Das syrische Regime schafft es nicht mehr, Grundnahrungsmittel zu subventionieren

Jenseits der roten Linie

Freiheit. Zehn Jahre nach den arabischen Revolten Von Oliver M. Piecha

Im Februar 2011 begannen friedliche Proteste gegen das syrische Regime. Die Diktatur Bashar al-Assads überlebte dank militärischer Unterstützung des Iran und Russlands – und der Entscheidung der USA und der EU, Kriegsverbrechen nur zu dokumentieren, aber nicht zu intervenieren.

Als vor einem Jahr möglich schien, dass Truppen des Regimes Bashar al-Assads mit Unterstützung der russischen Luftwaffe das Rebellengebiet von Idlib erobern, machte Syrien ­international noch Schlagzeilen. Seitdem erregt der Krieg kaum mehr ­internationale Aufmerksamkeit. Die Welt hat sich daran gewöhnt, dass aus scheinbar unentwirrbaren Gründen rund ein Drittel der syrischen Bevölkerung ins Ausland geflohen und das Land zu einer Arena für diverse internationale und regionale Konflikte ­geworden ist. Was vor zehn Jahren geschah, erscheint wie aus einer anderen Welt – wie andernorts im Nahen Osten demonstrierten damals Syrerinnen und Syrer friedlich für Reformen und Demokratisierung.

Zwei kaum beachtete Meldungen aus Syrien verdeutlichen die Malaise: Am 10. Januar dekretierte Assad über­raschend die Herabsetzung der Gefechtsbereitschaft weiter Teile des Militärs. Offiziell gilt nun wieder derselbe Status wie 2011, wobei man berücksichtigen muss, dass in Syrien seit 1963 der Ausnahmezustand herrscht.

Die ökonomische Zerrüttung Syriens nimmt immer desaströsere Formen an. Das Assad-Regime kann nicht einmal mehr die Grund­versorgung mit subventioniertem Brot aufrechterhalten.

Die Meinungen von Beobachtern über die Bedeutung der Anordnung gingen weit auseinander. Hatte Russland sie veranlasst, um Gesprächsbereitschaft über die Zukunft Syriens zu signalisieren? Kann Assad sein Militär nicht mehr bezahlen, weil der Iran insolvent ist und die militärische Unterstützung stark zurückfahren musste? Ist es ein Versuch, dem Regime loyal gebliebene Kräfte zu beruhigen, deren Unzufriedenheit wächst und die die Bürden des Militärdiensts tragen müssen? Oder ist die ökonomische Situa­tion in Syrien schon so katastrophal, dass es vor allem darum ging, die Nahrungsmittelrationen für die Armee kürzen zu können? Vermutlich ist an jeder dieser Erwägungen etwas dran.

Eines ist jedenfalls klar: Assad hat diesen Krieg keineswegs gewonnen, wie das westliche Medien vor allem in den Jahren 2017/2018, den Verlautbarungen des Iran, Syriens und Russlands folgend, so oft behaupteten. Solange aber die militärische Unterstützung aus Russland und dem Iran fortdauert, wird Assad sich an der Macht halten können.

Eine bessere Zukunft oder Entwicklungsmöglichkeiten für das Land gibt es nicht, das macht die zweite kaum beachtete Meldung aus den vergangenen Wochen deutlich. Da beklagte sich der Sondergesandte der UN für Syrien, Geir Pedersen, über den Verlauf der von ihm moderierten Verhandlungen in Genf: Es sei sinnlos, so weiterzumachen. Zuvor hatten die Repräsentanten Assads sowohl die Vorschläge der Opposition wie die Pedersens zurückgewiesen – und dabei ging es nur um Verhandlungsmodalitäten. Allerdings war von vornherein klar, dass Assad an den Gesprächen nur auf Druck Russlands teilnimmt und nicht die ­Absicht hat, die Macht zu teilen. Er dürfte sich in diesem Jahr erneut zum Prä­sidenten wählen lassen, auch wenn die UN und Pedersen dann wohl bitterlich protestieren werden, weil ihr Plan doch eigentlich vorsieht, zuerst in Genf eine neue Verfassung für Syrien auszuhandeln.

Für das Schicksal der Syrer und Syrerinnen interessiert man sich eigentlich nur, wenn sie irgendwo in Scharen als Flüchtlinge auftauchen. Syrien ist mittlerweile dreigeteilt, in den Herrschaftsbereich Assads, in dem der Iran und Russland das Sagen haben, in ein von der Türkei und Islamisten kontrolliertes Rebellengebiet rund um Idlib und in den Osten des Landes, wo mit Unterstützung der USA ein Ableger der kurdischen PKK regiert. Dort ist die Lage noch am besten, während im Herrschaftsbereich Assads – der eng mit dem ebenfalls wirtschaftlich implodierenden Libanon verzahnt ist – die ökonomische Zerrüttung immer desaströsere Formen annimmt. Die Nahrungsmittelpreise sind in für die meisten unerschwingliche Höhe gestiegen und das World Food Programme schätzte bereits im Sommer vorigen Jahres, also noch vor der jüngsten Hungerkrise, dass die Versorgung der Hälfte der syrischen Bevölkerung akut gefährdet sei. Seit dem Herbst kann das Regime nicht einmal mehr die Grundversorgung mit subventioniertem Brot aufrechterhalten.

