Die Wehrpflicht muß weg!

Ein verkleinertes Heer von Berufssoldaten ist leichter zu integrieren.

Die Wehrpflicht ist aus sicherheitspoliticher Sicht schon lange nicht mehr zu rechtfertigen. Doch die Vorstellung, daß die Wehrpflicht zum unverzichtbaren Kernbestand deutschen Militärs gehört, ist - auch unter Linken - immer noch weit verbreitet. Und weil es sicherheitspolitisch nur noch schwer zu vermitteln ist, warum man alljährlich 400 000 junge Männer zur Musterung zitiert, werden andere Legenden bemüht. Eine Allianz unterschiedlichster politischer Couleur erwartet von den Wehrdienstleistenden oft nicht weniger, als das Militär zu zivilisieren, die Demokratieverträglichkeit zu steigern, es in die Gesellschaft einzubinden sowie den Rechtsruck, den Staat im Staat - und als neueste Variante - den Einsatz der Bundeswehr Out-of-area zu verhindern. Selbst der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt, Volker Rühe, beschwört die Wehrpflicht mit der Begründung, daß uns andernfalls eine Berufsarmee französischen Zuschnitts ins Haus stünde, die nur noch eines im Sinn hätte: weltweit zu intervenieren.

Wer tatsächlich glaubt, daß ein zehn Monate dienender Wehrpflichtiger einen kontrollierenden Einfluß auf die Bundeswehr ausübt oder über den Einsatz der Bundeswehr befindet, leidet unter Realitätsverlust. Diese Aufgaben obliegen dem Parlament, der Wehrbeauftragten, der Bundeswehrführung, den militärischen Vorgesetzten und der Öffentlichkeit. Statt Zivilisierung erleben wir in jüngster Zeit genau das Gegenteil. Immer häufiger brechen bei jungen Soldaten zivilisatorische Dämme. Der oberste Deichgraf wird die Geister, die er mit der Propagierung internationaler Militäreinsätze und mit seinen Werbespots rief, nicht mehr los. Die meisten rechtsradikalen Ausschreitungen, die in der Öffentlichkeit publik wurden, sind bekanntlich von Wehrpflichtigen begangen worden. Angespornt durch den militärischen Alltag, eine demokratieferne Traditionspflege, die kriegsnahe Ausbildung und das Gefühl einer unheimlich starken, omnipotenten Truppe anzugehören, verlieren einige ihre zivilgesellschaftlichen Hemmungen.

Wer vor diesem Hintergrund davor warnt, die Wehrpflicht abzuschaffen und auf die alljährliche Einberufung von 150 000 Männern besteht, macht den Bock zum Gärtner. Für die Grünen gehört die Abschaffung der Wehrpflicht, gerade unter dem Blickwinkel der permanenten handwerklichen und ideologischen Militarisierung, zu den politischen Urforderungen. Wehrpflicht bedeutet, daß jeder Mann, sofern er von der Bundeswehr nach deren eigenen, durchaus flexibel gehandhabten Kriterien für kriegsverwendungstauglich befunden wurde, sich unter Androhung von Zwangsmaßnahmen die Fähigkeit und Bereitschaft zum Töten aneignen muß. Auf diese Weise hat allein die Bundeswehr bisher mehr als acht Millionen Männer zur militärischen Gewaltanwendung vorbereitet. Wenn wir uns als Bündnisgrüne gegen die Wehrpflicht aussprechen, dann deshalb, weil niemand das Recht hat, andere Menschen zu zwingen, aktiv zur Tötung und Vernichtung anderer beizutragen. Die bis heute ungebrochene Regel: "Wenn der Staat das Leben fordert, so muß das Individuum es geben" (Hegel), hat die Massenschlachten der Vergangenheit und die Kriege der Neuzeit erst ermöglicht. Von diesem Verfügungsrecht des Staates müssen wir weg.

Den "ewigen Frieden" werden wir damit zweifellos nicht erreicht haben. Während die Abschaffung des Krieges und die Auflösung der Armeen eine langfristige Menschheitsaufgabe ist, ist die Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland in reale Reichweite gerückt. Diese Gelegenheit muß entschiedener als bisher genutzt werden. Elementar für den friedenspolitischen Erfolg ist die Verknüpfung mit einer deutlichen Verringerung des Personalumfangs der Bundeswehr. Umgekehrt gilt: Ohne die Bereitschaft zum Verzicht auf die Wehrpflicht, wird es keine weitere Reduzierung der Bundeswehr mehr geben. Darüber müssen sich die Wehrpflicht-Dogmatiker im klaren sein. Die gegenwärtigen Verhandlungen über die Anpassung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa eröffnen die Chance, den Streitkräfteumfang auch europaweit zu reduzieren. Die Bundesrepublik muß unseres Erachtens hierzu deutliche Abrüstungsangebote machen. Eine Bundeswehr mit eng begrenztem defensivem Schutzauftrag und einem Drittel der jetzigen Stärke von 340 000 Mann, wie z. B. von den kritischen Soldaten des Arbeitskreises Darmstädter Signal vorgeschlagen, wäre zweifellos ein gewaltiger Abrüstungserfolg.

Die Abschaffung der Wehrpflicht wird zu einer der zentralen Aufgabe der nächsten Bundesregierung werden. Umso wichtiger ist es, daß sich auch Kirchen, Gewerkschaften, Friedensbewegte u.a. aktiv und konstruktiv in die Diskussion "Was kommt nach der Wehrpflicht" einschalten. Aus bündnisgrüner Sicht kommt es darauf an, daß die Abschaffung der Wehrpflicht und die Reduzierung der Bundeswehr gleichzeitig von anderen friedensförderlichen Maßnahmen begleitet wird. Hierzu gehören u.a. die Begrenzung des militärischen Auftrags der Bundeswehr, eine bessere politische und öffentliche Kontrolle sowie Befreiung von kriegsverherrlichendem und antidemokratischem Traditionsballast. Eine kleinere, überwiegend aus Zeit-, statt Berufssoldaten bestehende Freiwilligenarmee wäre auch leichter zu kontrollieren und gesellschaftlich zu integrieren. Außerdem würden wichtige Ressourcen frei, die für den Auf- und Ausbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung genutzt werden könnten. Die Abschaffung der Wehrpflicht ist eine friedenspolitische Chance. Wir sollten sie nutzen.

Winfried Nachtwei, MdB Bündnis 90/Die Grünen, ist Mitglied im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages