Ein Gerichtsbeschluss bekräftigt die Ansprüche von Roma-Flüchtlingen aus dem Kosovo

Unverschuldet staatenlos

Ein Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachen-Bremen hat den Rechtsanspruch von Roma-Flüchtlingen auf Sozialleistungen gestärkt.

Ohne Papiere lebt es sich schwer in Deutschland. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat am 4. Feb­ruar den Landkreis Hildesheim (Niedersachsen) rechtskräftig verpflichtet, einer sechsköpfigen Roma-Familie ungekürzte Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu zahlen. Das Gericht wies die Beschwerde des Landkreises gegen ein vorausgegangenes Urteil des Hildesheimer Sozialgerichts zurück, das den Landkreis bereits zur Zahlung der vollen Leistungen verpflichtet hatte. Ebenfalls sollte der Landkreis der Familie Zugang zum gesetzlichen Krankenversicherungssystem gewähren.

Der Landkreis Hildesheim hatte argumentiert, dass die aus dem Kosovo stammende und seit 2015 geduldete Familie keine Pässe vorgelegt und ihre Staatsangehörigkeit nicht nachgewiesen habe. Damit habe sie nicht ausreichend an der Feststellung ihrer Identität mitgewirkt, der Landkreis habe ­daraufhin die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gekürzt. Nach dem Gesetz können Geflüchtete in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland Grundsicherung beantragen, danach können die Leistungen auf das Niveau des Arbeitslosengelds II angehoben werden. Menschen, die mit einer Duldung in Deutschland leben, sind rechtlich gesehen vollziehbar ausreisepflichtig, können aber aus verschiedenen Gründen nicht abgeschoben werden. Fehlende Pässe sind einer dieser Gründe, da ohne den Nachweis der Staatsangehörigkeit nicht klar ist, in welches Land die Betroffenen überhaupt abgeschoben werden könnten. Das trifft auch auf die Familie zu.

Das Landessozialgericht wies diese Argumentation zurück: Die Familie habe sich zwar um Pässe bemüht, aber Kosovo, Serbien und Nordmazedonien hatten die Staatsangehörigkeit nicht bestätigt. Dies könne der Familie nicht vorgeworfen werden. Auch sahen die Richterin und der Richter keine Anhaltspunkte für eine bewusste Identitätstäuschung. Zudem verwies das ­Gericht auf die Richtlinien des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Personen aus dem Kosovo. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßte das ­Urteil in einer Pressemitteilung. Es orientiere sich »an den Realitäten der Herkunftsländer«, in denen Roma weiterhin einem weit verbreiteten Anti­ziganismus ausgesetzt seien.

Dass Roma aus Staaten des ehemaligen Jugoslawien ihre Identität nicht nachweisen können, kommt immer wieder vor. Teilweise sind Dokumente auf der Flucht verloren gegangen. In vielen Fällen sind Minderheitenangehörige in ihren Herkunftsländern jedoch nie registriert worden, weshalb ihnen Dokumente wie Geburtsurkunden oder Pässe fehlen. So schätzt etwa die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch, dass etwa zehn Prozent aller in Bosnien und Herzegowina geborenen Roma keine Geburtsurkunde besitzen. Viele Roma leben in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens in informellen Siedlungen, auch aufgrund großer Vertreibungen während der jugoslawischen Zerfallskriege. Für eine behördliche Registrierung ist aber sowohl im Kosovo als auch in Bosnien eine feste Adresse notwendig. Da sie diese nicht vorweisen konnten, erhielten viele Roma in den neu entstandenen Staaten keine Staatsangehörigkeit. Aber auch offener Antiziganismus spielt eine Rolle. Sven Adam, der Rechtsanwalt der Fa­milie, sagte in einer Pressemitteilung, Roma würden im Kosovo »systematisch diskriminiert, auch indem ihnen häufig die Staatsangehörigkeit und das Aufenthaltsrecht abgesprochen wird«. Roma-Familien lebten in einer »ständigen Diskriminierungsspirale aus institutionellem Rassismus«.

Mit dem Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen wird diese Realität zumindest teilweise anerkannt, da die Betroffenen nicht mehr für das Fehlen ihrer Identitätspapiere verantwortlich gemacht werden, was Behörden ihnen bislang zum Nachteil auslegten. An der generellen Asylrechtsprechung für Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien ändert dies jedoch nichts: Seit die Bundesregierung die Nachfolgestaaten 2014 und 2015 ­allesamt zu sogenannten sicheren Herkunftsstaaten erklärt hat, können Asylanträge von Menschen aus diesen Staaten als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt werden, was in den meisten Fällen auch geschieht. Der starke Antiziganismus in diesen Staaten wird bei der geltenden Rechtslage weiterhin ignoriert. Damit setzt sich die Diskriminierung der Betroffenen in Deutschland fort. Nach dem Beschluss des Landesgerichts Niedersachsen-­Bremen darf sie nun nur nicht mehr allzu offensichtlich betrieben werden.