Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Jedenfalls war ich nicht außer mir. Aber eine - wenngleich etwas zwiespältige - Genugtuung war's doch. Daß sportliche Siege über die BRD ein kümmerlicher Ersatz waren für die verlorene Fähigkeit, wirkliche Alternativen hervorzubringen, ahnte ich schon. Doch die nicht selten penetrante DDR-Arroganz war mir damals und ist mir heute noch lieber als die (bundes-)deutsche Großmannssucht, die sich auch und gerade dann durchsetzt, wenn sie sorgfältig geleugnet werden soll. Im Fußball gilt das allemal.

Von der (wieder) "normalen" Macht und Großmacht Deutschland wird erst seit 1990 offen geredet, aber mental war diese deutsche "Normalisierung", das Abhaken des Nationalsozialismus, der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, des Zweiten Weltkrieges, für die meisten, so vermute ich, mit dem WM-Sieg 1954 vollzogen. Deutschland war wieder wer - über allen. Fußball ist wohl die deutscheste Sportart überhaupt, bei Siegen und Niederlagen gleichermaßen. Möglicherweise hatte die DDR deshalb im Fußball kaum große Erfolge, so deutsch war sie dann doch nicht.

Vielleicht war ich aber auch in Gedanken. Die Freude über das Sparwasser-Tor reichte nicht weit. Mir war dieses Land, dieser Versuch eines anderen Deutschland viel zu wichtig, als daß ich mit einem Fußballsieg zufrieden sein wollte. Drei Jahre zuvor hatte einer gesagt, er wolle Gleicher unter Gleichen sein. Der ließ sich zunächst auch nicht, wie gehabt, mit "hochverehrter Genosse Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Staatsrates", sondern mit "lieber Erich" anreden. So banal waren Erscheinungen, die unsereinen auf eine Veränderung hoffen ließen. Mit einem Mal gab es auf der dritten Seite des Zentralorgans kritische Beiträge zur Innen- und Wirtschaftspolitik, jedenfalls wollten wir sie als Kritik empfinden. In der Kunst, so der neue Mann, sollte es fürderhin keine Tabus geben, soweit sie auf dem Boden des Sozialismus bleibe, Daß wir, ich war damals Student, über diesen Satz tagelang an- und aufgeregt diskutierten, kann ich keinem Westdeutschen, schon gar nicht einem westdeutschen Linken, erklären.

Aber 1974 war die Hoffnung wieder gering, auch wenn die Biermann-Ausweisung und die ND-Ausgaben mit 30 und 40 Honecker-Fotos zur Leipziger Messe noch vor uns lagen. Es zeigt sich, daß die öffentliche Kritik nur so lange erwünscht war, wie sie das Konto des Vorgängers (Ulbricht) belastete und der eigenen Legitimierung diente. Als sie begann, auf Kosten der neuen "Chefs" zu gehen, wurde sie um so sicherer wieder unterdrückt. Die Verspießerung der DDR war sicherlich eine der wichtigsten Ursachen ihrer Entwicklungsunfähigkeit.

Wenn ich mich recht erinnere, waren bei der WM 1974 Aus- und Einwechslungen erlaubt. Auch wir warteten drei Jahre nach der Auswechslung schon wieder auf die nächste. Wir waren unzweifelhaft Teil der Verspießerung.