Klassenkampf

Für den Ernstfall

Klassenkampf Von Liselotte Kreuz

Ich glaube ja schon, dass in der Schule für das Leben gelernt wird. Vielleicht nicht immer in den Unterrichtsstunden, da passiert natürlich schon viel von diesen Schulsachen, die außerhalb von Schule nicht mehr so richtig viel Sinn ergeben. Die ganzen Texte beispielsweise, die man nicht des Inhalts wegen liest, sondern weil sie Konjunktivformen enthalten, die man unterstreichen kann, oder auch diese Briefe, die man zusammenschreibt im Laufe einer Schulkarriere. Briefe an literarische Figuren, an Politikerinnen und Zeitungsredaktionen, die allesamt niemals abgeschickt und höchstens von mir, der Lehrerin, gelesen werden. Und die Stellungnahmen zu Themen, zu denen außerhalb eines Klassenzimmers niemand ernsthaft einen Haufen Personen mit eingeschränkter neuronaler Funktionsfähigkeit, aka Pubertät, befragen würde, die Protokolle, die niemand mehr für irgendetwas brauchen und die Berechnungen, die späterhin keiner mehr verstehen wird. Sie alle dienen natürlich letztlich zur Übung für den Ernstfall, in welchem dann die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler herausfinden wird, dass sich immer noch niemand für ihre Meinung interessiert und Protokolle auch im echten Leben nur von den Strebern gelesen werden. Aber weil das echte Leben so eine Art hat, egal wo man hingeht, immer schon da zu sein, findet es natürlich manchmal auch in Klassenräumen statt und gibt uns Lernwilligen eine Chance, zu begreifen.
Letztens ist das Leben bei uns vorbeigekommen. In einer kleinen Pause gesellte es sich zu Lara, die mit Schule nicht viel anfangen kann und deswegen von ihren Eltern zu uns geschickt wurde, weil Schülerinnen wie Lara bei uns nicht viel machen müssen, und Yeliz, die zu der anderen Sorte Schülerinnen gehört und Lara ein bisschen bewundert. Lara modelt in ihrer Freizeit, weil ihre Eltern da wen kennen, und hat außerdem entschieden, dass sie nun doch nach dem Fachabitur, also ein Jahr früher, abgeht, und dann erst mal nur noch modelt und später was mit Theater macht oder was mit Film, weil ihre Eltern da wen kennen, jeweils. ­Yeliz ist erst entsetzt, wegen des verschenkten Abiturs und Laras Zukunft, und dann versteht sie was, und dann ist sie neidisch: »Deine Eltern müssen voll viel Geld haben.« »Und was machen deine?« fragt Lara schnippisch zurück und fährt fohrt: »Meine machen nur Kunst, da wird man nicht reich von, aber du kommst hier jeden Morgen mit ’nem Taxi vorgefahren.« Worauf Yeliz erst verständnislos blickt und dann noch was versteht, so dass man an ihrem Gesicht sehen kann, dass sie Lara jetzt viel weniger bewundert, und dann versteht auch Lara was und wird ein bisschen rot und das echte Leben freut sich, dass wieder alle was Nützliches gelernt haben, und geht und macht Pause, während wir anderen im Klassenraum bleiben und noch ein bisschen üben, Konjunktivformen zu unterstreichen.