarchie. Am 24. Juni organisierte die SUT eine öffentliche Würdigung der republikanischen Revolution von 1932. Dann, am 10. August, las die Sprecherin der SUT, Panusaya Sithijirawattanakul, die »Deklaration von Thammasat« bei einer großen Kundgebung am Demokratiedenkmal in Bangkok vor. Zehn Forderungen, die auf eine Reform der Monarchie zielen, verlangen unter anderem die Abschaffung des Artikels 112 des Strafgesetzbuchs (Majestätsbeleidigung, strafbar mit bis zu 15 Jahren Haft), die weitgehende Enteignung des Königs (durch die Rücknahme des Crown Property Bureau in die öffentliche Hand), die Nichteinmischung des Königs in die Politik, ein Ende der Glorifizierung des Königshauses in der Schulbildung und eine offizielle Untersuchung der Rolle des Königs bei der Ermordung politischer Gegner.

Dass sich Studierende trauen, in aller Öffentlichkeit solche Forderungen zu stellen, zeigt die Radikalisierung der Bewegung. Die symbolische Wirkung ist ungeheuerlich. Eine studentische Bewegung hatte bereits 1973 eine Demokratisierung Thailands durchgesetzt. Die brutale Unterdrückung der Studierenden drei Jahre später, insbesondere mit dem Massaker an der Thammasat-Universität, hat die Gesellschaft bis heute traumatisiert. Die weit verbreitete antimilitaristische Haltung in Thailand geht nicht zuletzt auf diese Ereignisse zurück.

Die Masse macht’s, auch in der Dämmerung

Bild:
Prachatai

Zum ersten Mal seit langem kommt Kritik an Militär und König nicht von den oppositionellen Rothemden, die dem 2006 von der Armee gestürzten Ministerpräsidenten Thaksin Shinawatra nahestehen, sondern von einer unabhängigen Jugendbewegung. Diese hat das Potential, weit über die Thaksin-Anhänger hinaus Unterstützung zu finden. Ob sie das auch schafft, wird davon abhängen, wie sie die soziale Frage thematisiert. Die Coronamaßnahmen des Regimes haben zu einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise beigetragen. Die Einführung einer 14tägigen Quarantäne für Einreisende hat die Zahl der registrierten Covid-19-Infektionen auf etwa 3 400 und der Todes­fälle auf knapp 60 begrenzt, aber auch die wichtige Tourismusindustrie kol­labieren lassen. Prognosen gehen von der tiefsten Wirtschaftskrise seit der verheerenden Asien-Krise von 1997/98 aus, die Bank of Thailand erwartet, dass die Wirtschaft in diesem Jahr um 8,1 Prozent schrumpft. 70 Prozent der arbeitenden Bevölkerung haben Einkommenseinbußen von circa 50 Prozent erlitten. Die Arbeitslosenquote ist auf fast zehn Prozent gestiegen. Die soziale Sprengkraft dieser Entwicklungen ist enorm.

Für Unmut sorgt zudem das Vorgehen der Justiz beim Verfahren gegen Vorayuth »Boss« Yoovidhya. Dem Milliarden­erben des Konzerns Red Bull (Besitzer der Fußballclubs Red Bull Salzburg und RB Leipzig) wird vorgeworfen, 2012 durch Raserei den Unfalltod eines Polizisten verursacht zu haben. Die Ermittlungen gegen ihn wurden jüngst nach einer Einmischung des Militärs eingestellt; die Affäre ist ein großes Thema in den sozialen Medien. Eine weitere Provokation lieferte ein Regierungsmitglied, das äußerte, die protestierende Jugend kümmere sich um die Politik des Landes, helfe ihren Müttern aber nicht beim Geschirrspülen. Die Protestierenden antworteten prompt auf Demo-Transparenten: »Wenn die Politik in Ordnung wäre, hätte meine Mutter schon längst eine Geschirrspülmaschine.«

Eine Ausweitung der Proteste zeichnet sich bereits ab. Die SUT verfasste zusammen mit unabhängigen Gewerkschaften eine Protestnote. In dieser heißt es unter anderem, dass »Studierende und Arbeiter gemeinsam« staat­liche Hilfe für alle forderten, gerade auch für die vielen informell Beschäftigten, die nicht in Sozialversicherungssysteme eingebunden sind. Der Schulterschluss fand am vorvergangenen Sonntag auf einer großen Kundgebung am Demokratiedenkmal in Bangkok statt, an der sich nach Polizeiangaben 10 000 Menschen beteiligten. Neben Studierenden sprachen auch feministische und LGBT-Gruppen sowie Arbeiter und Arbeiterinnen. Gelingt die Ausweitung der Bewegung, können die Proteste kaum ignoriert werden; die Frage wäre dann, ob sie blutig niedergeschlagen werden oder aber zu einer grundlegenden Veränderung führen.