Wer hat Angst vorm Amerikaner?

Ob die Verteidigung des deutschen Sozialstaates zu völkischer Abgrenzung von den multikulturellen USA führt, diskutieren Günter Gaus, Richard Herzinger und Andrea Böhm

Müssen wir alle Anti-Amerikaner werden? Frau Böhm, Sie sind fünf Jahre in den USA gewesen, jetzt sind Sie seit einem halben Jahr wieder hier. Ist Deutschland, ist Europa amerikanischer geworden und inwiefern?

Böhm: Am markantesten waren für mich die neuen Bundesländer. Da hat mich sowohl vom Optischen als auch von späteren ökonomischen Recherchen her überrascht, teilweise erschrocken, daß in den letzten paar Jahren eine erstaunliche Amerikanisierung abgelaufen ist. Etwa die vielen neuen Wohnparks rund um Leipzig, die ganz extrem den amerikanischen Suburbs nachempfunden sind, die riesigen Shopping-Malls, die sehr stark auf Autoverkehr und Konsum ausgerichteten Erlebniszentren außerhalb der Stadt - also ein anti-urbanes Element. Dies in Kombination mit amerikanischen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt. Das geht leider nicht damit einher, daß gleichzeitig die neuen Bundesländer von amerikanischer politischer Kultur durchdrungen wären. In den Gesprächen gerade mit Jüngeren konnte ich ein stark nationalistisch beziehungsweise völkisch geprägtes Denken feststellen.

Herr Herzinger, in Ihren Büchern heißt es emphatisch, daß die USA die Conditio sine qua non der Freiheit böten, auch heute noch. Wie passen die von Frau Böhm beschriebenen Phänomene dazu?

Herzinger: Der Anti-Amerikanismus hat wenig zu tun mit den tatsächlichen Realitäten Amerikas. Der Anti-Amerikanismus ist eine Identifikationsfläche, an der sich europäische und insbesondere deutsche Identität immer abarbeitet, ist also so etwas wie eine Metapher. In Amerika gibt es eigentlich alles: den hochintellektuellen Osten, den fast analphabetischen und ethnisch reinen Mittelwesten. Deswegen eignet sich Amerika so gut als Identifikationsfläche, und es funktioniert auch besonders gut als Schreckbild. Nehmen wir die Angst vor amerikanischen Verhältnissen, die auch mit dem Schlagwort Globalisierung zusammenhängt: In der Tat kommt ein deutsches Modell zu seinem Ende, die Soziale Marktwirtschaft. Wenn man dieses Modell zurückverfolgt, hatte es sehr viel zu tun mit einer Volksgemeinschaftsvorstellung - das ist jetzt ganz wertfrei gesagt, eine solche gab es ja nicht nur bei den Nazis. Die Gesellschaft als organisches Ganzes, alle ihre Mitglieder von den Unternehmern bis zu den Arbeitern verpflichtet, dem sozialen Gemeinwohl zuzuarbeiten. Dieses Modell wird jetzt durch Realitäten - man kann sie bedauern oder begrüßen, aber man muß sie zur Kenntnis nehmen - zunehmend unmöglich. Mit dem Schlagwort von der Amerikanisierung wird das notwendige Nachdenken über die Veränderung dieser Verhältnisse blockiert, von links und von rechts.

Herr Gaus, Sie haben vor kurzem im Freitag geschrieben: "Mit dem erneuten Einbruch des Manchester-Kapitalismus geht eine zweihundertjährige europäische Emanzipationsgeschichte zu Ende." Am Ende des Artikels heißt es, wir müßten so etwas machen wie einen "Vatermord" an Amerika. Gibt es einen dummen und einen klugen Anti-Amerikanismus?

Gaus: Ich weiß nicht ganz genau, wo Herr Herzinger sein Schreckbild vom Anti-Amerikanismus her hat. Die Zeitungen die ich lese - FAZ, Welt, Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung, taz -: Ich kann den Anti-Amerikanismus darin nicht erkennen. Die Anti-Amerikaner sind in gar keiner Weise in diesem Lande tonangebend, weder der Bundeskanzler, noch Herr Lafontaine, noch Herr Westerwelle sind anti-amerikanisch. Auch Haider ist sehr für die Amerikaner - was ich den Amerikanern nicht vorwerfe.

Meine Generation hat mit den Amerikanern politisch zu denken begonnen. Das hat mich zu einem großen Bewunderer Amerikas gemacht, und zu einem großen Liebhaber von Amerikanern und amerikanischen Lebensgewohnheiten.

