Wie die Pandemie den Alltag von Shoah-Überlebenden in einer israelischen Seniorenresidenz verändert

Allein im Heim

Reportage Von Oliver Vrankovic

Im Elternheim Pinchas Rosen in Ramat Gan leben Shoah-Überlebende, die maßgeblich am Aufbau des israelischen Staats beteiligt waren. Seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie fürchten viele um ihr Leben und haben kaum Kontakt zu ihren Angehörigen.

»Vielleicht hat der liebe Gott, der uns geschaffen hat, die Nase voll von uns«, sagt Gertrud Klimowski. Sie wurde 1923 geboren und wuchs in Nürnberg in einem großen Haus unweit des Tiergartens auf. Der Kaufhausmagnat, Verleger und Mäzen Salman Schocken war ihr Onkel. Ihr Vater war Geschäftsführer der vom Architekten Erich Mendelsohn entworfenen 13. Filiale von Schockens Einzelhandelskonzern mit Zentrale in Zwickau; die Niederlassung in Nürnberg öffnete 1926. Als ab dem 1. April 1933 im gesamten Deutschen Reich jüdische Geschäfte, Rechtsanwaltskanzleien und Arztpraxen boykottiert wurden, galt ein Angriff auch dem Nürnberg Warenhaus. Es wurde die Verleumdung verbreitet, das Kaufhaus verkaufe vergiftete Wurst. Klimowskis Vater sah sich genötigt, mit seiner Familie nach Hamburg zu fliehen. Dort lebte eine Tante Klimowskis in einer Villa. In Hamburg bekamen Gertrud und ihre Cousine Scharlach. Da die Familie die Mädchen nicht ins Krankenhaus schicken wollte, machte sie aus dem dritten Stock des Hauses ein Quarantänelager. Nachdem Klimowski und ihre Cousine gesund geworden waren, wurden alle ihre Spielsachen verbrannt und das ganze Haus neu tapeziert.

Ron, ein 100jähriger Bewohner der Pflegestation des Heims, äußert die Befürchtung, nie wieder die Nähe seiner Kinder und Enkel zu spüren.

Klimowski sollte noch viel durchmachen in ihrem langen Leben. 1937 floh ihre Familie nach Palästina und ließ alles zurück. Statt von einem Kindermädchen umsorgt zu werden, lernte Gertrud in ihrer neuen Heimat nähen, um ihre Eltern zu unterstützen. Während des Zweiten Weltkriegs ließ sie sich von der britischen Armee rekrutieren. Heute schüttelt sie den Kopf und meint, so etwas Verrücktes wie die Covid-19-Pandemie hätte sie sich trotz allem, was sie erlebt habe, nie ausdenken können. Weil die Krankheit auf der ganzen Welt wütet, fragt sie sich, ob sie das Ende der Zeit bedeute. Wie die Pandemie das Leben auf den Straßen Israels verändert hat, kann sie nicht aus unmittelbarer Erfahrung sagen. Seit Anfang März ist sie abgeschnitten von der Außenwelt in dem Elternheim, in dem sie ihren Lebensabend verbringt.

Der Zumbakurs fällt aus
Das Elternheim Pinchas Rosen in Ramat Gan bei Tel Aviv, in dem der Autor dieses Textes arbeitet, ist eine Seniorenresidenz, der eine Abteilung für betreutes Wohnen und eine Pflegestation angeschlossen sind. Die Bewohner und Bewohnerinnen des Heims sind Mitgründer und Mitgründerinnen Israels und haben maßgeblich daran mitgewirkt, den Staat aufzubauen. Die Vorkehrungen zur Eindämmung der Pandemie halten die Bewohner im Heim fest und isolieren sie von ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln. Seit Mitte März sind Besuche im Pinchas Rosen untersagt. Während der ersten Infektionswelle wurden neben den sonst täglich stattfindenden Vorträgen und Konzerten auch Tier- und Bewegungstherapie, Zumba, Feldenkrais-Übungen, Kunsthandwerkkurse und Bibelstunden gestrichen. Der Friseurin sowie den Maniküristinnen und Maniküristen wurde der Zutritt verboten. Stattdessen beschäftigte man sich mit Mandalas, Sudoku und Origami.

Das Virus vom Heim fernzuhalten und zu verhindern, dass es sich in der Einrichtung verbreitet, wurde zur ­Herausforderung für Heimleitung, Angestellte sowie Bewohner und Bewohnerinnen. Alle Menschen im Heim wurden verpflichtet, sich so zu verhalten, als seien sie ansteckend. Es gilt uneingeschränkte Maskenpflicht, alle mussten, wenn möglich, zwei Meter Abstand voneinander halten. Das Pflegepersonal wurde in Gruppen aufgeteilt, die in abgegrenzten Bereichen arbeiteten und sich gegenseitig nicht begegnen durften. Der große Speisesaal wurde geschlossen, im kleinen Speisesaal in der Pflegestation wurden die Tische aus­einandergeschoben.

