Wiederveröffent­lichung von Herbert Marcuses Studie »Vernunft und Revolution«

Marx’sche Theorie und Hegels Beitrag

Anlässlich des 250. Geburtstags von Georg Wilhelm Friedrich Hegel wird Herbert Marcuses Schrift »Vernunft und Revolution« wieder aufgelegt, in der dieser den Einfluss Hegels auf das Marx’sche Werk untersucht.

Revolutionen wurden bislang ohne Ausnahme von destruktiven Tendenzen begleitet und dadurch letztlich konterkariert. Herbert Marcuse versuchte in seinem Buch »Vernunft und Revolution«, mit Rückgriff auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die einlöst, was Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest als Bedingung der individuellen Emanzipation und gesellschaftlichen Revolution formuliert hatten: »die freie Entfaltung des Einzelnen als Bedingung für die freie Entfaltung Aller«.

Der Suhrkamp-Verlag hat die im englischsprachigen Original 1941 erschienene Schrift aus Anlass des 250. Geburtstags Hegels wieder aufgelegt. Marcuse arbeitet hier Grundzüge einer kritischen Hegel-Lektüre heraus. Das Buch steht in der Tradition eines »westlichen Marxismus« (Maurice Merleau-Ponty), der seinen Ausgang in den zwanziger Jahren in den Schriften von Georg Lukács (»Geschichte und Klassenbewusstsein) und Karl Korsch (»Marxismus und Philosophie«) hatte und seine Fortsetzung, in unterschiedlicher Akzentuierung, in der Kritischen Theorie, in der Neuen Marx-Lektüre, bei Antonio Gramsci, Alfred Sohn-Rethel oder Louis Althusser fand. Marcuse stellt die in der Rezeption des orthodoxen Marxismus oft verschütteten Beziehungen zwischen Marx und Hegel heraus und hebt auch Hegels Einfluss auf die Entstehung einer kritischen und – bislang uneingelösten – revolutionären Theorie der Gesellschaft hervor.

»Vernunft und Revolution« steht in der Tradition eines »westlichen Marxismus« (Maurice Merleau-Ponty), der seinen Ausgang in den zwanziger Jahren in den Schriften von Georg Lukács (»Geschichte und Klassen­bewusstsein«) und Karl Korsch (»Marxismus und Philosophie«) nahm und seine Fortsetzung, in unter­schiedlicher Akzentuierung, in der Kritischen Theorie, in der Neuen Marx-Lektüre, bei Antonio Gramsci, Alfred Sohn-Rethel oder Louis Althusser fand.

Der Titel des Buchs kann durchaus als Antithese zu der Zeit gesehen werden, in der es entstand. Ende der dreißiger Jahre hatte nicht nur der Nationalsozialismus die Arbeiterbewegung in Deutschland nahezu komplett zerstört beziehungsweise sogar teilweise integriert. Der real existierende Sozialismus sowjetischer Prägung hatte bei kritischen Marxisten jegliche Hoffnung auf eine baldige Verwirklichung dessen enttäuscht, was Marcuse als die »endgültige Befreiung des Individuums« bezeichnet.

»Vernunft und Revolution« ist deshalb nicht ohne das zu verstehen, was Adorno und Horkheimer den »Zeitkern der Wahrheit« nennen – ein Ausdruck, der vor allem im Zuge der Neuauflage der »Dialektik der Aufklärung« im Jahr 1969 eine wichtige Bedeutung erlangte. »Wenn die alten Texte heute gelten sollen, hat die Erfahrung in den letzten zwei Jahrzehnten mitzusprechen«, sagte Horkheimer damals. Bei einem Text müsse demnach immer reflektiert werden, wie seine Entstehungsbedingungen sich von der Gegenwart unterscheiden; allein dadurch könne sowohl der Blick auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart geschärft werden. Skepsis bezüglich der rebellierenden Studierenden schwang hierbei ebenso mit wie eine Warnung davor, einige Thesen der »Dialektik der Aufklärung«, auf die sich die Achtundsechziger bezogen, umstandslos auf die westlichen ­Gesellschaften der Nachkriegszeit zu übertragen.

