Im Gespräch mit Florian Hartleb, Politikwissenschaftler, über den Regierungswechsel und rechte Tendenzen in Estland

»Viele haben Angst, ins Visier der EKRE zu geraten«

Interview Von Martin Schröder

Seit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Jüri Ratas ist die rechtsextreme EKRE nicht mehr an der estnischen Regierung beteiligt. Doch der Erfolg dieser Partei ist Teil einer breiteren gesellschaftlichen Entwicklung.

Jüri Ratas überstand in den etwa 18 Monaten seiner Amtszeit als estnischer Ministerpräsident zahlreiche Skandale, meist ausgelöst durch die mit seiner Zentrumspartei koalierende rechtsextreme Partei EKRE. Am 13. Januar ist er überraschend zurückgetreten und hat damit die Regierung aufgelöst, der als dritte Partnerin die Partei Isamaa (Vaterland) angehörte. Was hat es damit auf sich?

Das war in der Tat überraschend. Bislang hatte Ratas alles dafür getan, um Ministerpräsident zu bleiben. Jetzt ­kamen drei Aspekte zusammen: Erstens stand am Tag nach dem Rücktritt die Entscheidung über ein von der EKRE initiiertes Verfassungsreferendum an, mit dem die Ehe als Verbindung von Mann und Frau definiert werden sollte. Dieses Referendum hat die Zentrumspartei, deren Vorsitzender Ratas ist, tief gespalten. Zweitens gibt es aktuell einen Korruptionsskandal, in den führende Politiker der Zentrumspartei verwickelt sind. Der Generalsekretär der Partei musste zurücktreten. Drittens hat Jüri Ratas offenbar einen Deal mit der Reformpartei gemacht und konnte so zumindest seine Partei als kleineren Partner in der Regierung halten. (Seit dem 26. Januar führt Kaja Kallas von der Reformpartei eine Regierung, der die Zentrumspartei als Koalitionspart­nerin angehört, Anm. d. Red.)

»Viele Menschen im ländlichen Raum Estlands glauben, dass ihnen ›Überfremdung‹ drohe, ohne dass überhaupt irgendwelche Ausländer da sind.«

Bei dem angesprochenen Korruptionsskandal geht es um einen mutmaßlich illegalen Corona-Nothilfekredit über 39 Millionen Euro für ein Immobilienprojekt in Tallinn. Einer der Geschäftsleute hinter dem Projekt hatte der Zentrumspartei kurz vor der Kreditvergabe 60 000 Euro gespendet. Ratas selbst wird aber nicht der Korruption beschuldigt.

Das stimmt, aber die Zentrumspartei ist ins Mark getroffen. Zahlreiche Entscheidungsträger mussten zurück­treten. Hinzu kommt die Zerrissenheit aufgrund des Ehe-Referendums. Ratas ist vor allem wegen dieser internen Probleme der Zentrumspartei zurückgetreten, nicht wegen der vorherigen Skandale, die seine Regierung verursacht hat.

Mit dem Rücktritt ist auch die Zeit der rechtsextremen EKRE in der Regierung vorbei. An der neuen Regierung ist sie nicht beteiligt. Ist das ein Rückschlag für die estnische Rechte?

Das hängt vom Blickwinkel ab. Die EKRE sieht sich selbst als Systemopposition, und da lässt es sich besser aus der Opposition heraus agieren. Sie wird sich jetzt als Opfer der liberalen Parteien und der estnischen Präsidentin Kersti Kaljulaid darstellen. Diese ist ihr Feindbild Nummer eins. Daher ist es nicht ausgemacht, dass die EKRE jetzt einen großen Rückschlag erleidet. Sie hat mittlerweile eine stabile Unterstützerschaft. Die anstehenden Kommunalwahlen in Estland werden zeigen, ob die Regierungskrise ihr geschadet hat.

Estland wird international hauptsächlich als Vorbild in puncto Digitalisierung wahrgenommen und vermarktet sich selbst auch gern als modernes Traumland der Start-up-Szene. Wie passt das mit den Erfolgen der extremen Rechten zusammen?

