Ein Gespräch mit der Historikerin Steffi Brüning

»Prostitution wurde als illegitime Arbeit verstanden«

Interview Von Clemens Böckmann

In der DDR galt Prostitution seit 1968 als »asoziales Verhalten«. Sexuell freizügig zu leben und dafür bezahlt zu werden, war nicht vorgesehen.

Steffi Brüning studierte Politikwissenschaften und Geschichte in Greifswald und Rostock. Von 2012 bis 2014 war sie in der Dokumentations- und Gedenkstätte der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in Rostock tätig. Sie arbeitet als Studienleiterin für Demokratiebildung im Regionalzentrum für demokratische Kultur Landkreis und Hansestadt Rostock der Evangelischen Akademie der Nordkirche. Ihre Promotion wurde kürzlich unter dem Titel »Prostitution in der DDR. Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig, 1968–1989« im Bebra-Verlag veröffentlicht. Für das Buch hatte sie mit Zeitzeuginnen gesprochen.

 

Viele der Frauen, die Sie für Ihre Studie über weibliche, heterosexuelle Prostitution in der DDR befragt haben, sprechen in Bezug auf ihre frühere Tätigkeit von »Geschenkesex«. Was ist damit gemeint und kann in diesem Zusammenhang von Sexarbeit gesprochen werden?

Frauen haben gegenüber staatlichen Akteuren teilweise den Begriff »Geschenkesex« benutzt. Diese Wortwahl schützte mitunter vor dem Verdacht der Prostitution. Zugleich habe ich aber beobachtet, dass Frauen sich in der DDR nicht immer als Prostituierte gesehen haben, auch wenn der Begriff für eine Analyse zutrifft. Die SED definierte Prostitution als westliches, kapitalistisches Phänomen, das immer mit Zwang, Zuhälterei und Ausbeutung verknüpft war. Führende Politiker der Bundesrepublik und andere wurden beschuldigt, Frauen auf diese Art zu unterdrücken. Damit wollte die SED die Bundesrepublik abwerten und sich selbst als den besseren Staat inszenieren. Viele Menschen in der DDR übernahmen dieses Verständnis von Prostitution, zum Teil auch Prostituierte. Für sie passte der Begriff damit nicht mehr, weil Zwang und Zuhälterei in ­ihrer Lebenswirklichkeit nicht vorkamen. Sexarbeit ist ein Begriff, der Prostitution als Arbeit definiert, die mit einem positiven und selbstbewussten Selbstverständnis ausgeübt wird. Für Prostituierte in der DDR ist dieser Begriff aber aus meiner Sicht für eine historische Analyse nicht sinnvoll.

Am 1. Juli 1968 trat das Strafgesetzbuch (StGB) der DDR in Kraft, das das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 ersetzte. Ab diesem Zeitpunkt galt Prostitution gemäß Paragraph 249 StGB (»Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten«) als »asoziales Verhalten«. Was bedeutete das für die Frauen?

Für Prostituierte bedeutete das, dass sie stets Gefahr liefen, als Straftäterinnen wahrgenommen zu werden. In ihrer Tätigkeit erfuhren sie keinen rechtlichen Schutz. Wenn Kunden oder andere zum Beispiel gewalttätig wurden oder nicht zahlen wollten, hatten Frauen keine Unterstützung. In der Praxis wurden Menschen meist dann als »Asoziale« verurteilt, wenn sie keine normgerechte Erwerbsarbeit hatten. Prostituierte haben deswegen oft da­rauf geachtet, dass sie eine geregelte Arbeit nachweisen konnten. Zu besonderen Anlässen, beispielsweise den X. Weltfestspielen in Berlin 1973, wollten staatliche Akteurinnen und Akteure Prostituierte aus der Öffentlichkeit entfernen, um ein sauberes Bild der DDR zu zeigen. Deswegen kam es zu systematischen Eilverfahren und anschließenden Freiheitsstrafen. Auch hier stand aber das Fehlen einer geregelten Arbeit im Vordergrund und die SED sowie die ausführenden Akteurinnen und Akteure schafften es nicht, allumfassend zu sanktionieren.

In Ihrer Arbeit schreiben Sie, es sei den staatlichen Akteurinnen und Akteuren weniger um die Reglementierung weiblicher Sexualität als um die gesamtgesellschaftliche Normierung durch Arbeit gegangen. Die Frauen wurden als »HwG-Personen«, als Personen mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern, klassifiziert und dem Verdacht ausgesetzt, für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verantwortlich zu sein. Wurden damit ältere Zuschreibungen aufgenommen?

