Das neue Album von Madlib

Der mit den tausend Namen

Für seine unzähligen Projekte erdachte sich der Rapper Madlib immer neue Pseudonyme und Künstlernamen. Auch mit anderen Musikern arbeitete er immer wieder zusammen – für sein neues Album »Sound Ancestors« mit dem Elektromusiker Four Tet

Im Gefolge etwa eines Sun Ra, John Coltrane oder J Dilla ist Madlib eine dieser Figuren, die – wie es so schön heißt – larger than life sind. Während die drei Erstgenannten bereits tot und so nur noch durch ihre hinterlassene Musik präsent sind, sitzt Mad­lib inzwischen seit mehr als drei Jahrzehnten in Los Angeles und sampelt sich durch die Welt. Für den Dichter William Blake steckte diese bekanntlich in einem Sandkorn, für Madlib rotiert sie mit 33 1/3 oder 45 Umdrehungen auf dem Teller eines Technics-Plattenspielers. Bisweilen werden die Platten angehalten, zurückgedreht und dann in der Datenbank eines Samplers abgelegt, wo sich diese kleinen Ausschnitte der Klangwelt zu ­Erzählschleifen, den Loops, verdichten. Und Madlib ist »The Loop Digga«, ein Klangarchäologe. Zwar hat er sich diesen Titel selbst verliehen, doch kann er ihm nur schwerlich abgesprochen geschweige denn streitig gemacht werden. Wenn es jemandem gelingt, immer wieder unter jahrzehntealtem Sediment verschüttete Klangspuren auszugraben, sie neu aufzupolieren und ihnen unverhoffte Klangfacetten zu entlockten, dann ist es Madlib.

Es ist das Verdienst von Kieran Hebdens Abmischung, die Kantigkeit des Zusammengefügten herauszustellen und so die vielen kreativen Brüche in Madlibs Schaffen aufzuzeigen.

Loop Digga ist indes nur ein Alias aus einem kaum mehr überschaubaren Konvolut von Decknamen, unter denen von Dope Beats bis hin zu obskurem Free Jazz bereits so einiges erschienen ist. Der Jazzpianist Weldon Irvine soll nach dem Hören einer Platte, die Madlib unter dem Namen ­Yesterdays New Quintet Anfang der nuller Jahre veröffentlichte, ungläubig gefragt haben, warum er von diesen Musikern noch nie gehört habe, obwohl sie, dem Sound nach zu urteilen, bereits einige Jahrzehnte lang Musik machen müssten. Das Quintett jedoch bestand lediglich aus Madlib, er hatte alle Instrumente selbst eingespielt.

Zu diesem Zeitpunkt war Madlib das klangliche Korsett des HipHop bereits zu eng geworden und vermutlich nach einigen Joints in den Hollywood Hills um drei Uhr morgens ­beschwor er seinen inneren Sun Ra. 2004 erschien »A Tribute to Brother Weldon«, Madlib firmierte darauf als Pianist Joe McDuphrey, als Bassist Monk Hughes und als Schlagzeuger unter seinem bürgerlichen Namen Otis Jackson Jr. Das aus einer Person bestehende Trio nannte er Monk Hughes  he Outer Realm. Und es ist kein Zufall, dass man sich fast unwillkürlich an Sun Ras Arkestra erinnert fühlt.

Dann ist da der Rapper Madlib, dem der Klang der eigenen Stimme missfällt und der sich, um das zu kaschieren, ein Alter Ego namens Quasimoto zulegte – eine Art (wie in Zeichnungen zum Beispiel auf Albencovern zu sehen ist) dauerbekifftes gelbes Schwein auf zwei Beinen mit einer Stimme wie ein Streifenhörnchen, die Madlib über die staubtrockenen Beats laufen ließ. »The Unseen« hieß das Debütalbum, mit dem Lord Quas (ein Spitzname für Quasimoto) die nuller Jahre eröffnete, darauf findet sich ein Track namens »Return of the Loop Digga«. Es bedarf eigentlich kaum weiterer Worte, um die Schrulligkeit eines jeden dieser ineinander verwobenen Projekte zu betonen, die allesamt liebenswert sind. Diese Verschrobenheit ist der Grund, warum Madlib, aller Bekanntheit im eigenen Genre zum Trotz, immer auch ein Underground-Tipp blieb. Er war, wie es im Jargon des Marktes heißt, immer ein Fall von special interest.

Das liegt auch in der Person begründet. Dem introvertierten Madlib sagte das schwache Glimmen der Plattenspielerleuchte immer mehr zu als das Rampenlicht. Er gibt kaum Interviews und nahezu allen, die er doch gibt, ist eine Reserviertheit zu eigen, jedes Wort muss ihm abgerungen werden.

