Profitrate und Nagelschere

heinz emigholz im Gespräch mit stefan ripplinger

Stefan Ripplinger: Heinz, du kommst gerade aus Malta zurück. Hat es dir schon zu denken gegeben, dass das Malteserkreuz einerseits eine humanitäre Organisation und andererseits ein Teil im Filmprojektor ist? Mir offen gestanden nicht.

Heinz Emigholz: Mir auch nicht, aber schauen wir uns die Dinge mal an! Das Malteserkreuz erscheint mir wie das Modell oder Abbild einer Waffe – ein nach allen Seiten geschärftes Hackbeil, mit dem man möglichst tiefe und nicht heilbare Wunden verursachen kann. Im Filmprojektor ist es eine winkelgeometrisch gestaltete Umlaufblende, die für die Hell- und Dunkelphasen sorgt. Sie verdeckt die Transportphase des Filmstreifens und gibt im jeweils nächsten Sekundenbruchteil das stehende Bild frei. Paradox ist, dass sie dadurch erst die Bewegungsillusion des Films erzeugt. Also ein raffiniertes kleines Hilfsmittel aus Eisenblech, das selbst nichts repräsentiert, zum Zwecke einer Illusion aber eine Arbeit leistet. Also auch eine Waffe.

Ripplinger: Das erinnert mich an Harun Farocki, der die moderne Welt in der Waffentechnik entstehen sieht, auch an den Namen »Arsenal« für ein Kino. Wie weit reicht denn die Metapher? Du siehst nicht die Kamera als Waffe und willst mit ihr jemandem wehtun?

Emigholz: Metaphern interessieren mich nicht. Ich sagte, dass das Malteserkreuz ein technisches Hilfsmittel für Illusionen ist, die wiederum als Ideologien Waffen sein könnten. Ich sehe die Kamera nicht als Waffe, ich empfinde mich selbst als eine. Und wenn du mich nach einem Theoretiker in diesem Zusammenhang fragst, dann ist es Christopher Isherwood, besonders der aus »Christopher and His Kind«. Die anderen sind logisch nicht so gut bestückt, sie könnten sich bei »Apollo«-Optik als Billigangebot aufstellen lassen: »Bei Blindheit hilft Ignoranz.« »Arsenal« heißt ein Film von Alexander Dowschenko (1929). Dass man ein Kino so genannt hat, war politische Romantik. Die Politiker selbst scheißen drauf.

Ripplinger: Beruhigt mich sehr, dass du das so siehst. Ist es wahr, dass es eine Menge guter Regisseure gibt, die nicht mehr filmen können, weil die Fernsehsendeplätze knapper werden? Oder sind das gerade die nicht so guten Regisseure?

Emigholz: Jedenfalls wird aus jedem Regisseur, der nicht arbeiten darf, sehr schnell ein schlechter, egal wie gut er vorher gewesen ist. Beim Bild und seinen Zusammenhängen lehrt die Praxis.

Ripplinger: Das unterscheidet also das Filmen von Fähigkeiten wie Radfahren und Brustschwimmen, die einer nie wieder verliert.

Emigholz: Beim Filmemachen sind es auch nicht gerade die Besten, die immer weitermachen können. Aber die, die nicht weitermachen dürfen oder wollen, sind weder automatisch die Besseren, noch haben sie die Chance, das jemals zu beweisen. Natürlich ist der Level, von dem jemand abhebt oder auf dem jemand scheitert, entscheidend. Aber stell dir mal vor, Buñuel hätte nach »L’âge d’or«, also nach 1930 nie wieder die Chance bekommen, einen Film zu machen. Dann könntest du zwar zu Recht sagen, das ist einer der besten Filme der Welt und da steckt sowieso schon alles drin – symbolistisch plump, zart angedeutet, versteckt offen, oder wie auch immer. »Leute, setzt euch gefälligst hin und denkt das mal weiter!« Aber was wäre dann mit »El«, seine Höchstform von 1952, in der alles so offen versteckt klar daliegt, dass dagegen Hitchcocks »Vertigo« von 1958 als lahmes Epigonentum erscheint, und keineswegs »weitergedacht«? Die Sprache erweitert sich nur, wenn man in ihr arbeitet.

Ripplinger: Ich behaupte, das Schreiben gewinnt, wenn einer mal eine Pause macht. »Mach mal Pause, trink Coca-Cola«, sollte über jeder Schreibstube prangen.