Da ist viel Marketing dabei. Gerade bei deutschen Delegationen, von denen ich einige begleitet habe, gilt Estland als eine Art Lourdes der Digitalisierung. In den letzten Jahren gab es zahlreiche Pilgerreisen solcher Delegationen aus Unternehmensverbänden und Behörden nach Estland. Aber letztlich ist die Digitalisierung ein Elitenthema für die kosmopolitische, technikaffine Szene. Digitale Verwaltung und Ähnliches sind hier in Estland inzwischen schlicht selbstverständlich und seit einer Generation Alltag und Normalität.

Aber mit Digitalisierung sind ja nicht unbedingt Werte verbunden. Es war vielleicht eine Hoffnung, dass damit auch bestimmte Werte Einzug halten, aber das ist letztlich nicht passiert. Vielmehr ist der Patriotismus, der hier nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit herrschte, in einen xenophoben, exklusiven Nationalismus ­gekippt.

Seit den neunziger Jahren galt Estland als sehr liberales Land. Hat sich das durch die Regierungsbeteiligung der EKRE verändert?

Wirtschaftlich lief die Transformation nach der Unabhängigkeit 1991 sehr ­erfolgreich. Das hat den zentralen gesellschaftlichen Konflikt zwischen ethnischen Esten und ethnischen Russen teilweise überdeckt. Der existiert bis heute, ist aber weniger stark als früher. Es gibt jetzt neue Konflikte und Feindbilder, die teilweise erst von der EKRE geschaffen wurden. Viele Menschen im ländlichen Raum glauben, dass ihnen »Überfremdung« drohe, ohne dass überhaupt irgendwelche Ausländer da sind. Während der Flüchtlingsherausforderung im Herbst und Winter 2015 kamen maximal 250 Flüchtlinge nach Estland. Viele sind dann auch schnell wieder weggegangen, nach Deutschland oder in andere Länder. Trotzdem wurde überall vor »Überfremdung« gewarnt und Angst geschürt. Im Jahr 2020 gab es nicht mal 50 Asylanträge im ganzen Land!

Ähnlich ist es mit der Frage der rechtlichen Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Ehen. Estland ist ein sehr unchristliches, atheistisches Land und diesbezüglich gar nicht mit Polen oder Ungarn zu vergleichen. Trotzdem wurde das zum großen Thema. Ich würde das alles als virtuelle Themen bezeichnen. Plötzlich wurden fiktive Probleme geschaffen, die im Grunde gar nicht existieren. Das ist das – in Anführungszeichen – Verdienst der EKRE, die diese Themen nicht nur kreiert hat, sondern es geschafft hat, dass sie als Themen von zentraler Bedeutung für die estnische Gesellschaft akzeptiert wurden. Wie viele andere Beobachter denke ich aber, dass EKRE-Positionen im Grunde schon vor deren Regierungsbeteiligung 2019 den politischen Diskurs bestimmt haben.

Welche anderen Organisationen oder Strukturen prägen die extreme Rechte in Estland?

Zuerst einmal muss man sagen, dass die EKRE als in der Mitte der Gesellschaft stehend gesehen wird. Insofern gibt es kaum inhaltliche Abgrenzungen zu ihr als rechter Partei. Man kann die Partei als Zentrum einer neuen sozialen Bewegung von rechts begreifen, als Teil eines breiteren gesellschaftlichen Entwicklung nach rechts, der zum Teil eine Reaktion auf ungelöste Identitätskonflikte ist. Die EKRE und zahlreiche Schatten- und Freundschaftsorganisationen aus der rechten Ecke spielen sich nachweislich die Bälle politisch zu.