Madlib, das ist vielmehr der unscheinbare, aber zentnerschwere Name, der zahllose Alben ziert, die inzwischen zu den Klassikern gezählt werden können. Von den frühen neunziger Jahren und seiner Arbeit mit Tha Alkaholiks (»Coast II Coast«) und vor allem Lootpack, deren »Soundpieces: Da Antidote!« heutzutage als Meilenstein des Underground-HipHop von der amerikanischen Westküste gilt, über die Zusammenarbeit mit J Dilla als Jaylib (»Champion Sound«) und auch Mos Def (auf »The Ecstatic«, bei dem neben J Dilla auch Madlibs kleiner Bruder Oh No mitwirkte) bis hin zu seinen jüngeren Alben mit Freddie Gibbs (»Piñata« von 2014 und »Bandana« von 2019) – überall lässt sich Madlibs Handschrift deutlich erkennen.

Noch ein weiterer Name ist wichtig, da er direkt zum neuen Album »Sound Ancestors« führt: der des Rappers Daniel Dumile alias MF Doom, der im vergangenen Jahr mit erst 49 Jahren verstarb. Frucht dieser äußerst produktiven Zusammenarbeit war das 2004 erschienene Album »Madvillainy«. Nach dessen Veröffentlichung fragte Kieran Hebden an, ob er nicht einige Stücke des Albums bearbeiten dürfte. Es folgten die Remixes von Hebden, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Four Tet, eine EP mit fünf Titeln, die ihre Vorbilder einigermaßen gnadenlos durch den Fleischwolf, wie eines der Stücke treffenderweise hieß (»Meat Grinder«), drehten. Der Wiedererkennungswert war, von Dooms markanter Stimme abgesehen, gleich null, Hebdens Elektrogeschwurbel in seiner Verschrobenheit aber ähnlich einnehmend wie Madlibs Beats. Die gemeinsame Basis dieses nur auf den ersten Blick ungleichen Zweigespanns bildet sicherlich der Jazz. Auf Hebdens Seite denkt man hier beispielsweise an die »Exchange Sessions« mit einer New Yorker Jazzlegende, dem Schlagzeuger Steve Reid, der – und hier schließt sich ein weiterer Loop – schon im Sun Ra Arkestra spielte.

All dieses kontextuellen Ballasts bedarf es selbstredend nicht, um »Sound Ancestors«, das neueste, in Zusammenarbeit mit Four Tet entstandene Album von Madlib, gut zu finden. Bestenfalls dient der Kontext dazu, diese Platte mit eingestimmten Ohren zu hören. Denn obwohl es Hebdens erklärtes Ziel war, die von Madlib überlassenen Beat- und Sample-Fragmente zu einer Art Mixtape zusammenzuschweißen, verbirgt sich darin vieles, was auf den ersten Blick nicht recht zusammenpassen will. Es ist das Verdienst von Hebdens Abmischung, die Kantigkeit des Zusammengefügten herauszustellen und so die vielen kreativen Brüche in Madlibs Schaffen aufzuzeigen. So steckt ein verkappter Monk-Hughes-Titel im Song »One for Quartabê/Right Now«, der sich sein Klarinettensolo nicht nehmen lassen will, wenngleich es den Track aus dem Tritt bringt. Ihm gegenüber steht der andere Madlib, der mit einem Faible für gedankenversunkene Beats.

Tolle Momente gibt es auf »Sound Ancestors« einige, zum Beispiel, wenn Madlib in »Dirtknock« dem 40 Jahre alten Post-Punk-Hit »Sear­ching for Mister Right« der Young Marble Giants recht rüde einen Drumtrack unterschiebt und ihm dadurch eine eigenartig spröde funkiness verleiht. Herausragend ist auch der dem Album den Titel gebende Track »Sound Ancestors«, der mit polyrhythmischem Trommeln und Querflötenparts auch gut auf einem Bobbi-Humphrey-Album hätte Platz finden können; was eingedenk der Tatsache, dass das bahnbrechende Jazzlabel Blue Note, für das auch Humphrey aufnahm, einst sein Archiv für Madlib öffnete (siehe »Shades of Blue«, 2003), gar nicht allzu abwegig erscheint. Und in dieser Art, scheinbar Disparates wie selbstverständlich zusammenkommen zu lassen, scheint nicht zuletzt die Genialität von Four Tet auf.

Madlib: Sound Ancestors (Madlib Invazion)