Emigholz: Gute Schreiber stecken sich in jungen Jahren genial weit gefasste Rahmen, in denen dann das Leben erscheinen kann. Sie lauschen, bis was kommt. Und im Unterschied zum Filmemachen, kann man ja auch im Gehirn immer weiter schreiben, auswendig lernen, ohne dass etwas aufs Papier kommt. Gar nicht zu vergleichen mit der Crux der technischen Bildmedien.

Ripplinger: Aber manche Regisseure haben doch den Film komplett im Kopf, bevor auch nur ein Meter verdreht ist. Bei Fassbinder und Hitchcock soll das so gewesen sein.

Emigholz: Filme »komplett im Kopf« haben – das ist das Dümmste, was ich je gehört habe, als Ideologie und als Praxis. Das ist eine Buchhalterphantasie, aber damit sind die beiden Genannten auch schon hinreichend beschrieben. Und wenn du mir nicht glaubst, dann frag mal Bresson.

Ripplinger: Der ist tot.

Emigholz: Seit wann das denn? Für mich nicht. In »Noten zur Kinematographie« hat er darüber Auskunft gegeben.

Ripplinger: Mag sein. Übrigens kann ich mir den Hass auf Fassbinder in deinen Kreisen nicht recht erklären. Wenn er sich gegen den Verfasser eines antisemitischen Stücks richtete, wäre es ja okay, aber gegen den Regisseur? Die Fußballspieler von der Filmkritik haben ihn totgeschwiegen, weil er schwul war, soviel ist sicher.

Emigholz: Bei der Filmkritik habe ich nie verkehrt, falls es das ist, was man in Kreisen tut. Fußballspielen interessiert mich genausowenig wie das Filmfestival in Hof, wo man anscheinend dazu gezwungen wird. Und an einen Hass auf Fassbinder kann ich mich nicht erinnern, nur seine lahmarschige »Querelle«-Verfilmung hasse ich. Dieter Schidor, sein Produzent, wollte, dass ich das Buch noch einmal verfilme, aber dann ist er an Aids gestorben. Wie so viele andere, mit denen es vernünftig weitergegangen wäre. Falls du was gegen Buchhalterphantasien hast, ist das nicht mein Problem. Hitchcock hat doch nun wirklich das Beste daraus gemacht. Den hasse ich doch auch nicht.

Ripplinger: »Querelle«? Kein Streitpunkt. Der Titel deines neuen Buches, bezieht sich auf Malewitschs »Schwarzes Quadrat«. Schämt Malewitsch sich oder du dich für Malewitsch?

Emigholz: Alle Künstler schämen sich ihrer Dummheit, aber nur für ihre eigene. Also schäme ich mich nicht für ihn. Er selbst kann sich nicht mehr schämen, würde es aber tun, wenn er es noch könnte. Weil Kunst zu 98 Prozent ein anmaßender Stellvertreter ist, der verachtenswert überflüssige symbolische Akte hervorbringt, von denen nur gesagt wird, dass sie etwas bedeuten.

Ripplinger: Nun regst du dich über ein Bild auf, über das sich alle aufregen, geradezu das moderne Bild. Ich finde, es musste gemalt werden. Das Schwarz als Vergegenwärtigung aller abwesenden Farben, das Nichts als Vergegenwärtigung aller Dinge. Müssen die Gesten der Kunst wie Schecks gedeckt sein?

Emigholz: Das hätte sie wohl gern. Im Übrigen sage ich in »Das schwarze Schamquadrat« zum Bild fast das Gleiche wie du. Sicher, es musste gemalt werden und es muss auch immer wieder gemalt werden, und zwar von jedem und aus reinem Herzen. Aber dann, bitte schön, sofort vergessen! Man muss sich so etwas doch nicht vormalen lassen. Du vergisst, dass symbolische Akte, isoliert gesehen, immer nur versuchen, Geldscheine zu sein. Was ist eigentlich aus den Siebziger-Jahre-Schlagwörtern »Überbevölkerung« und »tendenzieller Fall der Profitrate« geworden? Dahinter verbargen sich doch recht anschauliche Modelle, und man begann zu ahnen, warum es überall so eng wird und der Kapitalismus den Krieg nötig hat und zwangsläufig kreiert. Hält man es inzwischen für überflüssig, uns etwas anständig zu erklären? Nur weil es zu wenig Kinder gibt, die die zukünftigen Renten erwirtschaften könnten, soll es plötzlich keine Überbevölkerung mehr geben? Wieso können ein paar Hanseln in der Bankgesellschaft ganz Berlin ruinieren, seit wann gelten Verträge, die Kriminelle unterzeichnen? Oder waren es mehr als ein paar? Fragen über Fragen, die eigentlich nicht ins Feuilleton gehören.

