Das Vermögen der Berliner Hertie School stammt aus der »Arisierung«

Zaghafte Aufarbeitung

Eine Gruppe von Studierenden und Alumni der Hertie School in Berlin fordert eine unabhängige Aufarbeitung der Vergangenheit des Hertie-Vermögens. In den dreißiger Jahren hatten die Nationalsozialisten das Unternehmen im Zuge der sogenannten Arisierung enteignet.

In der alten Bundesrepublik kannte jeder Hertie: Der Warenhauskonzern betrieb über 100 Kaufhäuser, darunter das weltberühmte Kadewe in Westberlin. 1993 kaufte Karstadt den Konzern auf. Den Namen der Handelskette trägt heutzutage die gemeinnützige Hertie-Stiftung, die mit einem Vermögen von rund einer Milliarde Euro ausgestattet ist. Ihr wohl einflussreichstes Projekt ist die »Hertie School« (bis 2019 »Hertie School of Governance«), die in Berlin Führungskräfte für Politik, Wirtschaft, Verwaltung und NGOs ausbildet. Doch wie bei den meisten westdeutschen Erfolgsgeschichten stößt man auch bei Hertie auf eine dunkle Vergangenheit.

Bis 1933 hieß das Unternehmen, das der jüdische Kaufmann Oscar Tietz gegründet hatte, »Hermann Tietz« – nach dessen Onkel, der die Grundlage für das Familienunternehmen gelegt hatte. Erst mit der sogenannten Arisierung wurde es zu »Hertie«. »Arisierung« ist ein Begriff der Nationalsozialisten, die damit die Enteignung von Jüdinnen und Juden und deren Verdrängung aus allen wirtschaftlichen Bereichen bezeichneten.

Der Historikerin Simone Ladwig-Winters zufolge war »Hermann Tietz« das erste Unternehmen, bei dem die Nazis direkt intervenierten. Ladwig-Winters erforschte die Enteignung von Warenhäusern im Nationalsozialismus, die für die Nazis den Inbegriff von Massenkultur und Großhandel darstellten, der die deutsche Mittelschicht bedrohte. Das Unternehmen Hermann Tietz war ihnen besonders verhasst: Der Eigentümer war Jude, Sozialdemokrat und Republikaner, und seine modernen Kaufhäuser wegen ihrer niedrigen Preise bei Arbeitern beliebt.

Die Weltwirtschaftskrise und Boykottkampagnen der Nazis hatten das Unternehmen unter Druck gesetzt. Die Banken verweigerten Kredite. Ein Bankenkonsortium übernahm das Unternehmen und übertrug es schließlich in Absprache mit dem Reichswirtschaftsministerium einem »arischen« Geschäftsführer, dem Handelskaufmann und Leiter der Textilabteilung bei Hermann Tietz, Georg Karg.

Während die Tietzes vor den Nazis fliehen mussten, baute Karg sein Firmenimperium weiter aus. Nach dem Krieg bildeten die wertvollen Immobilien in den Innenstädten der westlichen Besatzungszonen die Grundlage für den zweiten Aufstieg von Hertie.

Die Tietz-Erben versuchten sowohl in den dreißiger Jahren als auch nach dem Krieg, ihr Eigentum zurückzuerhalten. Doch Karg wehrte sich. Bei der Restitutionsverhandlung nach dem Krieg vertrat ihn Otto Lenz, der später Konrad Adenauers Staatssekretär im Bundeskanzleramt wurde. Letztlich entschied die US-amerikanische Besatzungsmacht. Karg behielt den Konzern, musste der Familie Tietz allerdings drei Filialen, in München, Stuttgart und Karlsruhe, überschreiben und zahlte ihnen für diese seitdem eine Pachtgebühr. Mit dem einsetzenden sogenannten Wirtschaftswunder war das leicht zu verschmerzen. Bald boomten die Geschäfte wieder und Hertie eröffnete eine neue Filiale nach der anderen. So entstand das riesige Vermögen der Hertie-Erben und der heutigen Hertie-Stiftung. 1972 starb Georg Karg.

Mit dem Begriff »Arisierung« bezeichneten die Nationalsozialisten die Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus allen wirtschaftlichen Einrichtungen.


