»Die asiatische Grippe - tödlich für den Kapitalismus?«

Über Cash und Crash, das große Casino und die kleinen Tiger, Globalisierung und Antisemitismus diskutieren die Autoren.

In einem Artikel für die brasilianische Tageszeitung Folha de S‹o Paulo sprechen Sie davon, der aktuelle Börsenkrach könnte zum Zusammenbruch der Finanzmärkte führen. Nun haben sich die Kurse aber wieder erholt.

Bei jedem Aktiencrash gibt es retardierende Momente, ein Auf und Ab. Das war selbst beim Schwarzen Freitag an der Wallstreet 1929 so. Die jetzigen Turbulenzen können noch Wochen gehen, und eines steht fest: Anders als beim Crash 1987 wird es diesmal nicht wieder zehn Jahre dauern, bevor der nächste Absturz folgt. Im übrigen setzen meine Analysen der Zusammenbruchstendenzen der globalen Kapitalverwertung auf einer anderen Ebene an. Es geht um die innere Schranke der - wie Marx sagt - auf dem Wert beruhenden Produktionsweise. Der Börsencrash ist nur ein Teil dieser Prozesse, ein recht oberflächlicher zumal.

Woher nehmen Sie Ihre Gewißheit?

1987 war die New Yorker Börse getroffen, jetzt sind es die Kapitalmärkte in Fernost, das schwächste Kettenglied des globalen Kasinokapitalismus. Bis vor kurzem schwärmte man ja noch vom "pazifischen Jahrhundert", das Schwergewicht der künftigen Weltwirtschaft werde sich von den atlantischen Beziehungen zwischen den USA und Europa auf das pazifische Becken verlagern. Jetzt hat sich herausgestellt: Die Traumregion des Wachstums ist schon nach wenigen Jahren zum Alptraum geworden. Der ostasiatische Boom hatte niemals im Sinne des Realkapitals seriöse Grundlagen, sondern wurde von Anfang an durch das Schwungrad eines transkontinentalen Defizitkreislaufes getrieben.

Die völlig einseitige japanische Export-Industrialisierung häuft seit mehr als einem Jahrzehnt gewaltige Überschüsse im Handel mit den USA an. Aber die USA bezahlen die japanischen Waren weder mit dem Erlös aus eigenen Exporterfolgen noch mit eigenen Ersparnissen, sondern mit Schuldscheinen, also Staatspapieren, die zu einem Gutteil von den Japanern gekauft werden. Anders gesagt: Die Japaner pumpen den Amerikanern Geld, damit die ihre Exporte kaufen können - eine Münchhausiade, die nicht gutgehen kann.

Zu diesem großen pazifischen kommt noch ein kleiner innerasiatischer Defizitkreislauf: Die Tigerstaaten mußten ihre Exporterfolge mit Handels- und Kapitalbilanzdefiziten bezahlen. Ihre Exportindustrien beherrschen nur einen geringen Teil der Fertigungstiefe, bis heute müssen sie teure Investitionsgüter und Komponenten der Produktion in Japan einkaufen.

Die Tigerstaaten bezahlen ihre Schulden bei Japan mit Exportüberschüssen im Handel mit den USA, und die USA finanzieren ihre Importe aus Asien mit geliehenem Kapital aus Japan. An dieser Stelle des globalen Verwertungszusammenhanges hat jetzt der Crash eingeschlagen - das ist der Unterschied zu 1987.

Die Wirkung des Crashs von 1987 zeigt sich nicht zuletzt in dem drei Jahre später folgenden Crash der japanischen Börse. Und der hatte sehr wohl Auswirkungen auf die Realökonomie: Die Banken mußten ungefähr eine Billion Dollar an faulen Krediten abschreiben, das wird aus den realen Erträgen abgestottert. Resultat: Seither gibt es praktisch in Japan kein Wirtschaftswachstum mehr - eine siebenjährige Flaute, und zwar obwohl die Regierung schon sieben, acht Konjunkturprogramme aufgelegt hat. Und das Problem ist noch längst nicht ausgestanden: Das durch die faulen Kredite aufgehäufte Defizitgebirge wurde kaum abgetragen, es wird lediglich in irgendwelchen Fonds ständig umgeparkt.

Die Lage wird durch den Aktiencrash in Südostasien erheblich verschärft: Denn dorthin haben die japanischen Banken ebenfalls eine Menge Kredite gegeben, die sie jetzt abschreiben müssen. Zu dem Defizitgebirge von 1990, das die japanische Realökonomie fast erdrückt, kommt jetzt also ein zweites hinzu.

Die Aktienkurse in Fernost sind abgestürzt, statt dessen haben die Anleger amerikanische Staatspapiere gekauft. Damit ist doch aber die wichtigste Saugpumpe des asiatischen Defizitkreislaufes gestärkt worden - the show can go on.

