Jodi Deans Buch »Genossen!«

Verflossene Genossen

Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Jodi Dean wirbt für ein aus der Mode gekommenes Beziehungsmodell: das der Genossen.

»Uns Anarchisten«, schrieb der Gustav Landauer 1895, »ist jeder, welcher Gesellschaftsklasse er auch angehört, als Genosse recht, der unsere Ansicht für richtig hält und nach Kräften die Konsequenzen seines Denkens im Leben zieht.« Was Landauer, Anarchist und Mitherausgeber der Zeitschrift Der Sozialist, vor 125 Jahren schrieb, hätte auch gut in die Einleitung von Jodi Deans Buch »Genossen!« gepasst. Darin widmet sich die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin der Geschichte und Theorie des Genossen. Wie Landauer definiert sie Genossen als die Mitglieder einer Gruppe von Leuten, die aus Überzeugung ähnlich handeln. Nicht eine Identität, sondern das gemeinsame Handeln macht Menschen zu Genossen.

Deans Buch füllt eine Lücke. Es widmet sich einer Chiffre für Zugehörigkeit, die bislang erstaunlich ­wenig beachtet wurde. Während es zu Begrifflichkeiten wie »Bürger« oder »Fremder« große Mengen an Fachliteratur gibt und Vorstellungen von beispielsweise »Freundschaft« oder »Sisterhood« viel diskutiert werden, wurde der »Genosse« in der Kulturtheorie bisher wenig beachtet. Das liegt vermutlich auch daran, dass die mit dem Begriff verbundenen Ideen an Einfluss verloren ­haben. Dabei sei diese Beziehung »eine der fruchtbarsten, inten­sivsten und handlungsmächtigsten überhaupt«, behauptet die Autorin.

Der wahre Genosse ist für Jodi Dean der Parteigenosse. Insofern ist das Buch ein Affront gegen undogmatische Linke. Es blendet nicht nur den Anarchismus aus, sondern ignoriert auch die Geschichte der Neuen Linken. Schließlich hat gerade die Kritik an der Parteiform des Politischen unzählige Organisationsformen und Praktiken hervorgebracht.

Dean grenzt das Genossesein von Freundschaften sowie von Beziehungen ab, die eine familiäre Relation behaupten, wie beispielsweise Sisterhood. Sie unterscheidet den Genossen gleich zu Beginn ihres Buchs auch vom Unterstützer. Damit grenzt sie sich von den identitätspolitischen Vorstellungen der Gegenwart ab, denen zufolge diskriminierte Personen oder Gruppen zu unterstützen seien. Die zugeschriebenen Identi­täten werden dabei nicht in Frage gestellt. Das Konzept der Genossen ­hingegen stellt Gleichheit her, es unterläuft bestehende Kategorien und beruht auf Gegenseitigkeit. Diese wechselseitige Beziehung ist stets eine praktische. Sie ist kollektiv, sachorientiert und nicht besitzergreifend. Genossen und Genossinnen zeichnen sich Dean zufolge durch vier Charakteristika aus: Disziplin, Freude, Enthusiasmus, Mut.

Das alles behauptet Dean nicht nur, sie schildert auch eine Fülle von ­Beispielen, die zumeist aus der Geschichte der Kommunistischen Partei der USA von den zwanziger bis fünfziger Jahren stammen. Die Autorin zeigt anschaulich, wie in der Linken bereits vor Jahrzehnten um eine kommunistische Haltung zur Abschaffung der Diskriminierung von Schwarzen und Frauen gerungen wurde.

Die Verengung der Geschichte des Genossen auf die Kommunistische Partei ist zugleich die große Schwäche des Buchs. Der Genosse als »Figur der politischen Zugehörigkeit« benötigt, wie Dean ausführt, einen »kollektiven Körper«. Aber sie berücksichtigt weder Gewerkschaften noch ­Redaktionskollektive oder Bewegungen. Der wahre Genosse ist für sie der Parteigenosse. Insofern ist das Buch ein Affront gegen undogmatische Linke. Es blendet nicht nur den Anarchismus aus, sondern ignoriert auch die Geschichte der Neuen Linken. Schließlich hat gerade die Kritik an der Parteiform des Politischen unzählige Organisationsformen und Praktiken hervorgebracht.

