Die türkische Armee greift kurdische Gebiete im Nordirak an

Blutige Adlerklauen

Mitte Februar hat die türkische Armee zum zweiten Mal binnen Jahresfrist kurdische Gebiete im Nordirak angegriffen. Die türkische Regierung begründet das mit einer akuten Bedrohung durch die PKK, Belege gibt es dafür jedoch nicht.

Operation erfolgreich, Patient tot. Als Begründung für die jüngste Militär­operation der Türkei in den Bergen des Nordirak sollte die Befreiung türkischer Geiseln dienen. Doch die Operation »Adlerklaue 2« hinterlässt keine Befreiten, dafür viele offene Fragen. Die Türkei beschuldigt die PKK, in einer Höhle in der nordirakischen Region Garê 13 Geiseln exekutiert zu haben, die von der Armee dort tot geborgen wurden. Die PKK behauptet hingegen, die türkische Armee habe die zwischen 2015 und 2016 auf türkischem Staatsgebiet entführten 13 Soldaten und Poli­zisten bei einem Luftangriff und der anschließenden Bodenoperation selbst getötet. Medya News, ein kurdisches Nachrichtenportal, das von Italien aus betrieben wird, zitiert die kurdischen Volksverteidigungskräfte (HPG) mit der Behauptung, die türkischen Streitkräfte hätten während ihrer Garê-Operation im Lager Siyanê im irakischen Kurdistan, wo die 13 türkischen Geiseln von der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) festgehalten wurden, Chemiewaffen eingesetzt. Anschließend hätten sie den Getöteten Schussverletzungen im Brust- und Kopfbereich zugefügt, die die Gerichtsmedizin im türkischen Malatya nun als Beweis für die Hinrichtung der Gefangenen durch die PKK benutze. Bei all den gegenseitigen Schuldzuweisungen ist der tatsächliche Verlauf der Ereignisse in Garê nicht mehr zu rekonstruieren – ihre Vorgeschichte aber sehr wohl.

Am 10. Februar um drei Uhr früh begann ein Luftangriff auf Stellungen der PKK im Nordirak, anschließend führten türkische Spezialeinheiten eine Bodenopera­tion durch.

Im vergangenen Jahr fand die Operation »Adlerklaue 1« statt: Zwischen dem 14. und 17. Juni griffen türkische Flugzeuge und Drohnen Stellungen der PKK im Irak an, vorwiegend in den Kandil-Bergen nahe der iranischen Grenze im Osten, aber auch im westlich an der Grenze zu Syrien gelegenen Sindschar-Gebirge sowie südlich von Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Die Türkei versuchte damit, die Verbindung der PKK im Nordirak mit der kurdischen Enklave im nordsyrischen Rojava zu unterbrechen und eine von der Türkei kontrollierte Pufferzone im Norden des Irak und in Nordsyrien zu installieren. Ein Schönheitsfehler dieser Ope­ration war aber, dass das Nato-Land Türkei keinen UN-Auftrag besaß. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags stellte am 8. Juli 2020 fest, dass die Bombardierungen im Sommer 2020 einen Verstoß gegen das Gewaltverbot nach Artikel 2 Ziffer 4 der UN-Charta darstellten. Es lasse sich keine »Selbstverteidigungslage der Türkei« erkennen, die den Verstoß gegen das Gewaltverbot gegenüber dem Irak rechtfertigen könnte, so die Argumentation. Die Türkei habe darüber hi­naus ihre militärischen Operationen nicht sofort dem Sicherheitsrat der UN angezeigt, wie es Artikel 5 Absatz 2 der UN-Charta verlangt.