Marcuses Blick auf die antiautoritäre Revolte war ein anderer. Er begegnete den Studierenden mit kritischer Sympathie, eine Haltung, die ihre Wurzeln auch in seinem drei Jahrzehnte zuvor erschienenen Buch »Vernunft und Revolution« hat. ­Darin schreibt er, die Marx’schen Kategorien zielten »auf eine neue Form der Gesellschaft ab, selbst wenn sie ihre herkömmliche beschreiben. Ihrem Wesen nach wenden sie sich einer Wahrheit zu, die nur durch die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft zu erreichen ist.« Und er resümiert: »Marx zufolge besteht die richtige Theorie im Bewusstsein einer Praxis, die auf die Veränderung der Welt abzielt.«

Wie diese Praxis aussehen könnte, erläutert Marcuse im zweiten Teil seiner Schrift. Zunächst geht es ihm aber darum, die »Grundlagen der Hegelschen Philosophie« zu erklären. Dabei wird deutlich, wie entscheidend die Französische Revolution das Denken der Zeit prägte. Hegel und seine Mitstreiter sahen diese längst nicht so kritisch wie spätere Genera­tionen, und wenn man Hegels frühe Schriften liest, kann man durchaus davon sprechen, dass er die Einheit von Vernunft und Revolution darin bereits verwirklicht sah. »In Hegels Augen bestand die entscheidende Wende, die die Geschichte mit der Französischen Revolution vollzog, darin, dass der Mensch dazu gelangte, sich auf seinen Geist zu verlassen, und es wagte, die gegebene Realität den Prinzipien der Vernunft zu ­unterwerfen«, schreibt Marcuse in seiner Einleitung, um fortzufahren: »Die stillschweigende Voraussetzung jedoch, dass die Vernunft sich unmittelbar in der Praxis zeige, ist ein Dogma, das vom Gang der Geschichte nicht gestützt wird. Hegel glaubte so sehr an die unbesiegbare Macht der Vernunft wie Robespierre.« Beispiele finden sich in den »Theologischen Jugendschriften« oder auch in der »Phänomenologie des Geistes«.

Marcuse geht auf die historischen, gesellschaftlichen Bedingungen ein, unter denen Hegel seine Theorie entwickelte. Dazu zählen die preußischen »Befreiungskriege«, die Heilige Allianz gegen Napoleon, die Schlachten von Leipzig und Waterloo und der siegreiche Einmarsch der Verbündeten in Paris. »Hegel erblickte in Napoleon die historische Gestalt, in der sich das Schicksal der Französischen Revolution erfüllte. Er war für Hegel der einzige Mann, der dazu ­fähig war, die Errungenschaften von 1789 in eine Staatsordnung zu überführen und die individuelle Freiheit mit der allgemeinen Vernunft eines stabilen Gesellschaftssystems zu verknüpfen.«

Diesen Punkt wird Marcuse im zweiten Teil seines Buchs ausführen und dabei auch auf die Hegel-Rezep­tion im Werk von Karl Marx eingehen. Vorher widmet er sich aber der zwischen 1812 und 1816 erschienenen zweibändigen »Wissenschaft der ­Logik«, einem Werk, das auch für das Verständnis des »Rohentwurfs« des Marx’schen »Kapital« entscheidend ist. Die »Logik« baut auf der sechs Jahre zuvor erschienenen »Phänomenologie des Geistes« auf, mit der ­Hegel erstmals die Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaften mit Hilfe der dialektischen Methode zu erklären versuchte. Sie ist »die ­wahre Geburtsstätte und das Geheimnis der Hegelschen Philosophie«, schreibt Marx in den Pariser Manuskripten über die »Phänomenologie«. Wahre Geburtsstätte ist sie, insofern sich in ihr die Betrachtung des menschlichen Bewusstseins als prozesshaft, als geschichtlicher Vorgang entwickelt.