Aber auch derart eng gefasst ist Deans Konzept des Genossen nicht ganz konsistent. In der vielgestaltigen Schilderung dieser Figur verschwimmt nicht selten, was das Genossesein eigentlich kennzeichnet: Beruht es auf Entscheidung und freier Wahl, sich und andere für eine Sache zu verpflichten? Ist es der bewusste Schritt zur »freien Vereinbarung und kollektiven Entscheidungsfindung«, der diese Zugehörigkeit ausmacht? Oder fußt das Konzept, wie Dean in Anlehnung an den bolschewistischen Schriftsteller Andrej Platonow an ­anderer Stelle nahelegt, auf Not und Elend? Handelt es sich bei Genossen um den Bund der Besitzlosen, »jener Menschen, die bloß einander haben«? Bringt die »gemeinsame Armut der leidenden Menschen« wirklich Hoffnung hervor, wie Dean behauptet? Dann wäre allerdings gar kein Akt der Entscheidung notwendig.

Mehrmals betont die Autorin, dass die Genossen diejenigen sind, die auf »derselben Seite« der Barrikade stehen oder im Kampf gegen Ausbeutung zusammenhalten. Unbeachtet bleibt, dass solche Trennlinien stets umkämpft sind; eine antikapitalistische Politik kann durchaus mit reaktionären Ansichten und Aktionen einhergehen. Ist Sahra Wagenknecht eine Genossin, obwohl sie eine restriktive Migrationspolitik fordert? War Hugo Chávez Genosse, obwohl er mit dem iranischen Regime paktierte?

Selbst wenn in der Vergangenheit klarer war, wer der Gegner ist – welche Konsequenzen daraus erwachsen, auf »derselben Seite« zu stehen, war es nicht. Schließlich wollten auch die Anarchisten, die im Spanischen ­Bürgerkrieg kämpften, den Kapitalismus abschaffen; dennoch wurden sie von den »Genossen« der Kommunistischen Partei beschossen. Die ­Revoltierenden im Pariser Mai 1968 wurden ebenso wenig von kommunistischen Parteigenossen unterstützt wie die autonomen Linken im Italien der siebziger Jahren. Gleiches galt bereits für den Aufstand der Matrosen in Kronstadt 1921, die die Revolution auch und gerade gegen die Partei vertiefen wollten. Tausende wurden dafür auf Befehl Leo Trotzkis ­erschossen. Dean, die diese Episode erörtert, gibt Trotzkis Position un­gerührt wieder: »Dass die Aufständischen Genossen gewesen waren, rechtfertigte die Grausamkeit der Schlacht.«

Dass der Genosse als »Träger von Handlungserwartungen« auch mit übelsten Konsequenzen zu rechnen hat, wenn er diesen Erwartungen nicht entspricht, stört Dean anscheinend wenig. Als habe es die vielen kleinen Zurechtweisungen und ­großen Verhaftungswellen im Realsozialismus nie gegeben, behauptet sie voller Emphase: »Disziplin bietet die Grundlage, auf der wir frei sind, Fehler zu machen, zu lernen und zu wachsen.« Eine solche Fehlertoleranz war in der marxistisch-leninistischen Praxis wohl eher die Ausnahme. Auch sonst mutet das Lob der Disziplin merkwürdig an: Zwar kann Disziplin durchaus Verbindlichkeit stiften und so die kollektiven Kräfte stärken. Sie aber zur Voraussetzung für Freude an der Arbeit und gar zur Bedingung von Freiheit zu erklären, ist ziemlich fragwürdig.

So interessant das Unterfangen auch ist, für das Konzept des Genossen zu werben, so dogmatisch fällt der Versuch aus. Gustav Landauer jedenfalls hätte Deans Text wohl zu den »Enttäuschungen und Rückfällen« gerechnet, die die Genossen auf dem Weg zur befreiten Gesellschaft einstecken müssen.

Jodi Dean: Genossen! Aus dem ameri­kanischen Englisch von Andreas G. Förster. Wagenbach, Berlin 2020, 176 Seiten, 18 Euro