Die Ermittlungen gegen einen Polizei­beamten im Todesfall Amad A. wurden eingestellt

Fahrlässig im Dienst

Im Jahr 2018 starb der damals 26jährige Syrer Amad A. an den Folgen eines Brandes in der Justizvollzugsanstalt Kleve. In der Zelle saß er wegen einer Verwechslung. Nun wurden auch die letzten noch laufen­­den Ermittlungen gegen einen Polizeibeamten eingestellt.

Der 6. Juli 2018 war ein schöner Sommertag. Es war der letzte, den Amad A. in Freiheit verbrachte. Er soll damals an einem Baggersee in der Nähe der nordrhein-westfälischen Stadt Geldern mehrere junge Frauen belästigt haben, darunter die Tochter eines Polizeibeamten, die ihren Vater alarmierte. Streifenbeamte nahmen den jungen Mann daraufhin auf die Wache mit, um seine Personalien zu kontrollieren. A. hatte keinen Ausweis dabei. Anhand seiner Fingerabdrücke konnten ihn die Beamten jedoch identifizieren. Als sie seinen Namen in eine Datenbank eingaben, fanden sie einen offenen Haftbefehl vor. Der richtete sich zwar gegen Amedy G., aber dieser habe nach Angaben der Polizei »Amad A.« als Aliasnamen genutzt.

Mit der Einstellung aller Ermittlungsverfahren gegen die Polizeibeamten im Fall Amad A. will sich der Anwalt der Eltern nicht zufriedengeben.

Bereits ein kurzer Blick in die Akte von Amedy G. hätte gezeigt, dass es sich bei dem jungen Mann auf der Wache nicht um den Gesuchten handelte: Amedy G. ist 1,80 Meter groß, Amad A. brachte es nur auf 1,72. Amad A. war in Syrien geboren, Amedy G. kommt aus Mali. Amedy G. ist schwarz, Amad A. war es nicht.

Gegen Amad A. lag kein Haftbefehl vor. Doch zwei Monate lang wurde er in der Justizvollzugsanstalt Kleve festgehalten. Dann kam es unter ungeklärten Umständen in seiner Zelle zu einem Brand. An den Folgen der dabei entstandenen Verletzungen starb der junge Syrer am 17. September 2018 (Ein Toter und viele Fragen).

Sven Wolf ist Landtagsabgeordneter der SPD in Nordrhein-Westfalen und der stellvertretende Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der seit Dezember 2018 den Tod von Amad A. untersucht. »Der Fall hat eine ganz besondere Tragik«, sagt Wolf im Gespräch mit der Jungle World. »2016 floh A. nach Deutschland, nachdem er in Syrien in Haft gesessen war, ohne zu wissen warum. In Nordrhein-Westfalen passierte ihm dann dasselbe und er starb nach einem Zellenbrand im Gefängnis.« Zwei Dutzend Polizisten und Vollzugsbedienstete hätten die Akte in der Hand gehabt; hätte sie sich nur einer etwas genauer angeschaut, wäre klar geworden, dass der falsche Mann in Haft ge­sessen habe, so Wolf. »Zu die­sem Ergebnis kam auch das Landeskriminalamt in seiner Auswertung.«

Ende Juli 2018 rief eine Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Braunschweig, die nach Amedy G. suchte, bei der Kreispolizeibehörde Kleve an, um die Daten aus der erkennungsdienstlichen Behandlung des Inhaftierten abzufragen. Während des Telefonats kam sie zu dem Schluss, dass der Mann in der Zelle nicht die gesuchte Person war. Amad A. wurde trotzdem nicht freigelassen. Der Beamte, der den Anruf entgegengenommen habe, sagt Wolf, sei dadurch aufgefallen, dass er sich große Mühe gegeben habe, gegen Amad A. zu ermitteln.

