Madrid erneut im »lockdown«

Vollalarm in Madrid

Reportage Von Jan Marot

Die spanische Hauptstadt befindet sich erneut im »lockdown«. Vor allem ärmere Bewohner trifft die Coronakrise hart. Stadtteilinitiativen versuchen zu helfen.

Die Polizeipräsenz ist hoch am Bahnhof Puerta de Atocha, dem wichtigsten Bahnhof Madrids. Hier halten die ­S-Bahnlinien der autonomen Region Madrid sowie viele Regional- und Fernverkehrszüge. Normalerweise drängen sich Massen von Reisenden und Pendlern in dem Bahnhof.

Am vorvergangenen Freitagabend trat eine 14tägige Ausgangssperre für Madrid und eine Vielzahl der Vorstädte der spanischen Hauptstadt in Kraft. Das Gesundheitsministerium der vom sozialdemokratischen PSOE und dem linken Bündnis Unidas Podemos gebildeten Regierung hatte diese Sperre an­geordnet. In der Metropolregion Madrid leben knapp sechs Millionen Menschen. Der erste lockdown galt für ganz Spanien. Er dauerte von Mitte März bis Mitte Juni.

Derzeit müssen spanische Städte, in denen es binnen 14 Tagen pro 100 000 Einwohner durchschnittlich mehr als 500 Neuinfektionen gab, die Bewegungsfreiheit der Einwohner einschränken, wenn mehr als zehn Prozent der Coronatests positiv ausfallen und über 35 Prozent der Intensivbetten belegt sind. Landesweit werden derzeit um die 12 000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie haben sich mehr als 850 000 Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert, über 30 000 sind an der Krankheit gestorben. Die in Spanien nach der sogenannten ersten Welle festgestellte hohe Übersterblichkeitsrate lässt vermuten, dass die Zahl der Todesfälle noch deutlich höher sein dürfte.

Derzeit darf man nur dann nach Madrid einreisen und die Stadt verlassen sowie sich in dieser bewegen, wenn man einen triftigen Grund dafür hat. Als solcher zählten unter anderem Arbeit, Studium und die Versorgung von Angehörigen. Im Falle einer Polizeikontrolle musste man dies nachweisen können. Doch die Polizisten im Bahnhof Puerta de Atocha sind am Montag vergangener Woche allem Anschein nach vor allem damit beschäftigt, um Essen oder Geldspenden bittende Obdachlose zu verscheuchen.

In der im Stil der Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts gehaltenen Ankunftshalle befindet sich ein Palmengarten. Die Halle ist verwaist, fast menschenleer. Anders ist es auf den Bahnsteigen der Cercanías, der Vorortzüge. Obwohl 10.30 Uhr keine Stoßzeit ist, tummeln sich hier viele Menschen. In den Cercanías wird es meist eng. Täglich füllen sich die sozialen Medien mit Fotos von Menschentrauben in S-Bahnen und auf den Bahnsteigen. An den wenigsten U-Bahnstationen sind Des­infektionsmittelspender installiert. Die Regionalregierung von Madrid unter Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso vom konservativen Partido Popular (PP) hatte versprochen, diese in allen U-Bahnhöfen anbringen zu lassen. Die Minderheitsregierung besteht seit August 2019 aus PP und der rechtsliberalen Partei Ciudadanos und wird von der rechtsextremen Partei Vox toleriert.

In der Nähe des Bahnhofs befindet sich das Museum Reina Sofía, ein wichtiges Museum für moderne und zeitgenössische Kunst. »Madrid ist tot«, sagt der Inhaber einer gegenüber gelegenen Bäckerei. »Es gibt überhaupt keine Touristen. Im Herbst kommen sonst viele Stadturlauber aus dem Aus- und Inland nach Madrid.« Der wirtschaftliche Verlust für ihn sei groß. Von April bis Juni ist das spanische Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 17,8 Prozent gesunken.

Die Regionalregierung behauptet, der erneute lockdown verursache in der Region Verluste von 1,5 Milliarden Euro pro Woche. Das war eines der Haupt­argumente der Regionalregierung gegen den vom Gesundheitsministerium der Zentralregierung angeordneten lockdown.

Ayuso sagte, man könne »nicht 100 Prozent der Bevölkerung einsperren, um ein Prozent zu retten«. Die Regionalregierung klagte gegen den lockdown. Am Donnerstag voriger Woche urteilte das Oberlandesgericht von Madrid, die Anordnung des Gesundheitsministe­riums beschränke in unrechtmäßiger Form Grundrechte und -freiheiten. Am Tag darauf rief die Zentralregierung einen Notstand (estado de alarma) für Madrid aus. Damit setzte sie den lockdown für 14 Tage wieder in Kraft. Nach Ablauf dieser Frist bedarf es der Zustimmung des spanischen Parlaments, um den lockdown zu verlängern.

Kurze Zeit nach Verhängung des Notstands kam es im wohlhabenden Stadtteil Salamanca und vor der Parteizentrale des PSOE in der Calle de Ferraz zu Protesten. Am Montag protestierten zahlreiche Menschen mit Autokorsos gegen den lockdown. Zu diesen hatte die Vox aufgerufen. Der Vorsitzende der Partei, Santiago Abascal, schrieb auf Twitter, die Zentralregierung richte die Bevölkerung »mit totalitären und absurden Maßnahmen« zugrunde.