Ripplinger: Tatsache ist, dass bislang der Kapitalismus aus jeder Krise gestärkt hervorging. Was du kriminell nennst, ist sein natürliches Gebaren.

Emigholz: Die Lehre vom tendenziellen Fall der Profitrate besagt, dass der erfolgreiche Kapitalist immer dort produzieren lässt, wo die Arbeitskraft am billigsten ist, um am Markt unter seinen Konkurrenten als Sieger hervorzugehen. Das chinesische System hat da so einiges zu bieten. Freier Markt plus Zwangsarbeit, welch ein kapitalistisches Paradies! Damit kann man prima die Sozialgesetzgebung im »aufgeklärten« Westen aus den Angeln heben.

Und wenn dann alle auf dem niedersten Niveau des Profits angekommen sind, hilft Krieg-Machen. Danach geht die Chose wieder von vorne los. Eine schöne Natur ist das.

Ripplinger: Aber nur weil du aus einer windigen Theorie ein Naturgesetz machst. Die Marxsche Lehre dient Apokalyptikern wie dir zur pseudowissenschaftlichen Absicherung ihrer Todesphantasien. Aber die Apokalypse ist auch nur eine Eschatologie, ein besticktes Kopfkissen. Den wahren Schrecken erkennt nur, wer die Widersprüche erträgt.

Emigholz: Das Naturgesetz hast du formuliert mit dem Satz, dass bislang der Kapitalismus aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen ist und das, was ich kriminell nenne, sein natürliches Gebaren sei. Er kann nämlich als Person aus gar nichts gestärkt hervorgehen, genauso wenig, wie er Vitamintabletten zu sich nehmen kann. Der Krieg und die Konzentrationslager erforschen wissenschaftlich experimentell alle Bedingungen des Lebens, um sie so langfristig wie möglich zu zerstören. Diese Konsequenz gilt allerdings nur für die einzelnen Menschen und nicht für das Wirtschaftsgesetz, unter dem sie leben müssen und das für sich aus seiner Zerstörungskraft den größten Nutzen ziehen kann. Die Apokalypse und ihre Prediger interessieren mich in diesem Zusammenhang nicht, und dass kein Widerspruch wegzudichten und noch weniger wegzutheoretisieren ist, weiß ich auch. Zum Beispiel, dass keine Macht der Welt ihr Wort gegen Lager in China erheben wird, weil China ein wichtiger Wirtschaftspartner ist, in dem heute mehr Kunden unter 18 Jahren leben, als 1900 Menschen auf der ganzen Erde wandelten. Da konzentriert man sich doch lieber auf Copyright-Verletzungen bei Computerspielen.

Ripplinger: Aha.

Emigholz: In deinem verstiegen-schönen Text zu René Char (Jungle World, 1-2/03) fand ich die Bemerkung sehr interessant, dass poetische Praxis ein Gegengift zum Stress durch Folter bilden könne. Kannst du dir vorstellen, auch mal so gelassen in einen Krieg zu ziehen oder beim Gezogen-Werden gelassen zu bleiben?

Ripplinger: Du meinst vielleicht Zyngermans Erinnerung an Chars ungeheure Gelassenheit. Nein, wie kommst du auf sowas? Ich stehe doch mit offenem Mund vor diesem Leben, völlig unerreichbar, ich muss schon meinen ganzen Mut zusammennehmen, um bei Rot über die Kreuzung zu gehen.

Emigholz: Hab halt interpretiert, dachte, du willst auch mal in den Krieg ziehen. Wieso hat Char seinen Gedichtband im gleichen Jahr wie Dowschenko seinen Film »Arsenal« genannt? Warum fanden diese Kommunisten dieses Wort damals so toll? Omnipotenz- oder Buchhalterphantasien?

Ripplinger: Char war ja kein Kommunist, aber ein Militanter von Anfang an. Mir fehlt dazu der Mumm, wie gesagt. Aber den Pazifismus halte ich für unmoralisch.

Emigholz: Ich auch. Bin auch froh über meine militärische Ausbildung, weiß jetzt wenigstens, wie man einen Menschen mit einem Spaten erschlägt.

Ripplinger: Hoffentlich hast du den Spaten dabei, wenn es nötig ist.

Emigholz: Du kannst auch etwas anderes nehmen. Du solltest nur wissen, wo du treffen musst.

Ripplinger: Könntest du dich mit der Idee anfreunden, dass Kunst etwas mit Widersetzlichkeit zu tun hat. Immerhin unterbricht sie ja die Kommunikation, bringt sie doch im guten Fall die Maschine ins Stottern.

