Nachruf auf Wolfgang Wippermann

Geschichte wird gemacht

Bibelfester Sozialist, Kritiker Ernst Noltes, Antifaschist: Wolfgang Wippermann war ein unkonventioneller Lehrer. Vor allem war er ein Historiker, der Geschichte als politische Praxis verstand.

Sommersemester 2005, das erste Mal im Seminar von Wolfgang Wippermann. Seinen Namen hatte man schon mal gehört, und bei Konkurrenzveranstaltungen mit Titeln wie »Hitlers Helfer: Joseph Goebbels« fiel die Entscheidung für sein Seminar auch nicht sonderlich schwer. Schnell wurde klar, dass man bei Wippermann tatsächlich etwas lernen konnte. Zur Seminarlektüre gehörte sogar Karl Marx – und das in der Geschichtswissenschaft! Wippermann referierte engagiert die »Bonapartismustheorie«, die Marx 1852 in seiner Schrift »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« entwickelt hatte. Demzufolge konnte Charles-Louis-Napoléon Bonaparte sein autoritäres Regime errichten, weil er ein Machtgleichgewicht zwischen Proletariat und Bourgeoisie mit Hilfe des Militärs, des Kleinbürgertums und des »Lumpenproletariats« auszunutzen verstand. Diese Anhängerschaft unterstützte seine Alleinherrschaft, solange er sie durch Sozialleistungen und bei staatlichen Infrastrukturmaßnahmen begünstigte und sie an der Beute expansionistischer Kolonial- und Raubkriege teilhaben ließ.

Sein Büro war leicht zu finden: Man musste nur dem Aroma des Pfeifentabaks folgen. Wippermann ignorierte das Rauchverbot; auch nach bestandener Prüfung durften alle rauchen und selbstverständlich auch Sekt trinken.

Ganz ähnlich, so Wippermann, hätten konservative und rechte Kreise lange vor dem 30. Januar 1933 die Weimarer Republik umgebaut. Spätestens mit dem »Preußenschlag«, der Absetzung der legalen preußischen Regierung unter dem Sozialdemokraten Otto Braun im Juli 1932 durch den Reichskanzler Franz von Papen, sei die Weimarer Republik erledigt gewesen, nicht erst mit der Machtergreifung der Nazis, die in Wirklichkeit eine Machtübertragung gewesen sei. Wippermann echauffierte sich über die Tatenlosigkeit von SPD und Gewerkschaften und ihr blindes Vertrauen, das Reichsgericht werde die Regierung von Papen schon noch zur Raison rufen.

So war die Geschichte der Weimarer Republik bisher eher nicht gelehrt worden! Zumeist wurde sie als »Kampf der Extreme gegen die bürgerliche Demokratie« gedeutet, ganz im Sinne der Totalitarismus- oder Extremismustheorien, die Wippermann entschieden ablehnte. Am Friedrich-Meinecke-Institut (FMI) der FU Berlin gab es nicht viele Lehrende, die Wippermanns Sicht teilten.

Sein Büro war leicht zu finden: Man musste nur dem Aroma des Pfeifentabaks folgen. Wippermann ignorierte das Rauchverbot; auch nach bestandener Prüfung durften alle rauchen und selbstverständlich auch Sekt trinken.

Im dritten Stock ging es vorbei an Büros, an denen die Namen jener Historiker standen, die sich wie Bernd Sösemann brüsteten, »rote Sümpfe trockengelegt zu haben«, und solchen, die zwar kaum am Institut gelehrt haben, mit denen sich die FU aber noch heute schmückt. Etwa Richard von Weizsäcker, der noch mit Stauffenberg telefoniert haben wollte und seinen Vater, der an der Deportation von Juden beteiligt gewesen war, in Nürnberg verteidigte. Oder Arnulf Baring, den ideellen Unterstützer der Jungen Freiheit, der oft genug die Shoah bagatellisierte.

Weiter hinten im dunklen Gang passierte man den Raum von Ernst Nolte. Der Philosoph und Historiker, der in dem 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Aufsatz »Vergangenheit, die nicht vergehen will« einen »kausalen Nexus zwischen dem Gulag und Auschwitz« konstruiert und damit den sogenannten Historikerstreit ausgelöst hatte, war in den siebziger Jahren der Doktorvater Wippermanns. Die Rela­tivierung des Holocaust kritisierte dieser mit Nachdruck, ohne Nolte als rechtsextreme Dumpfbacke abzutun. Das hätte auch kaum genügt, um Noltes Wirkmacht zu erklären, genauso wenig wie die Heideggers, bei dem Nolte seinerzeit Philosophie studiert hatte.

Wippermann hielt die Shoah für singulär. Er begründet dies mit Verweis auf die beispiellose Entrechtung und Verfolgung der Juden und den Vernichtungswillen der Nazis, der im Zweiten Weltkrieg oberste Priorität hatte, mit der zentralen, welterklärenden Rolle des Antisemitismus für den Nationalsozialismus, der industriellen Vernichtung sowie der schieren Zahl von über sechs Millionen jüdischen Todesopfern.