Mitte März herrschte in Israel die Angst vor Zuständen wie in Norditalien. Geschäfte, die nicht der Grund­versorgung dienten, wurden geschlossen, der öffentliche Dienst wurde ­eingeschränkt und in der Privatwirtschaft durfte nur noch ein Bruchteil der Angestellten am Arbeitsplatz erscheinen. Die Grenzen wurden geschlossen und die Bewegungsfreiheit der Israelis eingeschränkt. Die An­gestellten des Heims erhielten Dokumente, die ihre Tätigkeit als systemrelevant ausweisen.

Der erste Covid-19-Tote in Israel war ein Auschwitz-Überlebender, der in ­einer Pflegeeinrichtung in Jerusalem lebte. Er starb am 20. März. Nachdem bis Mitte April in einem Altenheim in Be’er Sheva mehr als ein Dutzend Bewohner und Bewohnerinnen gestorben waren, konnte man in jeder Nachrichtensendung die Gesichter der trauernden und wütenden Angehörigen sehen. Ende März verschärfte die Regierung die Pandemiemaßnahmen. Mit dem Verbot, sich mehr als 100 Meter von der eigenen Wohnung zu entfernen, verfolgte Israel ein sehr strenge Strategie. Ausgenommen waren unter anderem Arztbesuche, Einkäufe und die Bewegungen von Angehörigen als systemrelevant eingestufter Berufsgruppen. Anfang Mai hob die Regierung das Verbot wieder auf.

Anfang April fehlten am Sederabend, mit dem Pessach beginnt, im Heim der Rabbiner, der an diesem Abend sonst immer aus der Haggada liest, der Musiker, der das Fest gewöhnlich untermalt, und natürlich die vielen Angehörigen, die sonst vorbeischauen oder an den festlich gedeckten Tischen Platz nehmen. Bewohner und Bewohnerinnen, die auch nur die entferntesten Anzeichen von Covid-19-Symptomen zeigten, wurden in ihren Wohneinheiten isoliert. Die Angestellten wurden ermahnt, sich über die geltenden Restriktionen hinaus einzuschränken. Sie sollten sich in ihrer Freizeit mit niemandem treffen, nicht in Supermärkten einkaufen und nur dringend notwendige Termine wahrnehmen. Den Angestellten war jahrelang eingebläut worden, Kopfschmerzen und Fieber seien kein Grund, nicht zur Arbeit zu kommen, da es gegen beides Tabletten gibt. Nun waren sie plötzlich angehalten, beim kleinsten Anzeichen von Unwohlsein zu Hause zu bleiben. Sie müssen auch in der Pandemie, also in einer Situation, die für viele außergewöhnlich belastend ist, in Vollzeit arbeiten. Viele sind kaum noch in der Lage, die Betreuung ihrer Kinder zu organisieren. Zudem mangelt es vielen wegen schlechter Bezahlung und des Verbots, eine Nebentätigkeit auszuüben, an Geld. Trotz der Anspannung versuchen sie, nicht nur mit den Bewohnern und Bewohnerinnen, sondern auch miteinander fürsorglich umzugehen.

Mitte April begann das Heimatfrontkommando der israelischen Armee, den Eingang zum Heim zu kontrollieren. Die Turnstunde im großen Sommergarten entwickelte sich zum Mittelpunkt des sozialen Lebens im Heim. Weil es dort möglich ist, Abstand zu halten, war sie die einzige Gruppenaktivität. Beim Turnen komme man wenigstens auf andere Gedanken, meint Ze’ev. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er einer der Leiter der organisierten Flucht von Juden und Jüdinnen in das britische Mandatsgebiet Palästina. Er sitzt mit seiner Frau Miriam im Heim fest. Ein Teil der Lobby des Heims, die zum Vorhof hin verglast ist, wurde für das Ehepaar und die anderen Bewohner zum einzigen Fenster zur Außenwelt. Angehörige konnten sich vor der Glasfront einfinden, um ihre Liebsten durch die Scheibe zu sehen. Ron, ein 100jähriger Bewohner der Pflegestation des Heims, der wahrnimmt, wie sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, äußerte die Befürchtung, nie wieder die Nähe seiner Kinder und Enkel zu spüren.