Bereits Mitte September hatte die Regionalregierung eine Ausgangssperre für 37 Wohngebiete in Madrid und ­einige Vorstädte verhängt, darunter Stadtteile wie Vallecas, in denen vor allem Ärmere und Migranten leben. Reichere Stadtbezirke wie Salamanca und noble Vororte, die eine ähnlich hohe Infektionsrate wie Vallecas aufwiesen, blieben verschont. Es gab Proteste gegen die Abriegelung einzelner Stadtviertel, vor allem in Vallecas im Süden von Madrid.

Der »rote Priester« von Vallecas

Dort stieg die Arbeitslosigkeit mit der ersten Infektionswelle rasant, die zweite bedroht die Existenzen von noch mehr Menschen. Javier Baeza ist Pfarrer der in dem Viertel gelegenen Kirche San Carlos Borromeo. Unterstützer wie Gegner nennen ihn den »roten Priester«.

Die kleine Kirche ist eine Art linkes Sozialzentrum, das bis zum ersten lockdown Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung beherbergte. Baezas sagt, man habe keine adäquaten Räumlichkeiten, um in der Pandemie Migranten in der Kirche unterzubringen. Die Kirche beteiligt sich auch an Kampagnen gegen die Wettbüros, die in Madrid vor allem in ärmeren Stadtteilen sehr verbreitet sind und in denen sich viele prekäre Beschäftigte sowie Arbeitslose ruinieren.

»Die sozioökonomische Krise wurde nicht vor zwei Wochen geschaffen, sie ist weitaus älter«, sagt Baeza. »Doch als die Regionalregierung Vallecas unter Quarantäne stellte, war es ein weiterer Anlass, der die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärkte.« Die Regionalregierung kriminalisiere die Armen. »Die Regionalpräsidentin wirft uns vor, dass wir nicht auf uns achten, dass wir nicht verantwortungsbewusst sind«, kritisiert Baeza. Die Ökonomie sei ihr wichtiger als die Gesundheit der Menschen.

Stadtteile, in denen es ähnlich viele Infektionen gab wie in Vallecas, habe die Regionalregierung nicht unter Quarantäne gestellt, weil diese wichtiger für den Tourismus und die Gastro­nomie sind. Er beziehe sich konkret auf Lavapiés. Das einst linksalternativ ­geprägte, multikulturelle Viertel im Zentrum der Stadt konnte seinen Charme bewahren, doch die Gentrifizierung und die steigende Zahl von ­Ferienwohnungen haben tiefe Veränderungen bewirkt.

»Zu uns kommen Menschen, die ­ihren Kindern nichts zu essen geben können«, sagt Baeza, »zu Schulbeginn ist es für viele unmöglich, Lernmaterial zu besorgen. Familien wenden mehr Geld im Monat für Mund-Nasen-Bedeckungen und Desinfektionsgel auf als für Milch, berichteten unlängst Medien.« Die Erstversorgung in den Gesundheitszentren der Hauptstadt wurde bislang nicht personell aufgestockt, eine Wartezeit von 14 Tagen für einen telefonischen oder persönlichen Termin ist die Regel. Baezas Kirche leistet soziale und juristische Hilfe für Menschen, die arbeitslos geworden sind, etwa wenn es darum geht, soziale ­Unterstützungsleistungen zu beantragen, oder hilft Migranten, ihre Aufenthaltsgenehmigung erneuern zu lassen. Zu den Unterstützungsleistungen gehört auch das ingreso ­minimal vital (Mindesteinkommen zum Leben), die Ende Mai von der Zentralregierung beschlossene Mindestsicherung. Seit Juni können Spanier im Alter von 23 bis 65 Jahren, die sich in einer prekären Situatuion befinden, 462 Euro pro Monat erhalten, Familien mit Kindern bis zu 1 015 Euro pro Monat. Baezas sagt, die Beantragung sei kompliziert. Die Madrider Regionalregierung streiche Familien mit Kindern den Zuschuss für die Verpflegung in der Schule, wenn sie die von der Zentralregierung eingeführte Mindestsicherung erhalten. »Man muss weiterkämpfen, sich selbst organisieren, nach­barschaftlich in Kollektiven, um die kommenden Monate zu überstehen, und weiter protestieren«, sagt er. »Man darf nicht in die Hoffnungslosigkeit schlittern, denn genau darauf baut der Faschismus.«

Anders als in den mondänen Vierteln im Zentrum der Stadt ziert in ­Vallecas so gut wie keine Nationalflagge Fenstersimse oder Balkone. Die Flagge wird eher von Rechten verwendet. Hier sieht man Transparente, die die »Verteidigung der öffentlichen Gesundheitsversorgung« einfordern oder »Mehr sozial-ökonomische Initiativen, weniger Polizei«. Unübersehbar ist, dass kleine Geschäfte und Bars schließen mussten. An heruntergelassenen Eisenjalousien verkünden vielerorts Schilder »Se vende« (zu verkaufen) oder »Se alquila« (zu vermieten).

