Der große Atomumstieg

Während die deutsche Regierung um einen möglichst abgefederten Einstieg in den Ausstieg bemüht ist, hat die Nuklearindustrie längst Osteuropa als neuen Absatzmarkt entdeckt

Gute Nachrichten für die europäische Atomindustrie: Die Betreiberfirmen der Wiederaufbereitungsanlagen in Sellafield und La Hague müssen nun doch nicht damit rechnen, daß ihre Verträge mit den deutschen Kunden frühzeitig in die Binsen geht. Und auch die deutsche Atomindustrie kann optimistischer in die anstehenden Konsensgespräche mit der Bonner Regierung gehen, nachdem Umweltminister Jürgen Trittin im Streit mit dem Wirtschaftsministerium einen Kompromiß nach dem anderen ins Spiel bringt. Der Einstieg in den Ausstieg wird, so der Eindruck, den das Ministerium des Grünen in der vergangenen Woche hinterlassen hat, zunehmend zum Abfederungsprogramm für abgehalfterte Atommeiler, während die deutsche Stromkonzerne den atomaren Nachschub via europäischer Osterweiterung organisieren.

Gut zwei Monate lang ist der grüne Umweltminister gegen das Wirtschaftsministerium standhaft geblieben. Am Mittwoch vergangener Woche, sieben Tage, bevor der Koalitionsausschuß zu ersten Verhandlungen über die Atomgesetznovelle zusammengetreten ist, gab Trittins Behörde nach. Der grüne Umwelts-Staatssekretär Rainer Braake einigte sich mit Wirtschaftsminister Werner Müller darauf, ein Ankündigungsgesetz für den Ausstieg aus dem Recycling deutschen Atommülls im Ausland zu verabschieden. Während sich Trittin bislang, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, für das sofortige Verbot stark gemacht hat, bleibt den Energieversorgern nun ein Jahr Zeit. Ein Jahr, in dem die Verträge möglichst ohne Schadensersatzklagen der französischen oder britischen Wiederaufbereiter gekündigt werden sollen. Erst dann, so soll jetzt in der Atomgesetznovelle festgeschrieben werden, tritt das Verbot in Kraft.

Über den Hintergrund des Zurückweichens in Trittins Behörde darf zunächst spekuliert werden, denn im Bundesumweltministerium gibt man sich zurückhaltend. "Bisher weithin unbekannte europarechtliche Probleme" seien aufgetaucht, weiß der Spiegel aus dem Bonner Innenleben zu berichten. Das Magazin spricht von Kündigungsklauseln internationaler Verträge, nach denen den Stromversorgern Strafgelder in Höhe von 1,4 bis 5,5 Milliarden Mark ins Haus stehen könnten. Bislang streiten sich jedoch die Juristen noch über verschiedene Auslegungen des Euratom-Vertrags und der Euratom-Grundnormen. Folglich auch über die Relevanz der europäischen Abkommen.

Einigkeit herrscht dagegen wieder im Bonner Kabinett. Im Wirtschaftsministerium war man nach dem ausgehandelten Kompromiß zufrieden und kündigte an, die Sachlage zu prüfen. Antje Radcke, die "linke" der beiden Vorstandssprecherinnen der Grünen, gab Trittin Rückendeckung, und ihre Kollegin Gunda Röstel sprach von "einem sehr interessanten Vorschlag". Zur Durchsetzung des Kompromisses scheint nur noch das d'accord von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu fehlen.

Und der wird zweifellos wieder besser auf seinen Umweltminister gestimmt sein. Zumal Trittin noch in einem weiteren Streitpunkt eingeknickt ist, der im Koalitionsausschuß eine Rolle spielen wird: die Besteuerung von Kernbrennstäben. Der Vorschlag sei ohnehin nur eine Modellrechnung gewesen, ließ Trittin, kaum hatte er die Forderung zwei Tage zuvor auf die politische Tagesordnung gesetzt, wissen. Die Grünen wollten schließlich nur die Gleichbehandlung der Energieträger. Wenn also eine Steuer auf Kernbrennstäbe abgelehnt werde, dann müßten zumindest die Steuern, die momentan auf Gas und Heizöl erhoben werden, wegfallen.