Die Beobachtung stimmt. Der kritische Punkt kommt dann, wenn die japanischen Großanleger ihre US-Staatspapiere verkaufen müssen, weil sie das Geld brauchen, um zu Hause die Zinsen für die faulen Kredite bedienen zu können. Dann würden auch die Kurse der US-Staatsanleihen ins Bodenlose fallen, und damit wäre der vermeintlich "sichere Hafen", in den sich das Geldkapitel vor dem Aktiencrash bisher immer gerettet hat, versperrt. Dem frei flottierenden Geldkapital bliebe dann nur noch die Flucht ins Gold. Das wäre der Weltuntergang der Finanzmärkte. Diese Prognose stammt übrigens nicht von mir, sondern von einem Vertreter der Deutschen Bank nach dem Erdbeben von Kobe im Jahre 1995. Schweißgebadet und sichtlich nervös hat der Herr damals auf einer Pressekonferenz geäußert, zur Behebung der riesigen Schäden müsse Japan eventuell US-Staatsanleihen im großen Maßstab verkaufen, das wäre der Kollaps des Weltfinanzsystems.

Die US-Staatsanleihen machen doch aber einen sehr viel solideren Eindruck als noch vor einigen Jahren. Immerhin hat die Clinton-Regierung die Budget-Defizite in Griff bekommen, dieses Jahr wird sogar ein kleines Plus erwartet - eine Sensation im Vergleich zu den EU-Staaten, die nur mit Mühe und Tricks die Dreiprozentmarke des Maastrichter Vertrages schaffen.

Die Neuverschuldung ist gesunken, aber wahrscheinlich nur kurzfristig. Die gesamte Schuldenlast steigt weiter über die Verzinsung. Und da die US-Bürger kaum sparen, muß die Clinton-Regierungen Geld im Ausland aufnehmen, um den Zinsdienst leisten zu können. Das passiert über die Staatspapiere.

Im Unterschied zu 1929 wird das Weltfinanzsystem durch ein hochentwickeltes Sicherheitssystem vor dem GAU geschützt. So hat der IWF auf Druck der USA 1995 innerhalb weniger Wochen 50 Milliarden Mark zur Rettung Mexikos mobilisiert, im Falle von Liquiditätsengpässen Japans oder der USA würde sich der IWF sicherlich auch nicht lumpen lassen.

Der IWF kann nicht immer helfen. Im August hat er den Tiger-Staaten 18 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt - aber der Verfall der Währungen konnte nicht aufgehalten werden, und die Krise hat sich auf die Börsen ausgeweitet. Und was Mexiko angeht: Der Peso wackelt schon wieder, da die asiatische Grippe eben auch Südamerika nicht unberührt gelassen hat. Das scheint mir das Hauptproblem zu sein: Solange die Entwertung fiktiven Kapitals auf eine Weltregion eingegrenzt bleibt, kann der IWF recht und schlecht mit Finanzspritzen helfen. Was ist aber, wenn ein solcher Entwertungsschock gleichzeitig in mehreren Weltgegenden auftritt?

So ist die gefährliche Anbindung der nationalen Währungen an den Dollar keine Spezialität Südostasiens, auch in Lateinamerika und Osteuropa behilft man sich damit. Man versucht, damit das Vertrauen der Kapitalmärkte zu gewinnen, indem man Konvertierungsverluste infolge von Abwertungen ausschließt, scheinbar ausschließt. Doch die Fixierung der Wechselkurse auf dem hohen Dollar-Niveau ist ein politisches Manöver, das in allen diesen Staaten keine reale ökonomische Grundlage hat. Kein Wunder also, daß sich die großen internationalen Hedge-Fonds zur Spekulation gegen die künstlich gestützten Währungen herausgefordert sehen. Jetzt fallen die Wechselkurse wie die Dominosteine, einer nach dem anderen.

Sie sprechen von einem globalen Überhang an fiktivem Kapital, das nicht durch reale Wertschöpfung gedeckt sei. Im Unterschied zu Ihnen gehen etwa Reiner Trampert und Thomas Ebermann davon aus, daß die Mehrwertproduktion global zunimmt, weil immer mehr Menschen in sie einbezogen werden, die vorher nicht für Kapitalisten, sondern für ihre Subsistenz oder für nicht-kapitalistische Staatsbetriebe gearbeitet haben.

Die nehmen es mit dem Begriff der mehrwertschaffenden Arbeit leider nicht besonders genau. Ihre Beispiele aus Asien handeln oft nicht von Mehrwertproduktion, sondern vom Staatskonsum, der anderswo produzierten Mehrwert wegfrißt - etwa staatliche Infrastrukturprojekte und Baumaßnahmen.

