Bert Rebhandls Biographie über Jean-Luc Godard

Permanent revolutions­bedürftig

Im Dezember feierte Jean-Luc Godard seinen 90. Geburtstag. Pünktlich dazu veröffentlichte der Filmkritiker Bert Rebhandl eine Biographie. In der wird das Bild eines Filmemachers gezeichnet, der ständig zwischen Selbst- und Gegenaufklärung schwankte.

Auf die Frage, wer Jean-Luc Godard ist, lassen sich nur miteinander verkettete und widersprüchliche Antworten geben. Jean-Luc Godard, so könnte man sagen, ist heutzutage kaum mehr einfach Mensch oder Filmemacher, er ist zu einem ästhetischen Kaleidoskop an Texten, Bildern, Positionen und Zitaten geworden.

Einen Meilenstein der Filmgeschichte, »À bout de souffle« (»Außer Atem«), drehte er 1959 auf für den Spielfilm eigentlich untypischem, extrem lichtempfindlichem Geva-Filmmaterial. Irgendwann konnte Godard sich dann auch herkömm­lichen 35-mm-Film leisten. Später stieg er auf Video um. Wie der deutsche Untertitel seines frühen Films »Masculin féminin« (»Masculin – ­Feminin«, 1966) nahelegt, war auch Godard eines der »Kinder von Marx und Coca-Cola« und doch ein unverbesserlicher Bürgersohn aus protestantischem Schweizer Elternhaus. Zudem war er ein cinephiler Hollywood-Bewunderer, der zum cinephoben Amerika-Hasser wurde.

Durch alle Verwandlungen und formalen Häutungen in Godards Schaffensphasen spricht Rebhandl ihm ein konstantes Leitmotiv zu: die Macht der vorherrschenden Bilder zu brechen.

In Kurzfassung ist es die Geschichte eines jungen Filmkritikers der ­Cahiers du cinéma, der bald selbst hinter die Kamera trat und in den sechziger Jahren erst die Geburt und dann den Tod des Filmautors maßgeblich forcierte, in den Siebzigern nur mehr im Kollektiv drehen wollte und in den nachfolgenden Dekaden schließlich zum strukturalistischen Konstrukt wurde und auf seine Ini­tialen einschrumpfte: JLG.

Einer, der sich dieser »Jahrhundertchiffre« JLG angenommen hat, ist Bert Rebhandl, Filmkritiker bei der FAZ. Mit seinem Buch »Der permanente Revolutionär« hat er eine elegant formulierte und mutige, weil kompakte Perspektive auf Godards Leben und Werk ausgearbeitet. Rebhandl interessiert sich für Godard als Schlüsselfigur des Kinos, klassische Biographien über den Filmemacher gibt es genug. Durch alle Verwandlungen und formalen Häutungen in ­Godards Schaffensphasen spricht Rebhandl ihm ein konstantes Leit­motiv zu: die Macht der vorherrschenden Bilder zu brechen. Bilder des ­Kinos, Bilder des Fernsehens und Videobilder, in Godards Spätwerk finden sie sich alle reorganisiert zu einer multimedialen »Universal­poesie«.

Am 3. Dezember ist Godard 90 Jahre alt geworden. 2018 präsentierte er in Cannes seinen wohl letzten Essayfilm, »Le Livre d’image«. Die Pressekonferenz hielt er per Videoanruf mit dem iPhone ab. Im April vorigen Jahres tauchte er in einem Live-Interview bei Instagram auf, auf Youtube zeigt ihn ein kurzer Clip von 2013 vermutlich auf dem Weg zum Einkaufen. Man beachte, wie seine obligatorischen Sonnenbrillen und die Zigarren über die Jahre immer größer zu werden schienen, während der Mann dahinter immer schwerer auszumachen war. Sollte er wie einst Buster Keaton in »Sherlock, Jr.« eine Tür ­hinein in seine Bilderwelten gefunden haben, es würde nicht verwundern, wenn er darin verschwände.

Vermutlich ist Godard das bereits, unter Vorbehalt der Möglichkeit, sich dann und wann doch mal kurz ans Tageslicht zu begeben. So konstatiert zu Beginn von »Le Livre d’image« eine Stimme aus dem Off: »Orpheus has returned from the underworld.« Dann wird collagiert, kontrastiert und ein Keil zwischen Bild- und Tonebene getrieben, für Rebhandl eines der wichtigsten Werkzeuge von Godards filmischer Subversion. Godard, schreibt Rebhandl, setze »die Bilder an die Stelle der Sprache«. Gegen Ende von »Le Livre d’image« resümiert das Voice-over: »Die Erde ­verlassen, mit Buchstaben überladen, erstickend an Wissen und kaum noch ein Ohr zum Zuhören.« Dagegen wartet Godard mit einem der ­Romantik entlehntem Unendlichkeitsbild auf, nämlich mit der Aufnahme einer Meeresküste. Und immer wieder Großaufnahmen menschlicher Hände – Zeichensprache.