Ein interessanter Vorschlag für den Vorstandsvorsitzenden der Bayernwerke, Otto Majewski. Doch im Moment grübelt Majewski noch über die Auflösung der Reaktorsicherheitskommissionen durch den Umweltminister vor knapp drei Wochen. Wohl in der Hoffnung, die Koalitionspartner gegeneinander ausspielen zu können, fordert der Bayernwerke-Chef, die Neubesetzung der Gremien in den Konsensgesprächen zu verhandeln. Trittin dagegen will die Kommissionsmitglieder bereits in den nächsten Tagen benennen. Dies soll, so erklärte der Umweltminister vergangene Woche, im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler geschehen. Auch wenn Trittin unter Druck von Schröder - der eine solche Rücksprache gefordert hatte - handelt, wollte er hier zumindest beweisen, daß die Atomwirtschaft keine Befugnis hat, sich in die Besetzung der Beratergremien des Bundes einzumischen.

Nicht nur die Bayernwerke, vor allem der Siemens-Konzern macht sich derzeit im Kampf für der Atomenergie aufgeschlossene Gremien stark. Heinrich von Pierer, Chef des Unternehmens, un-ternahm schon im Dezember 1998 Anstrengungen, um den Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), Adolf Birkhofer, in seinem Amt zu halten. Kein Wunder: Der Siemens-Konzernbereich Kraftwerk Union (KWU) hat fast alle neueren AKW in Deutschland gebaut.

Doch während sich Siemens hier nun auf den abgefederten Ausstieg mit möglichst geringen Reibungskosten vorbereitet, liegt der momentane Schwerpunkt der KWU beim Reaktorbau in Osteuropa. So gab das Unternehmen im September vergangenen Jahres bekannt, KWU sei der einzige Anbieter für einen kompletten Kraftwerkspark in der Region. Insgesamt 44 Reaktoren will man modernisieren, 18 neue Reaktoren sollen entstehen. Aufträge mit einem Volumen von 15 Milliarden Mark, wie das Unternehmen 1996 mitteilte. Das einzige Problem ist dabei in zahlreichen Fällen die Finanzierung.

Zuletzt verhandelten die Osteuropa-Bank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) mit der Regierung der Ukraine. Hier geht es um Kredite im Umfang von 190 Millionen Mark, die zum Bau der Reaktorblöcke Khmelnits-ky 2 und Rivne 4 dienen sollen. Eine Kreditvergabe der Osteuropa-Bank zum Bau des AKW Mochovce ist jedoch gescheitert, weil die tschechische Regierung sich weigerte, die Auflagen der Bank zu erfüllen. Auch hier war Siemens mit von der Partie: 85 Prozent des Auftrages hatte die KWU übernommen. Als die Osteuropa-Bank ausstieg, meldete sich der Bund zu Wort. Mit einer Hermes-Bürgschaft im Umfang von 146 Millionen Mark sicherte er das Geschäft des Unternehmens ab.

Mit der Nichteinhaltung bestimmter Auflagen droht nun auch die ukrainische Regierung. Das Land, das rund 50 Prozent seiner Energie aus der Atomkraft bezieht und noch stark unter den Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl leidet, kündigte vor kurzem an, die dort verbleibenden Reaktorblöcke wieder anzufahren, sollte es keine neuen Kredite geben. Die Chancen für Siemens stehen hier also um einiges besser.

Auch eine zweite Unternehmung verspricht Profit: Nach dem Treffen der G 8-Energieminister im Frühling 1998 in Moskau wird erwogen, den Euro-päischen Druckwasserreaktor (EPR), ein Gemeinschaftsprojekt von Siemens und der französischen Framatom, in Rußland zu bauen. Der Chef der russischen Nuklearfirma Minatom, Jewgeni Admarow, war jedenfalls im November vergangenen Jahres von dieser Idee sehr angetan. Es müßten jedoch zwei Bedingungen erfüllt werden: Erstens dürften die Reaktoren nur mit russischen Brennstäben betrieben werden, und zweitens könnten die Konstruktionskosten nur in Rohstoffen oder Elektrizitätslieferungen bezahlt werden.

Für Atomstrom dürfte also auf diesem Weg in Deutschland noch lange gesorgt sein. Immerhin: Auf einen zweifelhaften Erfolg könnten die ins Bundesparlament aufgestiegenen Anti-AKW-Kämpfer dann zurückblicken: Der deutsche Einstieg in den Ausstieg hat das Strahlenrisiko in die osteuropäischen Länder verlagert.