In Wahrheit kommen bestimmte Erscheinungen in Amerika nur fünf bis zehn Jahre früher zur materiellen Gewalt als in Europa und speziell in Deutschland. Ich kenne kein anderes Land in Europa, das sich nach dem Krieg in dem Maße amerikanisiert hat, wie Deutschland. Ich gehöre zu denen, die jedes Jahr reicher werden, da muß ich gar nichts tun, es genügt das, was ich an Eigentum habe. Das kann ich nicht so toll finden - es ist ganz angenehm, aber ich kann es nicht als einen großen ethischen Fortschritt ansehen. Und immer mehr Leute werden ärmer. Unsere Eliten in Politik und Wirtschaft, die angeschlossenen Feuilletons und die dazu passenden Lehrstühle sehen ihren größten Vorteil in einem Wirtschaften ˆ l'americaine. Und dieses tut den meisten Leuten im Land nicht wohl. Es gibt nicht den Anti-Amerikanismus. Sondern mit der Behauptung, dies sei das Richtige oder zumindest das Normale, wird den Benachteiligten gesagt: Wenn du dich wehrst, dann verstößt du gegen die Lebensphilosophie und Lebenskultur eines Zustandes, den wir eigentlich erreichen müssen, nämlich den amerikanischen.

Herzinger: Ich erinnere mich an eine Szene kürzlich im Bundestag, als der berüchtigte Westerwelle sagte, daß er keine amerikanischen Verhältnisse wolle - also genau der Mann, der ansonsten als Inbegriff des Manchester-Kapitalismus gilt. Die Behauptung, es würde hierzulande die amerikanische Wirtschaftsweise propagiert, geht auf eine andere Wahrnehmung der Wirklichkeit zurück.

Wenn man Ihre Bücher liest, dann sind ja sowohl die Achtundsechziger als Nazi-Kinder, als auch die Unterzeichner der Erfurter Erklärung, Niekisch ebenso wie Gaus im Sammeltopf "Anti-Amerikaner".

Herzinger: Ich werfe nicht alle in einen Topf, sondern ich stelle lediglich fest, wie der Affekt, Amerika gleich freie Marktwirtschaft gleich Kapitalismus, wirkt. Es war auch interessant, daß Herr Gaus Amerika reduziert hat auf das Geldverdienen ...

Gaus: ... hab' ich nicht. Ich habe von dem gesprochen, was mir Amerika nach 1945 bedeutet hat. Ich bin durch Amerika zivilisiert worden. Ich liebe dieses Land.

Herzinger: Das ist jetzt aber gar nicht verlangt, daß Sie sagen, ich liebe es.

Gaus: Aber ich darf es doch, oder? Sie haben gesagt, ich hätte nur über Wirtschaft geredet, und das ist nicht wahr.

Herzinger: Ich versuch's nochmal anders: Ich glaube, daß Ihre heutigen Ausführungen im Vergleich dazu, wie ich Ihre Position ansonsten kenne, etwas milde waren. Zum Beispiel Ihre Forderung des "Vatermordes", der an Amerika verübt werden solle. Das scheint mir doch eine gefährliche Position zu sein, weil darin die nationale Identitätssuche der Deutschen, und die gibt es ja auf der Linken wie auf der Rechten in verschiedener Form, ein ganz zentrales Element ist: Wir müssen uns jetzt von Amerika lösen; wir sind denen zwar zu Dank verpflichtet, aber jetzt muß da so eine Art Vatermord stattfinden. Und ich möchte da ganz emphatischen Einspruch einlegen. In dem Moment, in dem sich die Amerikaner aus Europa zurückgezogen haben, nach 1989, ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt, ein ethnischer Vertreibungs- und Vernichtungskrieg in Bosnien. Einhalt geboten werden konnte dieser Katastrophe erst, nachdem die Amerikaner wieder die Initiative ergriffen hatten. Europa braucht Amerika, unter dem Aspekt der Freiheit und der offenen Gesellschaft, mehr denn je. Warum sind es immer die Amerikaner, die letztlich zivilisatorische Maßstäbe, Freiheitsmaßstäbe notfalls auch durch Intervention verteidigen? Weil sie eben einen sehr emphatischen Begriff der individuellen Freiheit haben, der uns hier sehr fehlt. Wie kommt dieser emphatische Begriff zustande? Er kommt aus dem Interesse der Amerikaner her, den freien Weltmarkt zu verteidigen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.

Böhm: Ich würde es gerne mal ein bißchen sortieren. In Bezug auf Sicherheits- und Außenpolitik ist Europa nach wie vor auf die USA angewiesen. Anders ist es, wenn wir über den Umbau unseres Sozialstaates sprechen: Es gibt, das hat Herr Gaus angesprochen, eine Wirtschaftselite hier in Deutschland, die sich freut, daß es mit dem schönen Konsensmodell und Wohlstand sowie Arbeit für alle zu Ende ist. Sich dagegen zu wehren, ist überhaupt nicht anti-amerikanisch. Da kann ich Ihnen auch eine Reihe amerikanischer Intellektueller aufzählen, unter anderem auch eine Reihe amerikanischer Kabinettsmitglieder. In den Anfängen der Clinton-Regierung hat etwa der damalige Arbeitsminister propagiert: Wir müssen uns einiges bei den Europäern abschauen, weil sie einen gewissen Sozialstaat haben.