Um die Folgen der Pandemie kümmert sich in Assads Herrschaftsbereich der Geheimdienst, der auch die Krankenhäuser überwacht und dafür sorgt, dass Ärzte bei Covid-19-Toten eine ­politisch unbedenkliche Todesursache vermerken. Elizabeth Tsurkov, eine ­Syrien-Expertin mit zahlreichen Kontakten in das vom Regime beherrschte Gebiet, weist allerdings darauf hin, dass derzeit nicht mit Hungerrevolten und größeren Protesten gegen das ­Regime zu rechnen sei, obwohl dieses nicht einmal mehr die Grundversorgung der loyalen Bevölkerungsgruppen sicherstellen kann. Geheimdienst und Milizen sorgen offenbar für bleierne Resignation.

Der Terror sichert die Herrschaftsgrundlage im Inneren, verhindert aber auch eine langfristige Stabilisierung des Regimes. Assad ist zu sehr kompromittiert, als dass die EU in einen Wiederaufbau Syriens unter seiner Herrschaft investieren würde – und einen anderen potentiellen Geldgeber für die ungeheuren erforderlichen Summen gibt es nicht. Assads mafiöser Staat lebt ohnehin maßgeblich von den humanitären Hilfslieferungen der UN, die hauptsächlich von der EU bezahlt werden. Der Journalist Sam Dagher, ein Chronist der syrischen Proteste 2011, hat ihn als Scheinstaat definiert, der reale Institutionen nur imitiere, aber eigentlich die Herrschaft eines Clans darstelle. Aber mehr als Nothilfe kann Assad nicht erwarten.

Von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen, haben der von der Uno im Jahr 2016 eingesetzte »Inter­nationale, unparteiische und unabhängige Mechanismus« sowie die Nicht­regierungsorganisation »Kommission für Internationale Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit« buchstäblich Millionen von Beweisen für die Verbrechen des Assad-Regimes gesichert und ­dokumentiert. Der Fall Syrien dürfte in der Geschichte der juristischen Behandlung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit langfristig eine große Rolle spielen.

Russland und der Iran können Assad nicht fallenlassen, und Assad kann ohne sie nicht überleben. Solange das so bleibt, werden die EU und die Monarchien am Golf wohl achselzuckend zuschauen – dies ist nur ein Beispiel dafür, wie dramatisch der Nahe Osten an geopolitischer Bedeutung verloren hat. An Assads Status als Paria werden auch die eifrigen Bemühungen der vielen europäischen Unterstützer seines Regimes kaum etwas ändern. Assad hat nichts zu bieten, die Flüchtlinge, die er mit viel Aufwand vertrieben hat, will er gar nicht zurücknehmen, und sein Handlungsspielraum ist wegen der Abhängigkeit von Russland und vom Iran klein. Die Leidtragenden dieser politischen Konstellation sind die Syrerinnen und Syrer, die weiterhin unter seiner Herrschaft leiden müssen.

Der desaströse Zustand Syriens war jedoch keineswegs unvermeidlich, es handelt es sich um das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen – oder vielmehr bewussten Nichtstuns. Und er kann nicht gegen die Protestierenden von 2011 ins Feld geführt werden, die damals massenhaft auf die Straße gegangen sind, um friedlich für ein Leben in Freiheit zu demonstrieren. Assads Regime stand mehrfach vor dem Zusammenbruch, allein auslän­dische Militärinterventionen, zuerst des Iran und seit 2015 Russlands, haben es gerettet. Und bewusste Entscheidungen anderer Staaten, nicht in nennenswertem Ausmaß zu intervenieren – symbolisch dafür steht die vom Regime ignorierte »rote Linie«, die der damalige US-Präsident Barack Obama 2012 gegen den Einsatz von Chemiewaffen zog –, haben das Überleben des Regimes gesichert.

Wohl niemand hätte 2011 bei Beginn der arabischen Revolten prophezeit, dass aus den friedlichen Demonstrationen in Syrien die neben dem Bürgerkrieg im Jemen wohl größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart erwachsen würde. Gut dokumentierte Giftgas­angriffe auf die Zivilbevölkerung, lang­anhaltende gezielte Bombardierung von Krankenhäusern und anderen zivilen Einrichtungen, sofern sie sich nicht in der Hand Assad-Getreuer befanden, Luftangriffe auf Wohngebiete und die Flucht von Millionen Menschen, ohne dass dies zu ernsthaften Konsequenzen für die Machthaber führen würde? Nein, das wäre so ziemlich bei jedem auf Unglauben gestoßen.

 

Freiheit. Zehn Jahre nach dem arabischen Frühling.
Freiheit. Zehn Jahre nach den arabischen Revolten. Erster Teil einer Serie