Neue Fernsehformate von Ferdinand von Schirach

Erst die ARD, dann das ganze System

Die preisgekrönte Reportage Von Leo Fischer

Ferdinand von Schirach krempelt Fernsehen und Justiz um.

»Och, Herr Eidinger! Könnten Sie bitte das Wort ›Tod‹ ein bisschen mit ­Pathos aussprechen? Mit Schmackes? Als würde es hier wirklich um was gehen? Alle, noch mal bitte!« Spannende Szenen ereignen sich hier am Set von »Staat«, dem neuen interaktiven Mitmach-Film von Choose-your-own-adventure-Autor und Volksanwalt Ferdinand von Schirach. Vier Jahre ist es her, dass »Terror« in der ARD lief, gerade erst war das Sterbehilfe-Drama »Gott« zu sehen. Die Gerichtsshow mit Zuschauer-Voting ist auch das Genre, in dem »Staat« sich bewegt. »Ein unglaubliches ethisches Dilemma«, sagt der Regisseur Lars Kraume in einer Dreh­pause, als sein Hauptdarsteller Lars Eidinger mit einer Assistentin erneut die Aussprache des Wortes »Tod« einüben muss. »Die Frage unseres Films ist: Darf man einen Hartz-IV-Betrüger, der beim Rewe einen Pfandbon gestohlen hat, ohne Prozess nach Syrien abschieben?«

Wie schon bei »Gott« wird das Ganze als fiktiver Gerichtsprozess inszeniert, mit Eidinger in der Rolle des Supermarktleiters Harald Lieb, Ulrich Matthes als Ethikrat und ­Veronica Ferres als Pfandbon. »Wir sind uns natürlich alle einig, dass der Diebstahl hart bestraft werden muss – nur wie hart, darüber muss abgestimmt werden«, sagt Kraume. Deswegen ist er so stolz auf das ­Televoting: »Über 80,2 Prozent der abstimmenden ARD-Zuschauer sind für die Todesstrafe. Obwohl es in unserem Voting gar nicht darum ging!«

Gerade in Coronazeiten sei es für die ARD oft nicht einfach, aktuelle politische Debatten auf das von ihren Talkshows gewohnte Niveau des Grundkurses Gemeinschaftskunde herunterzubrechen. »Die Leute wollen aber vom Fernsehen das Gefühl kriegen, beliebig komplexe Themen auf einfache Ja-nein-Fragen herunterbrechen zu können. Früher haben wir das mit der Nachbesprechung vom ›Tatort‹ gemacht: Erst bringt im Krimi einer wen um, und dann sagt Wolfgang Bosbach, ob er das nachvollziehen könne. Da sind unsere Mitmach-Gerichtsshows deutlich kostengünstiger! Und kürzer.«

Kommendes Jahr erscheint aus der Feder von Schirachs »Anti«, das Drama der jungen Anita W., die von Linksextremisten in den Wald gelockt wird, um dort gegen Abholzung zu demonstrieren. »Wieder können die Zuschauer abstimmen: Soll Anita dafür ins Gefängnis, oder reichen Sozialstunden?« Mit etwas Glück, hofft Kraume, könne diese Art Voting bald auch Rechtsprechung und Gesetzgebung beschleunigen: »Wir vom Fernsehen sind froh, wenn wir der Gesellschaft auch mal was zurückgeben können.

 

Aus der Urteilsbegründung: Leo Fischers preisgekrönte ­Reportagen sind in hohem Maße fiktiv. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Geschehnissen sind unbeabsichtigt.