Der Name Adlerklaue hat in der Militärgeschichte kein gutes Vorbild. 1979 versuchte die US-amerikanische Armee in einer Operation gleichen Namens, von iranischen Studenten als Geiseln festgesetzte US-Bürger aus der US-amerikanischen Botschaft in Teheran zu befreien. Das Vorhaben misslang ­katastrophal, mehrere Soldaten der Spezialeinheit Delta Force verloren ihr ­Leben. Seitdem werden großangelegte Truppeneinsätze bei Befreiungsaktionen oder Festnahmen einzelner interna­tional gesuchter Personen in der Regel vermieden; man vertraut auf kleinere operative Teams. Nicht so die Türkei. »Adlerklaue 2« nannte sie nun den zweiten Vorstoß ihrer Streitkräfte auf Gebiete im Nordirak. Diesmal war die Garê-Gebirgskette in der nordirakischen Provinz Dohuk ihr Ziel. Am 10. Februar begann der türkische Luftangriff, anschließend führten türkische Spezial­einheiten eine Bodenoperation durch. Sowohl die türkischen Streitkräfte als auch die PKK feiern die Kämpfe als Sieg für sich – mit vielen Toten auf der gegnerischen Seite. Nachweislich geborgen und in die Türkei transportiert wurden die 13 getöteten Geiseln und drei weitere gefallene türkische Soldaten.

Parallel zu der Aktion begann die türkische Regierung mit der gezielten Verbreitung von Fehlinformationen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan behauptete zunächst, die PKK habe türkische Zivilisten hingerichtet. Regierungssprecher Fahrettin Altun bezichtigte die prokurdische Partei HDP, deren Führung wegen angeblicher Verbindungen zu Terrornetzwerken in Untersuchungshaft sitzt, der Kollaboration mit der PKK. Dem entgegen wiesen das Exekutivkomitee der HDP und der türkische Menschenrechtsverein İHD darauf hin, dass sie seit nunmehr fünf Jahren gemeinsam versuchten, in dem Gei­seldrama zu vermitteln. Die Entführungen gehen auf die Zeit zurück, als die Türkei 2015 durch die Bombardements von Stellungen der PKK im Nordirak die seinerzeitigen Friedensgespräche beendete.

Der türkische Menschenrechtsverein macht nun sowohl die PKK als auch die türkische Regierung für den Tod der Geiseln v­erantwortlich. »Die PKK ist nach humanitären Maßstäben für das Leben der Menschen verantwortlich, die sie entführt hat. Ihre Verantwortung für diesen Vorfall liegt auf der Hand«, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme am 15. Februar. Weiterhin stellt die Menschenrechtsorganisation fest: »Es ist offensichtlich, dass der Generalstab für die möglichen Folgen einer ­äußerst riskanten Militäroperation an einem Ort verantwortlich gemacht werden muss, an dem die entführten Personen festgehalten wurden.«

Der Journalist Yusuf Karataş analysiert die Ereignisse auf dem Nachrichtenportal der oppositionellen türkischen Tageszeitung Evrensel als gezielte, innenpolitisch motivierte Kriegstrei­berei der Türkei. Im vergangenen Jahr habe sich die aus der islamisch-kon­servativen Regierungspartei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) und der rechtsextremen Nationalistischen Bewegungspartei (MHP) bestehende Koa­lition der »Nationalen Allianz« darauf eingelassen, die vom inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan geforderten Friedensgespräche inoffiziell wiederaufzunehmen, und auf der ­Gefängnisinsel Imrali Verhandlungen geführt. Der Regierung sei es dabei aber vornehmlich darum ge­gangen, bei den Kommunalwahlen Stimmen von Kurden zu bekommen. Als jedoch wichtige Rathäuser wie etwa in Istanbul mit Unterstützung der HDP an die Opposition gingen, sei diese Linie zugunsten der Kriminalisierung der kurdischen Bewegung wieder verlassen worden. Derzeit versuche die türkische Regierung, so Karataş, die getöteten Geiseln dafür zu instrumentalisieren, um Militärinterventionen im Norden des Irak und in Syrien zu rechtfertigen. Diese wiederum sollen dazu dienen, die wirtschaftlich prekäre Lage des Landes mit kriegerischen Auftritten zu überspielen.