Emigholz: Jetzt bist du derjenige, der zu viel vom Vorsatz ausgeht. Die linke Schnulze »Kunst als Widerstand« ist das Hintergrundgeräusch einer auf der Strecke gebliebenen Omnipotenzphantasie. Negativ autoritär fixierter Quatsch ist das. Ich weiß, dass viele Kunstwissenschaftler von dieser Nummer leben, aber fang mal an, unter dieser Prämisse etwas aktiv zu gestalten. Bedeutungsloser Kitsch wird das. Es ist viel einfacher, als du denkst: Es gibt eben Menschenkinder, denen die Natur eine andere Sprache spricht. »To whom in love of Nature holds communion with her visible forms, she speaks of a various language« (William Cullen Bryant in »Die Wiese der Sachen«). Das hat nicht unbedingt was mit Widersetzlichkeit zu tun. Man vermisst nur etwas und versucht, eine von unzähligen Lücken zu schließen. Vielleicht bin ich zum Jahresende auch nur zu milde gestimmt. Everything falls into place.

Ripplinger: Lückenschließer, Lückenbüßer? Allzu bescheiden. Ich hätte gedacht, sie reißen die Lücken erst. Du bist milde, ich bin müde. Nicht nur deshalb gebührt dir das letzte Wort.

Emigholz: Fand das vorletzte schon gut genug. Künstler, die Lücken reißen, sind einfach nur noch albern. Lücken gibt es wahrlich ohne sie genug. Aber eine produktiv gestopfte Lücke rettet den Abend. Wenn dir das jetzt zu harmonisch ist, kann ich dir noch die Geschichte meiner Rückfahrt aus München erzählen: Ich konnte schon in der Nacht davor vor Aufregung nicht schlafen und sah durch den Vorhangschlitz in einem Fensterkreuz des Hinterhauses ein Todeszeichen, träumte von der Gruppe der »Fallenden« in der großen Steinrosette oben in der »Sagrada Familia« in Barcelona und zuletzt auch noch einen Autoaufkleber à la »Ich bremse auch für Tiere«, und zwar: »Ich mache auch in Hosen« (Die Grauen Panther). Ich war gerädert und verwirrt, und um neun Uhr sollte die Reise losgehen.

Ich wollte schon eher aus dem Haus, weil ich ahnte, dass alles schiefgehen könnte, aber Carola Regnier schlug vor, mich zum Ostbahnhof zu fahren: Das liegt auf der S-Bahnstrecke zum Flughafen, da sparst du Zeit. Am Ostbahnhof hat sie mich mit meinem Gepäck entlassen, und zuerst wollte mir niemand Geld wechseln für einen Fahrschein. Am Schalter sagten sie, wir verkaufen nur Monatskarten. Bis ich einen freundlichen Menschen gefunden hatte, war der erste Zug ohne mich abgefahren. Das bedeutet 20 Minuten auf dem Bahnsteig stehen. Nach zehn Minuten musste ich so nötig pissen, dass ich mit dem Gepäck die Treppe wieder runtergelaufen bin, dabei stürzte und mir in die Hosen machte. Vor der Sperre am Eingang zur Toilette hatte ich wieder nicht das nötige Kleingeld. Bis ich die Hosen gewechselt hatte und wieder auf dem Bahnsteig angekommen war, war auch der zweite Zug weggefahren und mein Abflug in Gefahr. Also wieder runter zum Taxistand. Die Fahrt zum Flughafen, an der Ausgangswohnung vorbei, kostete 50 Euro.

Im Terminal stand vor mir in der Schlange zum Gepäckdurchleuchten eine Szene-Tussi auf Speed, die sich weigerte, ihre Nagelschere abzugeben. Plötzlich holte sie aus und versetzte der Flughafenangestellten einen Schlag ins Gesicht. Nach langem Gerangel und großem Gekreische wurde sie abgeführt. Das Flugzeug habe ich im letzten Moment erreicht, aber es blieb noch sehr lange auf dem Vorfeld stehen, weil der Koffer der Tussi gefunden und ausgeladen werden musste. Das Flugzeug war ausgebucht, ein Billigflug. Ich saß eingezwängt zwischen einem fetten Teenager und einem schwitzenden Mann, der mit Pickeln übersät war. Der Teenager war erkältet und nieste mir so voll ins Gesicht, dass ich es abtrocknen musste. Der Pickelmann bohrte sich minutenlang so intensiv in der Nase, dass sein Zeigefinger fast darin verschwand. Der Gedanke, in dieser Gesellschaft abzustürzen, raubte mir den letzten Nerv. Danach habe ich zu Hause so lange gebadet wie noch nie, aber erholt war ich erst wieder am nächsten Morgen.