Eine der zentralen Figuren in diesem Spiel ist Varro Vooglaid. Er leitet seit zehn Jahren die Organisation »Zum Schutz der Familie und Tradition« und war in dieser Funktion schon vor Jahren maßgeblich verantwortlich für Kampagnen zum Abtreibungsverbot. Zudem ist er international in erzkatholischen Kreisen gut vernetzt. Er betreibt das erfolgreiche rechte Medienportal Objektiiv und wurde von der EKRE wiederholt eingeladen, um im Parlament über estnische Werte und Identität zu referieren. Darüber hinaus ist er ein gefragter Diskussionspartner bei der größten Tageszeitung des Landes, Postimees. Leute wie er haben dafür gesorgt, dass die EKRE mit ihren Positionen heute gesellschaftlich breite Akzeptanz genießt.

Spielt Antisemitismus eine Rolle für die estnische Rechte?

Antisemitische Einstellungen sind kulturell fest etabliert. Das ist so ähnlich wie in Bezug auf die Flüchtlinge: Es gab in Estland relativ wenig jüdische Kultur und Tradition, gerade im Vergleich zu Städten in benachbarten Ländern wie Riga, Vilnius oder Warschau. Bis heute ist die Zahl die jüdischen Gemeinden sehr überschaubar. Trotzdem werden Juden als große Bedrohung dargestellt. Ruuben Kaalep, der für die EKRE im Parlament sitzt, schrieb über angebliche jüdische Eliten in Estland. Der damalige Innenminister Mart Helme, ebenfalls ein Mitglied von EKRE, hat wiederholt vom deep state gesprochen und damit auf antisemitische Verschwörungstheorien wie Qanon angespielt. Spätestens seit Beginn der Covid-19-Pandemie wurden Verschwörungsmythen über die reichen oder jüdischen Eliten um Bill Gates und George Soros populär.

Verbreitet werden diese Sachen unter anderem vom Verlag Reval-Buch. Dort erscheinen hauptsächlich Übersetzungen aus dem Kopp-Verlag, von Udo Ulfkotte, Friederike Beck und anderen. Damit sind sie ziemlich erfolgreich und in allen Buchläden präsent. Einer der Eigentümer des Verlags ist übrigens der Deutsche Herbert Heinz Jungwirth.

Gibt es eine Gegenbewegung, einen politischen oder gesellschaftlichen Antifaschismus?

Das Wort Antifaschismus ist wegen seiner Rolle als Staatsdoktrin der Sowjet­union verpönt. Auch diejenigen, die sich gegen die Rechten wenden, würden sich nie als Antifaschisten bezeichnen.

Es gibt hier relativ wenig Demonstrationskultur. Man rümpft die Nase und ist kurz schockiert. Es kam zwar vereinzelt zu Demonstrationen gegen die ­Regierungsbeteiligung der EKRE. Insgesamt blieb das aber eher eventartig und war nicht sehr politisch. Es ging vielmehr um Buntheit und so ein allgemeines Wohlfühlklima. Bei vielen stand auch eher die Befürchtung dahinter, dass die EKRE jetzt den Ruf des Landes ruiniert.

Ich kenne viele, die sich generell vor politischem Engagement fürchten. Sie haben Angst, ins Visier der EKRE zu geraten. Etliche Journalisten und Kommentatoren, die kritisch über die Partei berichtet haben, wurden Opfer von Hasskommentaren oder Hassmails.

Kristi Raik, die Leiterin des Estonian Foreign Policy Institute, sprach nach dem Regierungswechsel von der »Rückkehr des liberalen Estland«. Was ist von der neuen Koalition aus Reformpartei und Zentrumspartei zu erwarten?

Für Euphorie sehe ich wenig Grund. Auch die liberale Reformpartei hatte in der Vergangenheit zahlreiche Korrup­tionsskandale. Die Zentrumspartei ist ohnehin erst einmal mit sich selbst beschäftigt. Es ist eine Regierung ohne wirkliche Strategie. Sie muss jetzt versuchen, entschlossener als bisher gegen die Covid-19-Pandemie vorzugehen. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie im Tourismus und in anderen ­Bereichen werden das Land in den nächsten Monaten treffen. Gleichzeitig müssen sie den Scherbenhaufen aufkehren, den die EKRE in den diplomatischen Beziehungen hinterlassen hat. Größere Pläne sind von dieser neuen Regierung, auch was das Personal ­angeht, nicht zu erwarten.