Deren Ergebnis kommt allerdings erst in der »Logik« zum Vorschein. »Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz. Die Sache ist, ehe sie existiert; und zwar ist sie erstens als ­Wesen oder als Unbedingtes; zweitens hat sie Dasein oder ist bestimmt, und dies auf die betrachtete gedoppelte Weise: einerseits in ihren ­Bedingungen, andererseits in ihrem Grunde«, schreibt Hegel. Hier sieht Marcuse bereits das Fundament dessen, was später in der Entstehung der Gesellschaftstheorie zur vollen Entfaltung kommt.

Marcuse ist in wissenschaftstheoretischen Fragen von Marx und Lukács beeinflusst. Schon in den Aufsätzen vor 1932 wie auch später haben die Begriffe »Verdinglichung«, »Vergegenständlichung« und »gesellschaftliche Praxis« eine zentrale Bedeutung. Marcuse war einer der ersten, die die Ökonomisch-philosophischen Schriften von 1844, besser bekannt als »Pariser Manuskripte«, ­sowie den »Rohentwurf« lasen, dem Roman Rosdolsky später sein Hauptwerk »Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ›Kapital‹« widmete. Marx versuchte gerade in diesen ­Manuskripten darzulegen, wie menschliche Arbeit als Vergegenständlichung und Verdinglichung der Wesenskräfte des Menschen die entfremdete gesellschaftliche Wirklichkeit produziert.

In seiner Einleitung zu den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie«, dem bereits erwähnten »Roh­entwurf«, entwickelt Marx in Anschluss an Hegel bereits in komprimierter Form jene Gedanken, die für die Marx-Lektüre des »westlichen Marxismus«, also auch für »Vernunft und Revolution«, von zentraler Bedeutung sind. »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im ­Denken erscheint es daher als Prozess der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt (…) Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehen; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muss das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben.«

Marcuse geht auf die historischen, gesellschaftlichen Bedingungen ein, unter denen Hegel seine Theorie entwickelte: Dazu zählen die preußischen »Befreiungs­kriege«, die Heilige Allianz gegen Napoleon, die Schlachten von Leipzig und Waterloo und der sieg­reiche Einmarsch der Verbündeten in Paris.

Für Marcuse ist die Totalität fortan eine »negative«, worunter er versteht, dass sie noch nicht ihrem anzustrebenden Ausgang entspricht, der klassenlosen Gesellschaft als der wahren Totalität: »Die Analyse der herrschenden Form von Arbeit ist gleichzeitig eine Analyse der Voraussetzungen ihrer Abschaffung.« Die Marx’schen Kategorien seien »negativ und zur gleichen Zeit positiv: sie schildern einen negativen Zustand im Licht seiner positiven Aufhebung. (…) Das Wirkliche erweist sich als antagonistisch, aufgespalten in sein Sein und sein Sollen. Das Wirkliche enthält die Negation dessen, was es unmittelbar ist, als seine innerste Natur, enthält somit die Möglichkeit.« Das Allgemeine werde also erst aufhören, »als blinde Naturkraft sich durchzusetzen, wenn es den Menschen einmal gelungen ist, die verfügbaren Produktivkräfte ›der Macht der vereinigten Individuen‹ zu unterwerfen«, glaubt Marcuse mit Marx.

Ulrich Sonnemann, ein früher Adorno-Schüler, führt die Gedanken in seinem Buch »Negative Anthropologie« fort, das Ende der sechziger Jahre parallel zu Adornos Werk ­»Negative Dialektik« entstand: »Das Wahre ist das Ganze nicht – es will es durch den Menschen erst werden«. Er bezieht sich damit negativ auf Hegels berühmten Satz »Das Wahre ist das Ganze«, ebenso wie zuvor schon Adorno mit seiner Aussage »Das Ganze ist das Unwahre« aus seiner Aphorismensammlung »Minima Moralia«.

