Berlin/New York-Connection

Gefährliche Orte III: William Bratton, Ex-Polizeichef von New York, besichtigt das viel zu dreckige Berlin

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Eine große bürgerliche Zeitung, wie etwa die Welt, macht eine Beilage zu seiner Sonntagsausgabe mit dem Titel: "Sie sind verhaftet", Untertitel: "Mehr und mehr Menschen werden festgenommen. Was tun, wenn Sie in Diepgens Berlin die Handschellen zu spüren kriegen." Es folgt ein dreiseitiger Artikel, garniert mit Tips wie: "Sagen sie nichts, die Polizei darf lügen, um Geständnisse zu bekommen." Oder: "Halten sie die Arme über Kreuz, so schmerzen die Handschellen nicht so sehr." Oder: "Zigaretten sind die Währung im Knast. Haben Sie immer welche dabei." Dieser Artikel ist nicht irgendein Bericht, er richtet sich an den durchschnittlichen Welt-Leser: "Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß sie verhaftet werden." Die Verbrechen, für die man verhaftet wird, sind Schwarzfahren oder in der Öffentlichkeit pinkeln. "Die gute Nachricht: die Verbrechensrate geht runter. die Polizei sagt, daß es an der Verfolgung von Lebensqualitätsverbrechen liegt ... Die schlechte Nachricht: Immer mehr Leute müssen eine Nacht hinter Gittern verbringen, weil sie in der Öffentlichkeit Bier getrunken haben."

Diese Zeitung gibt es. Der Bürgermeister heißt allerdings Giuliani und nicht Diepgen, und das Blatt, ist nicht die Welt, sondern die New York Times vom 1. Dezember letztes Jahres. Die Verbrechensrate der amerikanischen Metropole war auf dem niedrigsten Stand seit 1968. Zum ersten Mal seit Menschengedenken war zwölf Monate lang niemand im Central Park ermordet worden. Die Nachricht von der vom Verbrechen gesäuberten Stadt und ihrem neuen Sicherheitskonzept machte die Runde und landete schließlich auch in Berlin. Zwar waren in New York 1996 noch immer rund 1 000 Morde zu verzeichnen gewesen und in Berlin bei ungefähr der Hälfte der Einwohnerzahl nur 98, doch wen kümmern Zahlen, wenn das Verbrechen in Form von Drogendealern und Graffiti an jeder Ecke sichtbar ist.

Und da Berlin sich anscheinend nicht nur in den Köpfen von Politikern und Taxifahrern, sondern auch für Polizisten nur mit New York vergleichen läßt, lag für deren Gewerkschaft, der GdP, nichts näher als den Architekten des New Yorker Sicherheitskonzepts nach Berlin zu laden. Und William Bratton, Police Commissioner von 1994 bis 1996, kam, sprach, und Innensenator Schönbohm, Polizeipräsident Saberschinsky, Justizsenatorin Peschel-Gutzeit, diverse andere Politiker des Ressorts "Innere Sicherheit" und rund 50 Polizisten und Journalisten lauschten.

"Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen," begann er und Geschichte according to William Bratton hörte sich so an: In den Fünfzigern, da war die Welt noch in Ordnung. Überall patrouillierten Streifen auf den Straßen, die Bürger kannten ihre Cops, der Cop kannte seine Bürger und wirkte durch sein Vorbild auf die Umgebung. Dann kamen die Sechziger, "eine Zeit, die wir besser schnell vergessen sollten". Die Polizei wurde von den Straßen abgezogen, kutschierte nur noch im Auto herum, einzig darauf erpicht, möglichst schnell am Tatort zu sein, die Fakten aufzunehmen und sich weiter um nichts zu kümmern. Außerdem ging das ganze Wertesystem in die Binsen, Drogenkonsum wurde toleriert und Verbrechen nicht mehr dem Individuum angelastet, sondern als gesellschaftlich verursacht angesehen.

Wo die Gesellschaft alles verursachte, konnte die Polizei auch nichts mehr verhindern, sondern nur noch aufklären. Dann kamen die Siebziger, und alles wurde noch schlimmer. Die amerikanischen Städte begannen aus Geldmangel die Polizeistärke abzubauen, die zentralen Nervenkliniken wurden aufgelöst und ihre Insassen landeten auf der Straße, anstatt sich in die nachbarschaftliche Heimpflege zu begeben, und es wurden immer mehr Drogen konsumiert. Und in den Achtzigern schließlich explodierten dann all diese, von der liberalen Gesellschaft zu verantwortenden Probleme im Verbrechen.