Die immer wieder aufgeworfene Frage, warum so viele Deutsche ­bereitwillig Millionen Juden ermordeten, beantwortete er wie vor ihm schon Léon Poliakov und Raul Hilberg: Sie taten es, weil sie es wollten. Wippermann verweigerte sich damit einer Auflösung der Taten in abstrakte Strukturen oder historische Zwangskausalitäten, die letztlich nur dazu dienten, die Täter zu entschuldigen.

Konsequent verteidigte er Mitte der neunziger Jahre die These des US-amerikanischen Politologen Daniel Goldhagen, der normale Deutsche sei ein williger Vollstrecker Hitlers gewesen, gegen die oft geifernde Kritik seiner Fachkollegen, die sich von dem »amerikanischen Doktoranden« (Hans Mommsen) die Deutungshoheit über deutsche Verbrechen nicht nehmen lassen wollten.

Wichtig waren Wippermann auch die Kritik des Antiziganismus und die Erforschung des Porajmos, des Genozids, den die Deutschen im Nationalsozialismus an über einer halben Million europäischer Roma begangen hatten. Die Erforschung der den Morden zugrundeliegenden Ideologie etablierte er an deutschen Universitäten.

Obwohl gewiss kein Anhänger dessen, was heutzutage politische Korrektheit genannt wird, ärgerte er sich maßlos, wenn über »Zigeuner« schwadroniert wurde – etwa während der Debatte über das Holocaustmahnmal, in der sich nicht nur der Hitler-Experte Eberhard Jäckel antiziganistischer Klischees bediente. Der Begriff »Zigeuner« sei immer die pejorative Fremd-, nie die Eigenbezeichnung von Sinti und Roma in Deutschland gewesen, betonte Wippermann mit Verweis auf unzählige Chroniken und Dokumente, die er in Archiven gesichtet hatte.

Wütend über die immer wieder ressentimentgeladene Relativierung des genozidalen Charakters des ­Porajmos und über das Herunterrechnen der Opferzahlen (zuletzt durch den amerikanischen Politologen Guenter Lewy), verstieg Wippermann sich in seinem Buch »Auserwählte Opfer? Shoah und Porajmos im Vergleich« zu der These, der Mord an den europäischen Roma sei sogar schlimmer gewesen als der Holocaust. Mit dieser Behauptung widersprach er seinen eigenen Arbeiten, die die Bedeutung des Antisemitismus als Welterklärungsideologie stets betont hatten.

Wippermann war alles andere als ein Freund der DDR und ihrer Apologeten, dennoch kritisierte er die anhaltende »Dämonisierung durch Vergleich« mit dem NS-Staat und den grassierenden Antikommunismus, gerade des zweifelhaften »Forschungsverbunds SED-Staat« an der FU.

Der bibelfeste Sozialist mit SPD-Parteibuch, der auch schon mal selbst auf die Kirchenkanzel stieg, gab der Geschichte eine Theorie und eine Bestimmung: Es ging ihm um die Kritik der Missstände und die Dokumentation und Analyse vergangener Verbrechen, nicht einfach darum, Forschungslücken zu schließen.

Wippermann arbeitete interdis­ziplinär, ohne es ausdrücklich zu betonen. Geschichtswissenschaft speiste sich bei ihm immer auch aus Poli­tologie und Soziologie und ­umfasste Ideologie-, Ideen-, Sozial-, Personen- und Ereignisgeschichte. Er publizierte mindestens 34 Bücher und unzählige Artikel, die unterschiedlichste historische Themen zum Inhalt hatten: vom Ordensstaat der Deutschritter über die Hunde der Deutschen zu Verschwörungstheorien bis hin zum Teufelsglauben und zur Kritik des Protestantismus, allen voran Martin ­Luthers.

Nicht zuletzt war er sich auch für die direkte antifaschistische Aktion nicht zu schade: Als auf einer Seminarfahrt zur KZ-Gedenkstätte ­Buchenwald ein Nazi das Zugabteil betrat, setzte sich Wippermann ­demonstrativ zu ihm, schimpfte lautstark über »Nazischweine« und blies ihm die ganze Fahrt über seinen Pfeifenrauch ins Gesicht.

Im Universitätsbetrieb und den faden wissenschaftlichen Debatten wird Wolfgang Wippermann schmerzlich fehlen.

 

Alex Carstiuc ist Historiker und hat von 2005 bis 2010 bei Wolfgang Wippermann Geschichte studiert. Er arbeitet zu den ­Themen Antisemitismus, Nationalsozialismus und frühe Shoah-Forschung und ist Mitübersetzer von Léon Poliakov, Pascal Bruckner und Caroline Fourest. Gerade übersetzt er das Buch »1945. La découverte« von Annette Wieviorka für die Edition ­Tiamat ins Deutsche.