Eine (Selbst-)Reflektion zum Pro-Contra-Format

Für den zivilisierten Streit

War früher echt mehr sinnvolle Debatte? Wird es schwieriger, rationale Argumente über kontroverse Themen auszutauschen? Trägt Zuspitzung zur Wahrheitsfindung bei? Die beiden ehemaligen »Jungle World«-Redakteure Federica Matteoni und Ivo Bozic reflektieren über den Sinn des von ihnen jeweils eine Zeitlang betreuten Disko-Ressorts.

Zugespitzte Streitkultur

Früher, als Redakteur, habe ich Autorinnen und Autoren immer ermutigt, starke Meinungen zu formulieren. »Lieber eine falsche steile These als gar keine steile These«, habe ich oft gesagt. Doch in den vergangenen Jahren hat unter dem Einfluss der sozialen Medien der Krawall fast vollständig den Diskurs übernommen. Menschen mit einer anderen als der eigenen Meinung werden diskreditiert und denunziert, an steilen Thesen mangelt es nicht, doch fördern sie eher Feindseligkeit als Austausch.

Also lieber eine neue sachliche Streitkultur aufbauen, statt zugespitzte Kritik üben? Gerade in digitalen Filterblasen, wo man sich vor allem unter Gleichgesinnten bewegt, ist es wichtig, verschiedene Meinungen und Perspektiven abzubilden und die Debatte anzuregen, und das heißt auch zuzuspitzen. Pro-Contra-Diskussionen, jedenfalls so, wie sie in der Jungle World geführt werden, haben nicht den Zweck, zu polarisieren und in einem Showdown zu enden. Im ­Gegenteil, sie öffnen ein Diskursfeld, grenzen es aber auch gegen das Indiskutable ab.

Derzeit erleben wir eine bizarre ­Situation. Die einen sagen: Hört auf die Wissenschaft! Wer sich gegen »die Wissenschaft« stellt, wird angegriffen; vergessen wird dabei allerdings gerne auch alles, was Linke einst an notwendiger Wissenschaftskritik entwickelt haben. Auf der anderen Seite leben nicht wenige Menschen in einer postfaktischen Wahnwelt: Impfangst, ­Esoterik, Verschwörungsmythen boomen. Drum gelten Fakten unter Auf­geklärten als wichtigste Währung – nur: zu viele sollen es auch nicht sein!

Ein Beispiel: Nehmen wir an, Sie müssten einen Pro- oder Contra-Beitrag zu den Protesten gegen den Ausbau der Autobahn 49 durch den Dannenröder Forst schreiben. Klingt einfach: Bäume gut, Autos böse, oder andersrum, fertig. Aber müsste man nicht seriöserweise ein wenig mehr in die ­Materie einsteigen? Da geht’s dann los: Wissen Sie wirklich, ob es bei dieser Auseinandersetzung um den Wald geht oder ums Klima? Wenn es der Wald ist, warum gibt es keine Proteste dagegen, dass in Hessen ein Vielfaches mehr an Waldflächen für Windkraftanlagen gerodet wird? Und wenn es das Klima ist, ob der Wald abgeholzt werden dürfte, wenn alle Autos elektrisch fahren und wenn ersatzweise doppelt so viele Bäume gepflanzt wie gefällt würden? Weiter: Welche Tier- und Pflanzenarten sind betroffen, wie bedroht sind diese? Welche Ausgleichsmaßnahmen sind vorgesehen? Wie viel CO2 würde eingespart, weil sich Strecken verkürzen, und wäre das mehr oder weniger, als der Ausbau der Autobahn zur Folge hätte? Was passiert mit dem Holz der geschlagenen Bäume? Davon hängt ja ab, ob die ­Rodung CO2 freisetzt. Wie viele Dorfbewohner sind bisher von Ortsdurchfahrten betroffen? Warum müssen Menschen aus Kassel überhaupt nach Gießen? Wissen Sie, ob für Bahntrassen weniger Wald vernichtet wird, als für Straßen? Und nicht zuletzt: Wer sind die Akteure auf beiden Seiten? Man möchte sich ja nicht mit den falschen Leuten gemein machen.

Müsste man nicht das alles und noch viel mehr wissen, um da mitreden zu können? Dazu müsste man verschiedene Quellen überprüfen. Und wenn man das alles endlich weiß, sieht man dann womöglich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr? Macht uns das wirklich schlauer? Und lähmt das nicht jeden Protest? Reicht es nicht, wie es Linke in solchen Fällen gerne tun, einfach laut »Kapitalismus!« zu rufen? Oder ist das bei einem vom Staat in Auftrag gegebenen Bau einer Straße, der gegen den Willen des privaten Waldeigentümers erfolgt, wenig zielführend? Fakten allein, das sieht man hier, ­reichen nicht, man muss sie vernünftig in einen Zusammenhang bringen können.

Kurzum: Eignet sich ein solch ­komplexes Thema für eine knackige, steile These, beziehungsweise zwei in einer Pro- und Contra-Diskussion? Ja! Denn ob Sie einen differenzierten Text verfassen, in dem diese oder andere Punkte sachlich von allen Seiten beleuchtet werden, oder ob Sie meh­rere Autorinnen ihre – gerne guten – Argumente gegeneinander vorbringen lassen, erfüllt letztlich denselben Zweck: Leser werden motiviert, einen eigenen kritischen Blick auf die Debatte zu entwickeln. Mehr kann man von einem »Disko«-Besuch nicht erwarten.