Das Kollektiv »Solidarische Pharmazeuten« betreibt in der gesamten ­Region kleine Lokale, in denen Bedürftige Essen und Medikamente erhalten. Toñi ist Mitglied des Kollektivs. »Am Wochenende kochen wir stets mittags warme Mahlzeiten zum Mitnehmen, insbesondere für die ältere Bevölkerung, die so auch zumindest ein wenig sozialen Kontakt in der Pandemie hat«, sagt sie. Die Armut habe sich immens verschärft. Viele Familien wüssten nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren sollen.

In Usera ist man vorsichtig
Auch der Bezirk Usera liegt im Süden der Stadt. Zu Usera gehört der Barrio Chino, die Chinatown Madrids. Die Bevölkerung stammt überwiegend aus China. Hier hatten viele sich bereits strenge Vorkehrungen zur Eindämmung der Pandemie auferlegt, bevor die Regierung etwas anordnete. Die meisten trugen sehr früh überall im öffentlichen Raum eine Mund-Nasen-Bedeckung. Geschäfte, Restaurants und Dienstleister schlossen Tage vor ­Beginn des ersten lockdown im März.

Auch an diesem Montag wird deutlich, dass man hier vorsichtiger ist als andernorts. Die Straßen sind verwaist, die wenigen Passanten sind mehrheitlich Schüler auf dem Heimweg. Viele Geschäfte und Restaurants sind geschlossen. Kaum jemand sitzt auf den Parkbänken. Weit offen stehen indes die Türen der vielen Wettbüros. Werbeschilder locken auf Mandarin und Spanisch zum Glücksspiel. In ­einem chinesischen Supermarkt in ­einer Querstraße sind Handdesin­fektion und Einweghandschuhe Pflicht, nur eine begrenzte Zahl an Kunden darf den Laden betreten.

David Lopun gehört zur chinesischen Minderheit und arbeitet als Kellner im Familienbetrieb Royal Cantonés, einem vorzüglichen chinesischen Restaurant, in dem unter anderem Hühnerfüße, Frösche und Quallensalat angeboten werden. Er relativiert Vorwürfe, Vox habe antichinesische Ressentiments geschürt; es habe nur »punktuelle Vorfälle« gegeben. Im Juli sagte Abascal im spanischen Parlament, die ­chinesische Regierung »kontrolliert und verwaltet die Weltgesundheits­organisation WHO nach Belieben«; die WHO sei ein »chinesischer Propaganda­kanal«. Lopun bedient den Jungle World-Reporter, der allein im Speisesaal sitzt, nachdem er dessen Körpertemperatur gemessen hat. »Wenn wir zwei bis drei Gäste am Tag haben, ist es viel«, sagt Lopun. Die meisten Gäste blieben lieber zu Hause, als sich in ein Restaurant zu wagen. Hauszustellung biete man nicht an.

»Einige Dutzend Gäste mussten wir wegen zu hoher Körpertemperatur heimschicken«, sagt er. Fiebermessen sei nicht Pflicht, man mache das vor ­allem zum Schutz der Belegschaft. »Wir Chinesen und Chinastämmigen gehen weiter als die Spanier, weil wir wissen, wie rasant sich das Virus verbreiten kann. Wir haben Familie und Bekannte in China und stets engen Kontakt mit ihnen.« Politisch will er sich nicht ­äußern, er meint, das interessiere seine Landsleute wenig. »Hauptsache ist, wir können arbeiten. Wir halten uns an die Auflagen«, sagt er. »Wir versuchen zu helfen, verteilen Mund-Nasen-Bedeckungen und Desinfektionsmittel an Bedürftige, Krankenhäuser und die Polizei.«

Biertrinken in Lavapiés

Strasse Madrid
Im Stadtteil Lavapiés zieren Flaggen der Zweiten Spanischen Republik (Rot-Gelb-Purpur) die Balkone


In Lavapiés gibt es viele Museen, alternative Kulturzentren, Szenebars sowie indische, pakistanische und afrikanische Restaurants. Flaggen der Zweiten Spanischen Republik, gegen die 1936 rechtsextreme Armeeangehörige putschten, zieren die Balkone. Doch in der Pandemie stockte der Kulturbetrieb in Lava­piés. Auch hier sind viele Ladenlokale zu verkaufen oder zu vermieten. Auf den Terrassen der Bars und Restaurants sitzt kaum jemand. Ganze Straßen­züge sind verwaist. Nur an der Plaza de Lavapiés, an dem sich eine U-Bahn­station befindet, kommen Menschen zusammen. Zwei Familienväter aus dem Senegal spielen mit ihren Kindern Fußball in der Abendsonne. Auf den Steinbänken lesen Studenten Bücher, Obdachlose halten Siesta. Vor den Wettbüros an der Ecke trinken zwei Männer Mitte 50 Dosenbier und rauchen Zigaretten. Es wirkt, als wollten die beiden diese kleinen Freiheiten auskosten, bevor auch dies mit saftigen Geldstrafen geahndet wird. Ausgestanden ist die Coronakrise noch lange nicht.