Sonnemann nennt seine Schrift eine »Vorstudie zur Sabotage des Schicksals«. Er spricht von einer »Theorie des Engagements« und der »Möglichkeit einer Macht im Geschehen«. Sonnemann nennt seine Anthropologie negativ, weil er den Menschen und die humane Gesellschaft ausschließlich als »Möglichkeit« begreift, deren Verwirklichung noch aussteht. Diese negative Dialektik unterscheidet sich fundamental von der Hegel’schen, sie bildet deren Antithese. Marcuse wendet sie auf den Vernunftbegriff an, wenn er schreibt: »Eine unmittelbare Einheit von ­Vernunft und Wirklichkeit besteht niemals. Die Einheit kommt erst nach einem langwierigen Prozess zustande, der mit der niedersten Ebene der Natur beginnt und hinaufreicht bis zur höchsten Form des Daseins, der eines freien und vernünftigen Subjekts, das im Selbstbewusstsein seiner Möglichkeiten lebt und handelt.« Vernunft fällt solange nicht mit der Wirklichkeit zusammen, wie die Befreiung der Menschen nicht realisiert ist. Das Ziel ist die klassenlose Gesellschaft und das emanzipierte, selbstbestimmte Individuum.

Ins Deutsche übersetzt wurde »Vernunft und Revolution« von Alfred Schmidt, dem Vertreter der zweiten Generation der »Kritischen Theorie«, der sich am ehesten in der Tradition Hegels und des westlichen Marxismus sah. Schmidt übernimmt Marcuses Analyse vor allem dort, wo es um die Dialektik als historische Methode geht. Seine später als »Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx« erschienene Dissertation, die er bei Adorno und Horkheimer einreichte, knüpft an diese Lesart an. »Das Wesen des Marxschen Materialismus wird so lange verfehlt, als man ihn bloß als innerphilosophische, gar weltanschauliche Alter­native zu einem wie immer gearteten Idealismus interpretiert. Er ist aber ebensosehr – freilich selbst noch philosophisch motivierte – Kritik und Aufhebung der Philosophie als Philosophie.«

Der Materialismus in Anschluss an Marx richtet sich folglich antithetisch gegen die Hegel’sche Ontologie: Das Sein wird im dialektischen Prozess, von der Erscheinung zum Wesen, erkennbar. Marcuse schreibt dazu: »Der Übergang von Hegel zu Marx ist in jeder Hinsicht der Übergang zu einer wesentlich anderen Gestalt von Wahrheit, die in den Begriffen der Philosophie nicht interpretiert werden kann. (…) Alle philosophischen Begriffe der Marxschen Theorie (sind) gesellschaftliche und ökonomische Kategorien, während Hegels gesellschaftliche und ökonomische Kate­gorien allesamt philosophische Begriffe sind. (…) Wir (können) sagen, dass in Hegels System alle Kategorien in die bestehende Ordnung einmünden, während sie sich im Marxschen auf die Negation dieser Ordnung beziehen.«

In seinem 1954 erschienenen Nachwort zur Neuauflage von »Vernunft und Revolution« zieht Marcuse eine pessimistische Zwischenbilanz: »Die Niederlage von Faschismus und Nationalsozialismus hat die Tendenz zum Totalitarismus nicht stillgelegt. Die Freiheit befindet sich auf dem Rückzug, sowohl auf dem Gebiet des Denkens als auch auf dem der Gesellschaft. Weder die Hegelsche noch die Marxsche Idee der Vernunft ist einer Verwirklichung nähergekommen (…) Von Anbeginn enthielten Idee und Wirklichkeit der Vernunft im modernen Zeitalter die Elemente, die ihr Versprechen eines freien und erfüllten Daseins gefährdeten: (…) die repressive Beherrschung der menschlichen und außermenschlichen Natur; die Entwicklung der menschlichen Anlagen innerhalb der Herrschaftsgefüges.«