Am Holocaust-Gedenktag Yom HaShoah, der dieses Jahr am 21. April stattfand, konnten Polizisten und Sol­daten, die vor dem Heim salutierten, den Schmerz der Bewohner und Be­woh­nerinnen über die Einsamkeit höchstens etwas lindern. Yehuda Maimon war im bewaffneten jüdischen Widerstand, überlebte Auschwitz und entkam auf einem Todesmarsch. Vergangenes Jahr entzündete er an Yom HaShoah eine Fackel in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Dieses Jahr musste er den Tag getrennt von seiner Familie verbringen, deren Gründung und Wohlergehen für ihn mit dem Sieg über die Nazis verknüpft bleibt. Zu resignieren kommt für ihn nicht in Frage. Wie die anderen Bewohner und Bewohnerinnen machte er sich mit dem Videochatdienst Zoom vertraut. Eine Woche später, an Yom HaZikaron, dem Gedenktag für die gefallenen israelischen Soldaten und Soldatinnen sowie Terroropfer, lastete der lockdown schwer auf den Bewohnern und Bewohnerinnen, die ihre Partner, Geschwister oder Kinder in den Kriegen oder bei Terrorattacken verloren hatten und an diesem Tag nicht auf die Friedhöfe gehen konnten.

Bewohner und Bewohnerinnen des Heims kommen an der frischen Luft zusammen

Bild:
Oliver Vrankovic

Die Musiker kehren zurück ins Heim
Anfang Mai zeigte Israels strenger Kurs bei der Pandemiebekämpfung Wirkung. Die Zahl der Neuinfektionen war stark zurückgegangen. Das deutete auf ein Ende der Krise hin. Zugleich lag die Arbeitslosenquote bei 25 Prozent, es erschien nahezu unmöglich, die strengen Coronaregeln weiter beizubehalten. Im Heim wurde vorsichtig auf eine Normalisierung hingewirkt. Die Heimleitung begann, Musiker in den großen Sommergarten einzuladen, um die Bewohner und Bewohnerinnen mit klassischer, volkstümlicher sraelischer und auch jiddischer Musik zu zerstreuen. Private Betreuerinnen, Therapeuten und die Friseurin durften wieder ins Heim. Das Kulturprogramm wurde un­ter Einhaltung von Abstandsgebot und Maskenpflicht hochgefahren. Die Bewohner und Bewohnerinnen durften nun mit ihren Angehörigen auf den Bänken im Vorhof des Heims sitzen – in gebührendem Abstand voneinander und unter der Auflage, eine Mund-Nasen-Maske zu tragen. Damals warteten alle darauf, dass Umarmungen wieder erlaubt werden. Doch Ende Juni stieg die Zahl der Neuinfektionen pro Tag wieder auf das Niveau, das sie auf dem Höhepunkt der ersten Welle hatte.

Im großen Speisesaal, der im Mai wieder geöffnet wurde, müssen die Bewohner und Bewohnerinnen in Schichten zu Mittag essen. Wie unheimlich es im Heim nun werden kann, wird augenscheinlich, wenn bei jedem Fall von hohem Fieber die wie Marsmenschen aussehenden Sanitäter anrücken, um den Erkrankten oder die Erkrankte mitzunehmen, und alle gespannt warten, wie der Coronatest ausfällt. In einem an die Angestellten gerichteten Schreiben hieß es, die Bewohner und ihre Familien vertrauten darauf, dass die Mitarbeiter alles tun, um sie vor Infektionen zu schützen. Uzi leidet an ­einer Atemwegserkrankung. Er sagt, er fühle sich im Heim noch am sichersten. Für eine Untersuchung ins Krankenhaus zu gehen, schließt er für sich kategorisch aus.

Nachdem eine Heimmitarbeiterin positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden war, wurde ein Teil der Pflegekräfte vorsorglich isoliert, die übrigen Mitarbeiter mussten Doppelschichten leisten.

Ende Juli wurden mehr als 2 000 Menschen pro Tag positiv getestet, Ende September waren es erstmals mehr als 9 000 Menschen an einem Tag. Die Quote der positiven Resultate lag mit zuletzt bis zu 15 Prozent der durchgeführten Tests um einiges höher als während der ersten Infektionswelle. Auch die Sterberate ist um ein Vielfaches höher als im Frühjahr. Im September sind mehr als 500 Menschen in Israel an oder mit Covid-19 gestorben. Ein Drittel der Covid-19-Toten waren Bewohner und Bewohnerinnen von Einrichtungen der Altenhilfe. Nach Angaben des israelischen Gesundheitsministeriums überschritt die Zahl der schwer verlaufenden Covid-19-Infektionen vergangene Woche die von Experten als kritisch für das Gesundheitssystem ausgegebene Marke von 800 solcher Fälle. Diese Zahl dürfte sich nach Einschätzung von Experten in Kürze verdoppeln. Die israelische Regierung kann die Ausbreitung des Virus nicht mehr begrenzen. Sie versucht, die Kontrolle mit einem zweiten lockdown zurückzugewinnen. Dieser trat am jüdischen Neujahrstag am 18. September in Kraft.