Daß in einem solchen Szenario die Fastpleiten amerikanischer Städte in den Siebzigern nur als Kürzung des Polizeihaushalts vorkommen, daraus folgende soziale Probleme genauso wenig wie der Neoliberalismus der achtziger Jahre, versteht sich von selbst. Wer von law-and-order spricht, schweigt von den Reaganomics. Das will auch niemand hören - was die Einladenden hören wollen ist, wie "Innere Sicherheit in Ballungsräumen am Beispiel New York" gewährleistet werden kann. Und da ist Bratton der richtige Mann.

Seine Antwort sind broken-windows-Theorie und zero-tolerance-Praxis. Wo eine Scheibe kaputtgeschlagen werden darf, werden alle kaputtgeschlagen. Wo einer schwarzfährt, tun es alle. Unordnung ermutigt zu Fehlverhalten, Gelegenheit zu Verbrechen. Je früher eingeschritten wird, desto besser. Nimmt man alle Schwarzfahrer fest, erwischt man eine Menge Leute, die noch mehr Dreck am Stecken haben, denn welcher Verbrecher kauft sich eine Fahrkarte, wenn er von einem Banküberfall kommt? Prävention muß heißen, für Ordnungswidrigkeiten eingesperrt zu werden.

Als Bratton 1994 antritt, beginnt er konsequent damit, die sogenannten quality-of-life-crimes zu bekämpfen. Gepaart mit einem 2,5 Milliarden Dollar teuren Computersystem zur Speicherung und zum schnelleren Austausch von Daten über Kriminelle sinkt die crime-rate rapide. Von 2 245 Morden, 100 377 Raubüberfällen und 147 128 Autodiebstählen in 1990 auf rund 1 000 Morde, 50 000 Raubtaten und 65 000 Autoklaus im letzten Jahr. Und solche Erfolge verleihen ein Auftreten, das die Berliner Polizeispitze und die Vertreter der angeschlossenen Verlagshäuser die Backen zusammenkneifen läßt.

Daneben wirkt selbst der Berliner Polizeipräsident Hagen Saberschinsky wie ein Liberaler und wird von seinen Untergebenen auch entsprechend behandelt, selbst der Grüne Wolfgang Wieland bekommt mehr Beifall als der Berliner Chefcop. "Da kommt Sabber, der hat's nicht kapiert", murmelt ein Schnauzbart, als Saberschinsky sagt, Berlin sei nicht New York. Zwar hat auch Saberschinsky etwas anzubieten, das "Berliner Modell für mehr Sicherheit in der Stadt" nämlich, eine Reform, die die Schutzpolizei stärker in die Verbrechensbekämpfung einbeziehen soll, um die Kriminalpolizei zu entlasten. Doch die "Gewährleistung eines deutlich besseren Zugriffs auf Personal und auf Sachmittel für den Abschnittsleiter", "die bürgernahe Praktizierung von Polizeiarbeit" und "die Einführung eines funktionierenden Controllings" reißen niemanden vom Stuhl.

Besser trifft der Berliner GdP-Vorsitzende Eberhard Schönberg den Ton: "In Deutschland laufen wir der Kriminalität hinterher", "sich auf Kosten der Allgemeinheit auszuleben, gilt durchaus als modern und wird sogar vom Staat gefördert", "Berlin bleibt Hauptstadt der Verbrecher", "Ordnung muß wieder ein positiver Begriff sein". "So isset, genauso isset", tönt es aus den hinteren Reihen. Auch Innensenator Jörg Schönbohm sagt wie et is: "Die Bürger haben keine Angst vor der Polizei, sie haben Angst vor Straftätern!" "Eine Demokratie kann kein Polizeistaat werden", weil sie eben eine Demokratie sei. Und ein weiterer Stellenabbau bei der Polizei sei mit ihm nicht zu machen. Zwar gibt es in Berlin einen Polizisten auf 128 Einwohner im Vergleich zum New Yorker Verhältnis von eins zu 180, doch darum geht es nicht. In New York sinkt die Kriminalitätsrate, in Berlin steigt sie, und Schuld am Anstieg ist die Unordnung.

Im Vergleich zu Südafrika zeige die hiesige Polizei allerdings gute Präsenz auf der Straße, faßt William Bratton abschließend seinen Eindruck von Berlin zusammen. Wie wohltuend, wenn der ehemalige Polizeipräsident der Geburtsstadt der Graffiti dann doch noch zu Protokoll gibt, das erste, was ihm in Berlin aufgefallen sei, seien nicht die Polizeiautos, sondern der Müll und die Wandschmierereien. So viele gebe es sonst nur noch in New York. Das seien die ersten Zeichen, "that you might loose the war!" Da stellen sich den anwesenden Polizeispitzen die Nackenhaare hoch. Haben sie es doch gewußt. Berlin ist doch New York. Aber soweit dürfen sie es nicht kommen lassen. Berlin muß Berlin bleiben.