Viele Unternehmen und Behörden haben in den vergangenen Jahren ihre Nazivergangenheit historisch erforschen lassen. Sowohl die Hertie-Stiftung als auch die Hertie School machten bisher allerdings wenig Aufhebens darum, dass in ihrem Namen noch ein Hinweis auf die Opfer der Nazis steckt. Es ist einer Initiative von Studierenden und Alumni der Hertie School zu verdanken, die unter dem Namen »Her. Tietz« eine öffentliche Aufarbeitung fordern, dass die »Arisierung« der Warenhauskette Hermann Tietz nun erstmals größere Aufmerksamkeit erhält.

Zwei Jahre lang seien sie dabei nur »hingehalten und abgewimmelt« ­worden, sagte kürzlich ein Vertreter von »Her. Tietz« der Süddeutschen Zeitung (SZ). Bis heute wüssten selbst die meisten Studierenden der Hertie School nichts über die Vorgeschichte ihrer Hochschule. Zwei historische Studien zum Thema halte die Stiftung unter Verschluss. Ihr Vorsitzender Frank-Jürgen Weise, ehemals Präsident der Bundesagentur für Arbeit, hatte in einem Rundbrief 2019 mitgeteilt, eine weitere historische Aufarbeitung würde »keinen Sinn stiften«, denn schließlich seien alle Ansprüche der Familie Tietz »zur beiderseitigen Zufriedenheit« geregelt worden.

Die Kombination einer privaten Familienstiftung und einer gemeinwohlorientierten Stiftung diente der Familie Karg jahrzehntelang auch dazu, ihr Vermögen zu verwalten. »Die Hertie-Erben demonstrieren, dass es Mitgliedern des Geldadels auch offensteht, mitten in Deutschland eine Steueroase zu unterhalten«, schrieb der Spiegel 1999. Ende der Neunziger drohten der Stiftung deswegen der Entzug der Gemeinnützigkeit und Steuernachforderungen in Milliardenhöhe, doch letztlich einigte man sich mit den Finanzbehörden.

Eine Enkelin von Georg Karg, Sabine Gräfin von Norman, ist Mitglied des Stiftungsvorstands. Und offenbar hat die Familie auch Einfluss auf deren Erinnerungspolitik. In einer E-Mail des Stiftungsgeschäftsführers John-Philip Hammersen, aus der die SZ zitiert, heißt es, die »Arisierung« sei zwar unstrittig, es sei »jedoch für die heutigen Nachkommen von Georg Karg schon ein großer Schritt, dies beim Namen zu nennen«. Ein anderer Mitarbeiter sagte der SZ zufolge, es gebe eine »Tradition des Schweigens aus Rücksicht« auf die Familie.

Erst die jüngste Medienaufmerksamkeit brachte Bewegung in die Sache. Kurz nach Erscheinen des SZ-Artikels am 25. Oktober kündigte die Stiftung in einer Presseerklärung eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung der »Arisierung« des Konzerns an.

Die Initiative »Her. Tietz« betrachtet diese Zusage misstrauisch. In einer Petition fordert sie deshalb, dass kein einzelner Forscher das Gutachten erstellen soll, sondern eine Historikerkommission, der auch Holocaustforscher angehören. Außerdem müsse es eine verbindliche Verpflichtung der Stiftung geben, den Forschern vollen Zugang zu Quellen zu gewähren und »zu garantieren, dass eine Einmischung nicht vorkommen wird«.

Auch das Restitutionsverfahren nach dem Krieg müsse Thema der Aufarbeitung sein. Die westlichen Besatzungsmächte sorgten dafür, dass überleben­de Opfer oder Vertreter der Ermordeten ihr Eigentum zurückfordern konnten. Oft saßen diese jedoch Nazirichtern gegenüber oder Beamten, die vorher selbst die Liquidation jüdischen Vermögens betrieben hatten.

Hertie war sogar noch ein zweites Mal Nutznießer einer NS-Enteignung. 1951 kaufte Georg Karg günstig Teile des »arisierten« Konzerns Wertheim, dessen ehemalige jüdische Eigentümer in den USA lebten. Nach dem Fall der Mauer konnte Hertie dadurch Anspruch auf Grundstücke in Ostberlin erheben, die einst der Familie Wertheim gehört hatten. Erst nach jahrelangen Prozessen und einer öffentlichen Kampagne erstritten sich die Wertheim-Erben 2007 eine Entschädigung vom Hertie-Nachfolger Karstadt.

Um finanzielle Forderungen an die Hertie-Stiftung oder die Erben Georg Kargs geht es bei der derzeitigen Diskussion jedoch nicht, sondern bloß darum, es den meisten deutschen Konzernen gleichzutun und die Verbrechen offenzulegen, von denen man einst profitiert hat.