Warum unterläuft es eigentlich im öffentlichen Diskurs so häufig, daß man Amerika sagt und Kapitalismus meint? Warum fällt es uns schwerer vom Kapitalismus zu sprechen, als etwa den Franzosen und Amerikanern?

Gaus: Herr Herzinger, Sie haben Amerika in einer Totalität auf die Höhe eines Altars gehoben, wie ich es sonst nur bei eher beschränkten SED-Genossen gehört habe, wenn sie über die Sowjetunion gesprochen haben. Es fehlt mir, selbst bei einer so kurzen Diskussion wie hier, das Differenzierungsvermögen.

Es gibt in Amerika sehr starke - nicht politisch stark, aber stark engagierte - Antikapitalisten. Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, daß ein Teil von Amerika den von allen sozialen Verpflichtungen freien Kapitalismus sehr weit getrieben hat. Und warum wir derzeit Amerika als Synonym für Kapitalismus haben, hängt mit der Diskussion um den Sozialstaat zusammen: Ob wir sagen, wir wollen ohne Rücksicht diesen Teil des amerikanischen Way of Life übernehmen. Oder ob wir, solange die finanziellen Verhältnisse es zulassen, das nicht tun, und zwar keineswegs aus einem Kulturhochmut gegenüber der amerikanischen Zivilisation, sondern nur aus Erbarmen mit den Schwachen.

Herzinger: Sie vertreten doch seit Jahrzehnten eine politische Richtung, die eine gewisse Distanz von den USA bevorzugt, und Sie gehören auch zu denen, die für das Modell eines Dritten Weges zumindest gewisse Sympathien hegen.

Gaus: Ich bin immer auf der Seite Henry Kissingers, der gesagt hat, wir brauchen eine europäische Säule. Europa muß eine europäische Säule für die Nato bilden, damit Amerika blüht, wächst und gedeiht. Ich bin da sehr amerikanisch, und das mit dem Dritten Weg haben Sie mir untergeschoben.

Herzinger: In den USA wird die Diskussion über die Notwendigkeit von Sozialstaatsstrukturen über kurz oder lang kommen. Ich halte das für einen wechselseitigen Prozeß zwischen Europa und den USA. Sie aber sagen: So lange wie möglich müssen wir unseren Sozialstaat verteidigen. Das ist konservativ-defensives Herangehen an die Diskussion: Wir stehen einem übermächtigen Schicksal, der Amerikanisierung, gegenüber, und wir müssen jetzt unsere kleinen Reste von "Erbarmen" so lange wie möglich retten. Ich plädiere dafür, daß man diese defensive Haltung aufgibt, daß man sich diesen Veränderungen stellt. Zum Thema Kapitalismus und Amerika: Es ist ein linksliberales Topos zu sagen: Die politischen Institutionen Amerikas wollen wir haben, nur diesen entfesselten Kapitalismus nicht. Da lügt man sich etwas in die Tasche. Die freiheitlichen Institutionen sind nicht zu trennen von den wirtschaftlichen Freiheiten.

Mit anderen Worten, man kann den Kapitalismus nur ganz oder gar nicht haben. Frau Böhm, könnte es sein, daß Herr Herzingers Lob für Amerika in einem Punkt Sinn macht, nämlich Amerika mit seinen offenen Grenzen als Vorbild einer Einwanderungsgesellschaft?

Böhm: Wenn man einen Lehrplan - Was können wir von den Amerikanern lernen? - aufstellen würde, wäre Schritt eins, daß sie einen genial-pragmatischen Umgang mit der Einwanderung haben. Schritt zwei wäre, wie sie dem durch eine bestimmte Einbürgerungspolitik Rechnung tragen, im Gegensatz zu Deutschland. Ich war nach meiner fünfjährigen Abwesenheit schockiert, wie wenig sich hierzulande auf dem Gebiet der Staatsbürgerrechts-Reform getan hat. In den USA wird man im Unterschied zu Deutschland nicht ab-, sondern regelrecht angehalten dazu, Staatsbürger zu werden, sprich gleiche Rechte und gleiche Pflichten zu haben. Auch die amerikanische Politik trägt durch Symbole und Rituale der Tatsache Rechnung, daß die USA ein Einwanderungs-, ein multi-ethnisches Land sind - was gerade unserer CDU/ CSU-geprägten Regierung völlig abgeht. An diesen beiden Punkten muß sich Deutschland dringend, im Osten wie im Westen, ein Beispiel an den Amerikanern nehmen.

Günter Gaus war Ständiger Vertreter der BRD in der DDR und ist heute Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag. Richard Herzinger ist Autor der Bücher "Die Tyrannei des Gemeinsinns. Ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" (Berlin 1997) und "Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Anti-Westler" (Reinbek 1995). Andrea Böhm arbeitet als USA-Korrespondentin für die taz.

Die Diskussion fand am 5. Oktober im Berliner Ensemble statt, wurde live von SFB-Radio Kultur gesendet und für den Abdruck redaktionell gekürzt und geringfügig redigiert.