Todesstrafe in Tunesien

Robocop und die Guillotine

Der tunesische Staatspräsident Kaïs Saïed hat eine heftige Debatte über die Todesstrafe ausgelöst.

Robocops Stunde hatte geschlagen: Dem tunesischen Staatspräsidenten Kaïs Saïed, der diesen Spitznamen trägt, ist es gelungen, mit einer öffentlichen Bemerkung viel Aufmerksamkeit zu erregen und zu polarisieren. Ende September sagte er unter Gebrauch der doppelten Negation, werde der Mörder von Rahma Lahmar nach einem rechtsstaatlichen Prozess verurteilt, »dann denke ich nicht, dass es die Lösung ist, die Todesstrafe nicht zu verhängen, wie einige meinen«.

Das löste eine heftige öffentliche Debatte in Tunesien aus. Ein Teil der Öffentlichkeit setzt sich seither vehement für die Todesstrafe ein. Für diese demonstrierten am Samstag einige Dutzend Menschen in der Innenstadt von Tunis in unmittelbarer Nähe der Kasbah, des Regierungssitzes; sie erhielten überproportional viel Aufmerksamkeit. Unter den Demonstrierenden befanden sich die Angehörigen Lahmars und anderer Mordopfer.

Seit 1991 wird die Todesstrafe in Tunesien nicht mehr vollstreckt.

Lahmars Familie setzt sich seit einigen Tagen besonders aktiv für die Todesstrafe ein. Der Leichnam der 29jährigen wurde am 25. September in der Nähe einer Baustelle in einem Graben gefunden. Ihr mutmaßlicher Mörder konnte relativ schnell identifiziert werden, er trug das Handy des Opfers bei sich. Es stellte sich heraus, dass er bereits zwei mal inhaftiert gewesen war, das erste Mal wegen Raubs, das zweite Mal im Zusammenhang mit einem ­anderen Mord; im zweiten Fall wurde er 2014 mangels Beweisen freigesprochen. Er ermordete Lahmar ­allem Anschein nach aus Habgier. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dass Frauenverachtung zusätzlich zur Tat motivierte.

Als das Verbrechen bekannt wurde, hielten bereits mehrere Veröffentlichungen über mehr oder weniger spektakuläre Kriminalfälle die Bevölkerung in Atem. Am 31. August wurde bekannt, dass in der Nacht auf den 30. August in der osttunesischen Stadt Kairouan eine 98jährige in ihrer Wohnung überfallen und vergewaltigt worden war. Zuletzt wurde Anfang dieses Monats bekannt, dass ein Mann, ebenfalls in Kairouan, mehrfach versucht hatte, einen achtjährigen Jungen zu vergewaltigen.

Auch Leitartikler und Abgeordnete aus den Parteien, die als »demokratisches Lager« bezeichnet werden, setzten sich in den vergangenen Wochen für die Todesstrafe ein. Dem »demokratischen Lager« werden die aufgesplitterten politischen Kräfte zugerechnet, die weder dem alten Regime aus den Jahren von vor 2011 anhängen noch den Islamismus propagieren. Die Todesstrafe wurde in Tunesien nie abgeschafft. Seit 1991 wird sie jedoch nicht mehr vollstreckt. Damals verhängte der seinerzeitige Staatspräsident Zine el-Abidine Ben Ali, der in den ersten Jahren seiner Amtszeit (1987–2011) als Modernisierer aufzutreten versuchte, ein Moratorium, setzte also ihre Vollstreckung aus.

Seither wurden jedoch gegen rund 130 Personen gerichtlich die Todesstrafe verhängt. 2019 wurden 39 Jihadisten zum Tode verurteilt. Sie hatten sich 2014 an einem Anschlag an der tunesisch-algerischen Grenze beteiligt, bei dem 15 Soldaten getötet wurden. Polizeigewerkschaften fordern, dass insbesondere Personen, die Polizisten oder Soldaten töteten, hingerichtet werden.

Eine 2012 unter dem Titel »Das Siliana-Syndrom« veröffentlichte Studie gab Auskunft über das soziale Profil der Insassen der Todestrakte; Siliana ist eine im Landesinneren gelegene, relativ abgeschnittene Stadt im Norden Tunesiens. Die Autoren hatten mit 32 der damals 134 zum Tode Verurteilten gesprochen. In der Studie heben sie hervor, dass die Mehrheit der Verurteilten aus armen, küstenfernen und benachteiligten Regionen stammt. Zum Teil bestritten die Verurteilten die ihnen vorgeworfenen Taten, nicht immer wurde ihr Recht auf einen fairen, rechtsstaat­lichen Grundsätzen genügenden Prozess gewahrt.

Staatspräsident Saïed hat zwar keinen direkten Einfluss auf die Gerichte. Sollte die Regierung die Wiederaufnahme von Exekutionen beschließen, käme ihm jedoch insofern eine Schlüsselrolle zu, als er zum Tode Verurteilte begnadigen oder dies verweigern kann. Amnesty International appellierte an Saïed, von seiner jüngsten Äußerung zum Thema Abstand zu nehmen. Sein Vorstoß erklärt sich wohl auch aus dem machtpolitischen Ringen zwischen ihm und der Regierung von Ministerpräsident Hichem Mechichi. Saïed und Mechichi waren kürzlich bei der Zusammenstellung des Kabinetts aneinandergeraten (Zoff in der Exekutive - Jungle World 37/2020). Mechichis Technokratenregierung wird im Parlament von den islamistischen Parteien al-Nahdha und al-­Karama sowie der populistischen Wahlvereinigung Qalb Tounès unterstützt. Justizminister Mohamed Bousseta ist parteilos, ist jedoch dem zivilgesellschaftlich engagierten Anwalt Imed Ben Halima zufolge als »U-Boot von al-Nahdha« anszusehen. Bousettas Nominierung war besonders umstritten, Saïed hatte al-Nahda mehrmals mangelnde Rücksicht auf die Unabhängigkeit der Justiz vorgeworfen. Nun meldet er sich selbst in einer justizpolitischen Debatte zu Wort und verteidigt Vorstellungen, die nicht nur bei reaktionären Islamisten Anklang finden.