Die deutsche Pandemiestrategie

Die Strategie krankt

Die »Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder« hat sich in der Pandemie zu einem ­zentralen Entscheidungsgremium entwickelt. Ihre Strategie hat zum derzeitigen Infektionsgeschehen beigetragen.

Die Covid-19-Pandemie wirkt sich in Deutschland nicht nur auf das Gesundheitswesen, die ökonomische Situation und die politische Stimmung aus. Sie hat auch zu institutionellen Besonderheiten geführt. Die »Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder«, die seit dem Frühjahr mal per Telefon, mal per Video abgehalten wird, hat im Lauf des Jahres wiederholt umfassende exekutive Maßnahmen beschlossen.

Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) gibt es als ständige Einrichtung seit 1954; einen eigenen verfassungsrechtlichen Status hat sie nicht. Sie dient den Ländern dazu, untereinander eine koordinierte Politik auszuhandeln und gegenüber dem Bund gemeinsam auftreten zu können. Ihre Beschlüsse sind informell und nicht bindend.

Während das Freizeitverhalten der Bürger detailliert geregelt werden soll, findet sich im jüngsten Pandemiebeschluss zur Arbeitswelt nur ein kleiner Passus.

Die MPK ist geprägt von der mal stärkeren, mal weniger intensiven Konkurrenz der Bundesländer. Diese zeigte sich in den vergangenen Monaten ­unter anderem im Streit der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten über Lockerungen oder Verschärfungen der pandemiebedingten Beschränkungen des Wirtschaftslebens. Um auch zwischen Bund und Ländern abgestimmte Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu beschließen und die Konkurrenz der Bundesländer einzuhegen, entstand die »Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder«. Diese hat sich in der Pandemie zu einer Art Exekutivgremium entwickelt.

Die Konferenz trat im März zum ersten Mal zusammen und beschloss die Verhängung des ersten sogenannten lockdown. Ab April koordinierte sie die Lockerungen der verhängten Beschränkungen, im Sommer entschied sie unter anderem über die Testpflicht für Reisende, die Einführung eines bundesweit einheitlichen Bußgeldes bei Verstößen gegen die Maskenpflicht und das Verbot von Großveranstaltungen. Ende Oktober vereinbarten die Beteiligten, den lockdown light zu verhängen, der durch die Schließung von Kultureinrichtungen und Betrieben der Unterhaltungsindustrie die Verbreitung des Virus einschränken sollte.

Oberstes Ziel der Konferenz war es im Herbst, einen »harten lockdown« zu verhindern. Schulen und Kindertagesstätten sollten geöffnet bleiben, denn der mit einer Schließung einhergehende Ausfall von Eltern als Arbeitskräften hätte den regulären Betrieb in zentralen Wirtschaftsbereichen gefährdet. Ab Mitte November stagnierte die ­Anzahl der registrierten Infektionen, doch in der zweiten Dezemberwoche stiegen die Fallzahlen erneut an. Hatten Ärztinnen und Gesundheitspolitiker zuvor davor gewarnt, die Kapazitäten des Gesundheitswesen würden knapp, meldeten nun auch mehr und mehr Kliniken, dass sie überlastet ­seien und keine weiteren Patientinnen und Patienten aufnehmen könnten. Damit wurde das Scheitern der bis dahin verfolgten Strategie offenkundig. Die Annahme, man werde auch ohne strengere Restriktionen glimpflich durch den Winter kommen, erwies sich als nicht haltbar.