Von Ivo Bozic

 

Außerhalb der Blase

»Ahnung ist etwas für Leute, die keine Meinung haben.« Das stand auf einem Zettel, der jahrelang im Zimmer des Disko-Ressorts an der Wand hing. Der Satz stammt aus dem vergangenen Jahrhundert, so viel sei verraten, aus der Zeit des großen Richtungsstreits innerhalb der Linken, als die neugegründete Jungle World daranging, eine unabhängige, ideologiekritische Plattform für linke politische Diskussionen anzubieten.

Als ein Medium, das kritisch in linke Debatten intervenieren will, bildet auch diese Zeitung in ihren Artikeln und Berichten vergleichsweise viel Meinung ab. Richtig gekämpft wird dann aber hier, auf der Disko-Seite, die von Anfang an als eine Art Boxring für linke Positionen fungierte. Man hätte dieses Ressort »Meinung« oder »Debatte« nennen können, doch die Gründerinnen und Gründer entschieden sich für diesen viel passenderen Namen, glich die Entstehungsgeschichte dieser Zeitung doch eher einem Pogotanz als einem ruhigen Austausch zwischen divergierenden Positionen.

Für ein Ressort namens »Disko« ­redaktionell einige Jahre verantwortlich zu sein und das noch dazu in der Wochenzeitung der (selbsternannten) hedonistischen Linken, hatte natürlich einen ziemlich großen Coolness-Faktor. Einfach war es aber nie, dieses Ressort zu betreuen. Ausnahmen bildeten die Themen, bei denen Meinungsverschiedenheiten angeblich am leichtesten auszuhalten sind. Kulinarische Themen zum Beispiel: Über finnischen Blaubeerkuchen, Craft Beer und belgische Pommes wurde auf der Disko-Seite leidenschaftlich diskutiert. Dasselbe gilt für wichtige Lifestyle-Fragen wie Skateboard versus Longboard, die Abscheulichkeit von Doppelrippschlüpfern oder die Vor- und Nachteile des Aufräumens nach der Methode von Marie Kondō.

Zwischen den längeren Debatten über die großen gesellschaftlichen und politischen Fragen sind solche »leichten« Pro-Contra-Diskos nicht nur als inhaltliche Abwechslung gedacht, sie sind auch eine Erinnerung daran, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen – was übrigens für beide Seiten gilt: die der Leser und die der Blattmacherinnen. Die »kleinen« Themen standen nie im Gegensatz zu den »großen«, sie ­wurden aber immer häufiger, wie ein Rückblick auf 20 Jahre Disko zeigt.

Nun könnte dabei der Eindruck entstehen, der Boxring-Charakter dieser Seite sei etwas verloren gegangen, die Positionen seien weicher, die Debatten ­diffuser geworden. Das liegt weniger daran, dass die Lust am Diskutieren vergangen ist, sondern eher daran, dass viele »unserer« Themen im Mainstream angekommen sind: Kritik an Rassismus, Antisemitismus, Religion, Sexismus, Identitäts- und Klassenpolitik. In einigen Fällen hat die Jungle World auch ganz schön dazu beigetragen, etwa bei der Analyse von »Israel-Kritik« als Ausdruck des modernen Antisemitismus. Was aber jetzt tun, ohne exklusiven Zugang zu diesen Themen? Es bleibt kompliziert.

Es gab vielleicht eine Zeit, in der diese Zeitung zu den Gatekeepern linker Diskurse zählte – diese ist allerdings vorbei. Und das ist gut so, denn darin liegt die Chance, auch außerhalb bestimmter politischer, ideologischer und identitärer Blasen wahrgenommen zu werden, sprich, Menschen zu erreichen. Man muss sich aber immer bewusst sein, für wen man Debatten zugänglich macht und vor allem mit welchem Ziel. Über ziemlich jedes Thema kann man eine Pro- und eine Contra-Position herausarbeiten, die Frage ist aber: Sollte man das auch tun, nur, weil diese Positionen einfach vorhanden sind?

Wie das nicht geht, zeigte beispielsweise die Zeit im Juli 2018, mit einem Pro- und einem Contra-Beitrag über die Frage, ob es legitim sei, dass private NGOs in Seenot geratene Flüchtlinge retten, Überschrift: »Oder soll man es lassen?« In den Beiträgen wurde nicht dafür argumentiert, Flüchtlinge ertrinken zu lassen, die zugespitzte Fragestellung und die Aufmachung erweckten jedoch den Eindruck, dass Menschenrechte relativiert würden. Die Kritik, vor allem in den sozialen Medien, war scharf, die Redaktion entschuldigte sich, die Nominierung des Beitrags für einen Preis wurde zurückgezogen.

Es ist eine Frage der Haltung: Es gibt Debatten, die nicht geführt werden. Für die Disko-Seiten der Jungle World war das nie anders.

Von Federica Matteoni