In Bezug auf Paragraph 249 StGB ging es der SED insbesondere um arbeitspolitische Ziele. Menschen in der DDR sollten normgerecht arbeiten. Prostitution, Glücksspiel und Bettelei wurden als illegitime Arbeit verstanden. Wer sich so den Lebensunterhalt verdiente und keiner regulären Arbeit nachging, galt als »asozial«. Das Konstrukt »Asozialität« war nicht neu: Im Nationalsozialismus hatte es zur Verfolgung und Ermordung von Menschen gedient, die auf verschiedene Art von der Norm abwichen. Die SED übernahm diesen Begriff und verknüpfte ihn eng mit dem Fehlen einer legitimen Form von Arbeit, ohne die Kontinuität zum Nationalsozialismus zu thematisieren, obwohl diese nicht zu leugnen war.

»Sexuell freizügig zu leben und das auch noch mit Bezahlung zu verknüpfen, war in der DDR nicht vorgesehen.«

Auf anderen Ebenen, zum Beispiel was den Umgang mit sexuell übertragbaren Krankheiten angeht, spielten ­unter anderem sexualpolitische Motive eine Rolle. Frauen wurden enge Normen gesetzt, aus denen sie nicht ausbrechen sollten. Sexuelle Freizügigkeit, der Kontakt zu verschiedenen Männern, die nicht aus der DDR kamen, sich selbstbestimmt Freiheiten zu nehmen – all das verstieß gegen konservative Moralvorstellungen. Traditionen folgend, die bereits im 19. Jahrhundert erkennbar wurden, gab man Frauen zudem die Schuld an der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. In der Praxis gelang es den staatlichen Institutionen aber im Verlauf der Zeit immer weniger, diesen Anspruch zu verwirklichen. Das lag an strukturellen Problemen, wie zum Beispiel Personalmangel im medizinischen Bereich, aber auch an den Frauen, die Kontrollen und Sank­tionen umgingen.

Im Gegensatz zur BRD wird die DDR oft als fortschrittlich im Hinblick auf die Gleichstellung von Frauen dargestellt. Eine hohe Scheidungsrate, die Unterstützung Alleinerziehender und die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft 1972 werden als Beispiele dafür genannt. Mit welchen Vorstellungen von Moral, Familie und Sexualität sahen sich die Frauen konfrontiert, über die Sie in Ihrer Studie schreiben?

Die SED rühmte sich damit, mit der Einführung des Sozialismus gleichsam automatisch Geschlechtergerechtigkeit hergestellt zu haben. Der Umgang mit Prostituierten zeigt, dass das nicht ­gelang. Sexuell freizügig zu leben und das auch noch mit Bezahlung zu verknüpfen, war in der DDR nicht vorgesehen. Hinzu kamen bei Prostituierten, die mit nichtweißen Männern Kontakt hatten, auch rassistische Anfeindungen. Monogame heterosexuelle Beziehungen, die in Ehe und Familie mit Kindern mündeten, waren in der DDR das Ideal, bis 1989.

Versuchten oppositionelle Gruppen in der DDR, auf die nicht selten prekäre Situation der Frauen aufmerksam zu machen? Welche Möglichkeiten der Selbstorganisation gab es?

Ich habe bislang keine Hinweise darauf finden können, dass oppositionelle Gruppen sich mit Prostituierten beschäftigt, solidarisiert oder auseinandergesetzt hätten. Die Frauen selbst haben sich vernetzt, um organisiert sexueller Arbeit trotz des Verbots nachgehen zu können. Prostituierte haben sich zum Beispiel gegenseitig Kunden vermittelt, sind zusammen in Bars gegangen, haben sich Zimmer zur Verfügung gestellt und so weiter. Eine politische Selbstorganisation konnte ich bislang aber nicht nachweisen. Vereinzelt scheint es aus der westdeutschen Hurenbewegung Versuche gegeben zu haben, Kontakte aufzubauen. Dieses Thema ist für mich aber voller offener Fragen.

Manche der Frauen haben mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet. Sie waren sowohl Täterinnen als auch Verfolgte. Dieser Komplex wird jedoch kaum thematisiert, auch von feministischer Seite.

Mein Eindruck ist, dass die fraglichen Frauen sich mitunter bewusst für diese Unsichtbarkeit entschieden haben, auch um sich zu schützen. Bei meinen Interviewpartnerinnen zum Beispiel habe ich eine große Scheu bemerkt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Alle haben zum ersten Mal mit mir als fremder Person über ihre Biographie gesprochen. Dabei spielten vor allem zwei große Hürden eine Rolle. Prostituierte haben eine illegalisierte Arbeit ausgeübt, die noch immer stigmatisiert wird, und zusätzlich häufig mit der Staats­sicherheit zusammengearbeitet. Das sind zwei Reizthemen, die oft emotionalisiert werden und bei denen es schnell um Schuld, Verantwortung und Täterinnenschaft geht. Eine Einteilung in gut oder böse, die im Kontext der Bewertung der DDR in den vergangenen Jahrzehnten mitunter vorkam, ist bei Prostituierten eben nicht möglich. Mittlerweile sehe ich aber Ansätze, das differenzierter anzugehen. Das hängt vielleicht auch mit einer neuen Generation zusammen, die die DDR nicht selbst erlebt hat.