Aus Sorge wird Angst
Für die Israelis ist es nicht einfach zu wissen, was verboten und was erlaubt ist, so oft wie die Regelungen geändert werden. Kleinkriege zwischen dem Coronakabinett der Regierung und dem Coronaausschuss des Parlaments, zwischen dem Likud und dem Bündnis Blau-Weiß sowie zwischen Ministerien machen die Wege der Entscheidungsfindung sehr verworren.

Der Kontrollverlust ist vor allem den politisch Verantwortlichen anzulasten. Nach der ersten Infektionswelle gab Ministerpräsident Benjamin Netanyahu verfrüht Entwarnung. Sorglos erlaubte die Regierung die Öffnung von Festsälen für große Familienfeiern und ließ die Schulen wieder zum Regelbetrieb zurückkehren. Netanyahu ­verhinderte zudem die Verabschiedung eines Zweijahreshaushalts – der der in Not befindlichen Wirtschaft etwas Planungssicherheit gewähren sollte –, um Neuwahlen zu provozieren. Die Kontaktnachverfolgung von Infizierten funktioniert nicht, weil es an geschultem Personal mangelt. Obwohl Experten bereits während der ersten Infek­tionswelle auf diesen Mangel hingewiesen hatten, wurde er noch immer nicht behoben.

Zu den Hauptgründen für die ausufernden Infektionszahlen gehört die Nachgiebigkeit Netanyahus gegenüber den Ultraorthodoxen, von denen viele die Vorgaben zur Eindämmung der Pandemie ignorieren. In ultraorthodoxen Städten und Stadtteilen liegt die Quote der positiven Covid-19-Tests bei über 25 Prozent. In den Städten mit den meisten Infizierten pro Kopf haben ultraorthodoxe Parteien bei der Parlamentswahl am 2. März fast alle Stimmen geholt. Mehr als ein Drittel der Neuinfizierten sind Ultraorthodoxe; deren Anteil an der Bevölkerung beträgt zwölf Prozent. Zur Eindämmung der Pandemie hat die Regierung Ende August ein von Ronni Gamzu, dem israelischen Coronabeauftragten, entworfenes Ampelsystem zur Steuerung von Einschränkungen eingeführt. Doch auf Druck von Ultraorthodoxen, die keinen strikten lockdown für als »rot« eingestufte Städte und Stadtteile akzeptieren wollten, hat Netanyahu das Ampelsystem wieder zurückgezogen. Er braucht die ultraorthodoxen Parteien für eine Koalition nach möglichen Neuwahlen.

Netanyahu und seine Vertrauten geben auch in Sachen social distancing, Masken- und Quarantänepflicht kein gutes Beispiel ab. Entsprechend nehmen weite Teile der Bevölkerung die Vorschriften nicht ernst. Die Gefahr, sich anzustecken, wächst. Im Heim wird es immer wichtiger, Abstand zu halten, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen und sich an Hygienevorschriften zu halten.

Kürzlich wurde eine Heimmitarbeiterin positiv getestet. Da die Sterblichkeit bei Covid-19 im höheren Alter rapide steigt, griff Angst um sich. Für den Tag nach diesem positiven Test, wurde für alle Bewohner, Mitarbeiter, privaten Betreuer und zuletzt die im Heim Beschäftigten ein Test angeordnet. Die Bewohner und Bewohnerinnen wurden in ihren Wohneinheiten isoliert, ähnlich wie während der ersten Infektionswelle im Frühjahr. Sämtliche Tests fielen negativ aus, aber wenige Wochen später wurde eine Kollegin aus der Pflege positiv getestet. Es folgten Tage ­extremer Anspannung. Die Beschäftigen sorgten sich um sich selbst, noch mehr aber um die Bewohner und Bewohnerinnen der Pflegestation und des betreuten Wohnens, denen die Furcht ins Gesicht geschrieben stand. Ein Teil der Pflegekräfte wurde vorsorglich isoliert, die übrigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mussten Doppelschichten leisten und vier Tage im Krisenmodus arbeiten, mit ständiger Desinfek­tion und Overalls, die ein Dutzend Mal pro Schicht gewechselt werden mussten. Als erneut sämtliche Tests negativ ausfielen, war die Erleichterung groß. Ein Augenblick des Glücks in der Coronakrise, in der kein baldiges Ende in Sicht ist.