Doch das hat nach Ansicht der Ermittler nichts mit dem Verfahren gegen den Polizisten zu tun: In einer Anfang Februar erschienenen gemeinsamen Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Kleve und der Polizei Krefeld wird zwar bestätigt, dass die Staatsanwältin aus Braunschweig dem Polizisten am Telefon sagte, dass Amad A. nicht der Gesuchte und nicht identisch mit der im dortigen Verfahren angeklagten Person sei. Doch die Behörden schreiben weiter: »Indes steht nicht fest, dass auch dem Polizeibeamten aufgrund des Gespräches und der ihm im Übrigen vorliegenden Informationen die Personenverwechslung bewusst war.« Deshalb hat die Staatsanwaltschaft Kleve das Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung gegen den Polizisten eingestellt. Zudem hatten die Behörden auch wegen des Verdachts der Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags gegen den Beamten ermittelt. Dieser hatte den Anruf der Staatsanwältin in seiner Zeugenaussage nicht erwähnt. Doch nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Kleve ist nicht zu belegen, dass dies vorsätzlich geschah. Deshalb wurde auch dieser Vorwurf fallengelassen. Auch alle anderen Ermittlungen gegen weitere Polizisten waren bereits zuvor eingestellt worden.

Bis zum Sommer will der Untersuchungsausschuss, der Ende 2018 auf Betreiben der Grünen und der SPD ein­gesetzt wurde, noch Beweise sammeln. Dann soll in einem Abschlussbericht die politische Verantwortung geklärt werden. Große Unterschiede habe es bei den Reaktionen der nordrhein-westfä­lischen Regierung gegeben, sagt Wolf. »Während Innenminister Herbert Reul Fehler bei der Polizei einräumte und die Eltern des Verstorbenen um Entschuldigung bat, war Justizminister Peter Biesenbach zu solchen klaren Worten nicht bereit.« Beide Minister gehören der CDU an. »Ich bin gespannt, wie selbstkritisch sich die beiden Minister vor unserem Ausschuss zu dem Systemversagen in ihren Verantwortungsbereichen geben werden. Wir haben jede Menge Fragen dazu«, so Wolf.

Mit der Einstellung aller Ermittlungsverfahren gegen die Polizeibeamten im Fall Amad A. will sich der Kölner Rechtsanwalt Sven Tamer Forst nicht zufriedengeben.

Forst vertritt die Eltern des Toten und hat Beschwerde gegen die Einstellungen bei der Generalstaatsanwaltschaft in Düsseldorf eingelegt. »Die Staatsanwaltschaft sagt, sie hätte in keinem Fall einen Vorsatz erkennen können – nur fahrlässige Freiheitsberaubung ist nicht strafbar –, aber das sehe ich anders. Ein Vorsatz liegt schon vor, wenn der Eintritt eines Erfolges – hier die Inhaftierung einer falschen Person – für möglich gehalten und dies billigend in Kauf genommen wird, und das ist hier unserer Ansicht nach geschehen«, sagt er. Ein Aliasname sei kein Grund für eine Verhaftung, Amad A. und Amedy G. seien nicht zu verwechseln und die Ungereimtheiten so groß gewesen, dass die Beamten mit kleinstem Rechercheaufwand die unterschiedlichen Identitäten hätten erkennen müssen. »Der Haftbefehl lautete nur auf den Namen Amedy G. und war auch nur in einer von zwei Polizeidatenbanken notiert. Da muss man kontrollieren, ob irgendwo ein Fehler passiert ist.« Spätestens nachdem die Staatsanwaltschaft Braunschweig darauf hingewiesen habe, dass der Inhaftierte nicht der Gesuchte sei, hätten die Beamten tätig werden müssen, sagt der Anwalt. Alle Erklärungen der Polizei seien vollkommen unplausibel. Zu klären sei auch, warum der Brand, den Amad A. wohl in seiner Zelle gelegt habe, so spät bemerkt worden sei, dass er nicht mehr zu retten gewesen sei. Ein Motiv für das Verhalten der Polizei kann Forst nicht ausmachen. »A. war der Polizei vorher ein paar Mal aufgefallen. Vielleicht hat man sich gedacht: ›Dem tun ein paar Wochen Knast ganz gut.‹ Aber das ist alles Spekula­tion.«

Für die nordrhein-westfälische Landesregierung ist die Einstellung der Ermittlungen von Vorteil. Ein Verfahren gegen mehrere Polizeibeamte wegen Freiheitsberaubung in einem Fall mit tödlichem Ausgang käme für sie zur Unzeit. Der Skandal um die aufgeflogenen rechtsextremen Chats von Beamten des Polizeipräsidiums Essen ist noch nicht beendet (Beamte unter Verdacht), Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bereitet sich darauf vor, Kanzlerkan­didat zu werden, und Justizminister Biesenbach ist einer seiner möglichen, wenn auch nicht der wahrscheinlichste Nachfolger, sollte Laschet nach der Bundestagswahl im September ins Kanzleramt ziehen.