Rebhandl registriert aber auch, wie dieser Bildersprachler Godard sich im Laufe seiner Karriere wiederholt auf Irrwege verstieg. 1967 veröffentlichte er die schnell produzierte und eher unbekannte Kriminalkomödie »Made in U.S.A.«, eine seiner letzten Liebeserklärungen ans US-amerikanische Kino; die Figuren sind nach Regie-Mavericks wie Robert Aldrich und Don Siegel benannt. Danach wendete sich Godard von diesem Kino ab. »Fin de cinéma« lautet die Text­einblendung am Ende des 1967 erschienenen Films »Week-end« – ein Fanal.

Fortan wollte Godard nicht nur im Kinosaal Revolution machen, sondern auch vor dessen Pforten. Dass seine bisherigen Filme dazu bei­getragen hatten, den Weg in die Mai-Unruhen von 1968 zu ebnen, mag er wohl gespürt haben. Den Rolling Stones und der Aufbruchstimmung von 1968 widmete er im selben Jahr noch den experimentellen Dokumentarfilm »One Plus One«, Alternativtitel: »Sympathy for the Devil«.

Gleichwohl geriet Godard in den späten Sechziger begrifflich und ­politisch ins Schwimmen. Auf der Höhe der Revolte wusste er nicht mehr, welche Bilder es zu affirmieren und welche zu brechen gilt. Seinen ehemaligen Freund und Weggefährten François Truffaut, aus weniger behüteten Verhältnissen kommend als Godard, nannte er plötzlich in ­einem Brief einen Lügner, da Truffaut weiter am Erzählkino festhält. Seiner ehemaligen Hauptdarstellerin Jane Fonda neidete er ihr Engagement gegen den Vietnam-Krieg; sie ließ sich 1972 in Hanoi für ein Pressefoto ablichten, über das Godard den Film »Letter to Jane« machte.

Godard diente sich zudem der ­palästinensischen Fatah für ein Filmprojekt als Hofberichterstatter an. Das Ergebnis, 1976 als »Ici et ailleurs« fertiggestellt, assoziiert Bilder der ­israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir mit Photographien von Adolf Hitler. Traurige Ironie der Linken: Der politisch so ausgesprochen engagierte Godard fördert unter dem Pflaster keinen Strand zu Tage, sondern nur hasserfüllten Wahn.

Dass sich Godard in den Achtzigern, wie Rebhandl schreibt, vornehmlich als »Idiot des Kinos« inszenierte, grenzt da fast an späte Selbsterkenntnis. Aber nur fast. Noch in den neunziger Jahren plante ­Godard ein Fernsehinterview mit Claude Lanzmann, da hatte er allerdings schon in äußerst spitzer und polemischer Weise abschätzig über dessen Film »Shoah« (1985) gesprochen. Rebhandl seziert das alles ­detailreich und bezeichnet Godards Schaffen abschließend als mäandernd zwischen »Selbstaufklärung« und »Gegenaufklärung«.

Es mag der Begeisterung für den Filmemacher geschuldet sein, die es für ein solches Buchprojekt braucht, dass die Kritik an Godard dann doch etwas zu milde ausfällt. Dem Titel »Der permanente Revolutionär« folgend, erweist sich Godard selbst als chronisch aufklärungs- und revolutionsbedürftig: ein protestantischer Bürgersohn, der seinen Klassenhintergrund gerne eigenhändig exorziert hätte und sich deswegen immer heilloser im falschen Bewusstsein verstrickte.

Der Ausdruck »exorzieren« erweist sich in einer weiteren Hinsicht als treffend. Das Erzählkino, dem Godard ab 1967 weitestgehend den Rücken kehrte, war eine im besten Sinne profane Kunst. Sie entbehrte jeglicher Sakralität und konnte aus diesem Mangel ihre Radikalität schöpfen. Der spätere Godard wiederum folgte, so jedenfalls schrieb es Le Monde, einer »Religion des Bildes« – einem Credo, das im Dickicht von Ästhetik und Politik eher prob­lematisch denn progressiv ist. Denn heiliger Ernst als Basis für den ­Umgang mit Bildern offenbart doch meist nur eines: sympathy for the devil.

Bert Rebhandl: Jean-Luc Godard. Der ­permanente Revolutionär. Zsolnay, Wien 2020, 288 Seiten, 25 Euro