Außerdem kann die Masse an Industriearbeitern in Asien durhaus zunehmen, ohne daß die von ihnen produzierte Wertmasse wächst. Wenn 100 Leute mit relativ primitiver Technik arbeiten, produzieren sie möglicherweise nicht mehr Wert als ein Arbeiter mit High-Tech - die Globalisierung sorgt für die Durchsetzung der höchsten Produktivität als Wertmaßstab.

Sie haben überzeugend nachgewiesen, daß die Reproduktion hauptsächlich an fiktiven Wertschöpfungsprozessen hängt. Trotzdem teile ich Ihre Kollaps-Theorie nicht. Adorno und Horkheimer kamen nämlich schon in den dreißiger Jahren zu dem Befund, daß das Wertverhältnis ausgehöhlt sei, daß der Kapitalismus zu einem Ausbeutungsverhältnis neuen Typs geworden sei, in welchem die Gewalt dominiert, und nicht der Wert.

Horkheimer glaubte an die falsche Aufhebung der Konkurrenz durch den autoritären Planstaat. Ähnliche Ansätze finden sich später bei den italienischen Operaisten wie Negri. Das ist doch längst durch die reale Entwicklung widerlegt. Heute scheint man die Verselbständigung des fiktiven Kapitals für bare Münze zu nehmen. Dahinter steckt der schöne Glaube, daß der Kapitalismus sich selbst simulieren könne. Form und Inhalt werden zerrisen: Weltmarkt, Lohn usw. soll es geben, aber keine Wertsubstanz, keinen realen Verwertungsprozeß mehr. So wird der Weg zu postmoderner Beliebigkeit in der Wahl der Begriffe gebahnt.

Auch der Feudalismus hat noch Jahrhunderte existiert - die Zäsur war erst 1789 -, obwohl seine ökonomische Basis schon seit dem 14. Jahrhundert durch Elemente des Ware-Geld-Systems unterhöhlt war.

Das ist ein schräger Vergleich. Es gab verstärkt monetäre Elemente, das heißt die Bauern mußten statt Naturallieferungen mit Geld bezahlen. Aber der ökonomische Kern des Feudalsystems, die Ausbeutung der bäuerlichen Arbeitskraft, war unangetastet. Im Unterschied dazu ist der Kern des Kapitalismus, nämlich die Vernutzung abstrakter menschlicher Arbeit, tatsächlich in in einer tiefen Krise.

Ich teile nicht die Kritik von Ebermann/Trampert, daß Ihre Herausarbeitung der Krisenprozesse im Finanzüberbau latent antisemitisch sei. Dennoch ist der Gesamtdiskurs zum Thema "Globalisierung", die ganze psychopathische Spekulantenjagd, durchaus von antisemitischen Stereotypen durchsetzt.

Ich habe mich in vielen Aufsätzen gegen diese Spekulanten-Phobie gewandt und auch die Parallelitäten zum Antisemitismus aufgezeigt. Nehmen wir den Bestseller "Globalisierungsfalle": Da werden Ursache und Wirkung verwechselt. Die Realakkumulation ist nicht deswegen in eine Krise gekommen, weil Spekulanten lieber in Zockereien an der Börse investieren, sondern es gilt das Umgekehrte: Weil die Realakkumulation in eine Krise geraten war, schon seit Mitte der siebziger Jahre, ist anlagesuchendes Kapital in die Finanzsphäre abgeflossen.

Aber kann man diesen latent antisemitischen Diskurs brechen, wenn man auf demselben Ticket reist wie die Spekulantenjäger, also "Globalisierung" und "Casinokapitalismus"?

Der in der sozialwissenschaftlichen Diskussion weltweit geläufige Begriff "Globalisierung" ist doch kein antisemitisches Ticket, er verweist auf reale Phänomene. Die Widersprüche, die die kapitalistische Krise erzeugt, rufen natürlich auch bösartige Interpreten auf den Plan. Doch deswegen darf man sich nicht davon abhalten lassen, diese Widersprüche zu benennen und zur Kenntnis zu nehmen.

Ein anderes Beispiel: Lenin und Hilferding hatten sicherlich recht, als sie das neue Stadium des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beschrieben, dabei auch auf die neue Rolle des Finanzsektors hinzuweisen. Trotzdem bot Lenins Polemik gegen die Finanzaristokratie, entgegen seiner Intention, Futter für den "Antikapitalismus des dummen Kerls" in der Arbeiterbewegung, den Antisemitismus.

Diese starken antisemitischen Tendenzen im Arbeiterbewegungsmarxismus gehen eher auf Lenins positiven Arbeitsbegriff zurück. Die Ontologisierung der Arbeit brachte den Gegensatz, die Stigmatisierung von Geld und zinstragendem Kapital, notwendig mit sich.