Hier wird der Einfluss der Freud’­schen Psychoanalyse auf Marcuses Theorie sichtbar, ohne dass er den der Hegel’schen oder Marx’schen Gesellschaftstheorie überdeckt. In den kommenden Jahren wird Marcuse mit den Studien »Triebstruktur und Gesellschaft« und »Der eindimensionale Mensch« sowie dem Essay »Repressive Toleranz« Schriften veröffentlichen, die daran anknüpfen und die antiautoritäre Revolte dies- und jenseits des Atlantiks bis weit in die siebziger Jahre hinein beeinflussen sollten.

Im Juli 1967 sprach Marcuse auf Einladung des SDS im Audimax der FU Berlin vom »Ende der Utopie«. Dieser Titel war damals und ist auch heute noch dialektisch zu verstehen, wie die Gesellschaftstheorie in Anschluss an Hegel und Marx im All­gemeinen. Dass dies nicht alle so sahen, die sich in dieser Tradition wähnten, ist bekannt.

Marcuse liefert in »Vernunft und Revolution« eine radikale Kritik an den Vertretern des orthodoxen Kommunismus, wie er vor allem in der »Dritten Internationale« dominierte: »Diejenigen Schulen des Marxismus, die die revolutionären Grundlagen der Marxschen Theorie auf­gaben, waren dieselben, die die Hegelschen Aspekte der Marxschen Theorie, besonders die Dialektik, offen ablehnten.«

Es ist der blinde Fortschrittsglaube des Bolschewismus, aber auch der Sozialdemokratie, den Marcuse und seine Mitstreiter gegen eine ihrer Dialektik beraubten Hegel-Interpretation fortan kritisieren. Es ist die Ab­sage an einen scheinbar natürlichen, teleologischen Lauf der Geschichte, der auch zur Rechtfertigung des roten Terrors herangezogen wurde. »Mit der Verwerfung der Dialektik verfälschten die Revisionisten die Natur der Gesetze, die Marx in der Gesellschaft walten sah. Wir erinnern uns der Marxschen Ansicht, dass die ­Naturgesetze der Gesellschaft die blinden und irrationalen Prozesse der kapitalistischen Produktion zum Ausdruck brächten, und dass die ­sozialistische Revolution eine Emanzipation von diesen Gesetzen mit sich bringen sollte. Im Gegensatz dazu verfochten die Revisionisten, dass die gesellschaftlichen Gesetze ›Naturgesetze‹ sind, die die unvermeid­liche Entwicklung zum Sozialismus garantieren.« Dass später, nach dem Ende des real existierenden Sozialismus, die Verteidiger einer vermeintlich »offenen Gesellschaft« mit Bezug auf Hegel das Ende der Geschichte ausrufen – wie Francis Fukuyama –, wirkt wie ein Treppenwitz der Geschichte.

Einen Abschied von der Dialektik erkennt Marcuse auch in Teilen der antiautoritären Protestbewegung. 1970 hielt er einen Vortrag mit dem Titel »Reason and Revolution Today«. Auch in seiner 1972 erschienenen Schrift »Konterrevolution und ­Revolte«, mit der Marcuse durchaus an »Vernunft und Revolution« anknüpft, kritisiert er den »unangebrachten Radikalismus« und »Antiintellektualismus« von Teilen der Studentenbewegung und diagnostiziert eine »Revolte gegen die Vernunft per se«. Ein halbes Jahrhundert später scheinen Überlegungen zur Synthese von Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis und eben Vernunft und Revolution sehr fern zu liegen. Nicht nur Hegel wäre verwundert.

Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution. Aus dem Englischen von Alfred Schmidt. Suhrkamp, Berlin 2020, 399 Seiten, 24 Euro