Am 13. Dezember einigten sich die Bund-Länder-Konferenz auf schärfere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Diese mussten innerhalb von drei Tagen durch inhaltsgleiche rechtliche Regelungen zum Beispiel in den Eindämmungsverordnungen der Länder verhängt werden. Demnach sollen die bereits zuvor bestehenden Beschränkungen mindestens bis zum 10. Januar verlängert werden. Private Treffen sind bis dahin höchstens für bis zu fünf Personen über 14 Jahren aus nicht mehr als zwei verschiedenen Haushalten zulässig. Diese Regel wird nur für die Zeit vom 24. bis zum 26. Dezember etwas gelockert. Der Einzelhandel wurde bis auf Geschäfte für Waren des täglichen Bedarfs und den Weihnachtsbaumverkauf geschlossen, Gleiches gilt für Dienstleistungsbetriebe aus dem Bereich der medizinisch nicht notwendigen Körperpflege wie Friseursalons, Kosmetikstudios und Massagepraxen. Die Schulen sollen bis zum 10. Januar geschlossen bleiben oder Fernunterricht halten. Auch die Kindertagesstätten sind nicht geöffnet.

Gerade bei der Schließung von Geschäften und Bildungseinrichtungen wird die Funktion der Konferenz deutlich. Zu Beginn der Pandemie, während des ersten sogenannten lockdown, regelten die Bundesländer diese Bereiche jeweils selbst. So unterschied sich von Land zu Land, ob beispielsweise Möbelhäuser öffnen durften oder bis wann die Schulen geschlossen blieben.

Doch die Konferenz beschloss am 13. Dezember nicht nur einheitliche administrative Maßnahmen, sondern suspendierte auch demokratische Grundrechte. »Am Silvestertag und Neujahrstag wird bundesweit ein An- und Versammlungsverbot um­gesetzt«, heißt es lapidar in dem Beschluss. Diese Regelung soll verhindern, dass sich größere Menschenmengen zum Feiern treffen. Sie hebt aber auch die Versammlungsfreiheit auf. Damit wird ein Grundrecht, dem verfassungsrechtlich eine besondere Bedeutung für die demokratische Willensbildung zugeschrieben wird, temporär außer Kraft gesetzt.

Noch etwas ist bemerkenswert am jüngsten Bund-Länder-Beschluss: Während das Freizeitverhalten der Bürgerinnen und Bürger kleinteilig ge­regelt und mit Strafandrohungen gelenkt werden soll, findet sich zur ­Arbeitswelt – abgesehen von verstärkten Schutzmaßnahmen in Alten- und Pflegeheimen – nur ein kleiner Passus: ­»Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden dringend gebeten zu prüfen, ob die Betriebsstätten entweder durch Betriebsferien oder großzügige Homeoffice-Lösungen vom 16. Dezember 2020 bis 10. Januar 2021 geschlossen werden können, um bundesweit den Grundsatz ›Wir bleiben zu Hause‹ umsetzen zu können.« Kein Wort ist jedoch zu finden zum Beispiel zu verbesserten Schutzvorkehrungen an Arbeitsplätzen in der Produktion. Ebenso wenig enthält der Beschluss Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Entlohnung der Beschäftigten im Gesundheitswesen, Bund und Länder danken diesen lediglich »ganz besonders«.

Dank ergeht auch an die »vielen Unternehmen, die in dieser schwierigen Zeit mit großer Flexibilität und Kraft den enormen Herausforderungen trotzen«, betroffenen Firmen sichert die Konferenz Unterstützung zu. Das sind nicht nur leere Worte. Der am 11. Dezember beschlossene Bundeshaushalt für das Jahr 2021 stellt knapp 40 Milliarden Euro für direkte Unterstützungszahlungen an Unternehmen bereit, bei einer Neuverschuldung von 180 Milliarden Euro in Abkehr vom Dogma der »schwarzen Null«.

So dient auch der »harte lockdown« vorrangig dem Ziel, den Betrieb der für den Standort Deutschland relevanten Wirtschaftsbereiche zu sichern. Dass es gerade die kurzsichtig auf das Wohl des Wirtschaftsstandorts fixierte Politik war, die maßgeblich zu dem sich derzeit in Krankenhäusern und Altenheimen abspielenden Drama beigetragen hat, ist, im Gegensatz zum Wahn der »Querdenker«, bisher jedoch kaum Gegenstand öffentlicher Debatten.