Fertig werden ist alles

In Athen wird an 300 Baustellen für Olympia 2004 gebaut. Die unfertigen Stadien machen das IOC nervös.

Aufmerksame europäischen Staatschefs haben sie auf dem letzten Gipfel der Europäischen Union im Mai in der nordgriechischen Metropole Thessaloniki noch gesehen, die Bauarbeiter, wie sie ganz schnell durch den Boteneingang des Konferenzhotels verschwanden. Gerade in dem Augenblick, als durch die wuchtige und streng geschützte Pforte die wichtigen Politiker und ihr Gefolge kamen. Nach Meinung nicht weniger Menschen in Hellas wird es genau in einem Jahr im Athener Olympiastadion nicht viel anders zugehen. Dann nämlich, wenn die Nationen zur Eröffnung der Olympischen Sommerspiele am 13. August abends in das Stadion einziehen, werden durch irgendeinen Seiteneingang der Betonschüssel die letzen Bauarbeiter mit ihren Hämmern und Schraubenziehern nach Hause oder zum Essen in die Taverne gehen.

Es ist seit Jahren viel über die griechischen Improvisationskünstler und »last minute people« geschrieben worden. Und fast nichts davon ist gelogen! Der beste Beweis dafür ist die Organisation des letzen globalen Weltevents, der Olympischen Spiele, durch die Athener Strategen um ihre mächtige Präsidentin Gianna Angelopoulo-Daskalaki. Zwar weiß sie noch immer mit ihrem Charme die Herren des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) zu betören, doch das allein nützt seit einem halben Jahr auch nicht mehr viel. Denn nun, nach hunderten von Baustellenrundfahrten durch das staubige Athen, haben es wirklich und endlich alle begriffen: Die olympische Vorbereitung und Organisation in Athen ist eine ganz besondere Disziplin für sich, vielleicht die spannendste dieser Spiele überhaupt.

»In dem Rennen gegen die Zeit«, wie IOC-Präsident Jacques Rogge die angestrengten Athener Organisationsbemühungen immer wieder im schon für viele ermüdenden Rhythmus umschreibt, darf ein Jahr vor den Spielen keine Sekunde mehr verschenkt werden, denn alles muss pünktlich fertig werden. »Man kann wirklich viele Termine verschieben, aber nicht den Beginn der olympischen Spiele«, hat der Schweizer IOC-Koordinator Denis Oswald noch kürzlich gesagt. Im Interview mit dem Spiegel war er weniger diplomatisch. »Die griechische Mentalität ist sympathisch«, meinte er, »aber als Verantwortlicher hat man lieber etwas weniger Improvisation.« Damit handelte er sich heftige Proteste der griechischen Regierung ein.

Vor allem zwei Baustellen bringen die Hellenen gegenüber den Herren aus Lausanne immer wieder in schweren Erklärungsnotstand. Erst jetzt ist beispielsweise mit dem Abriss des altehrwürdigen Karaiskaki-Stadions in der Hafenstadt Piräus begonnen werden. Im nächsten Jahr sollen hier in einer formschönen Arena die Fußballendspiele stattfinden, danach wird der griechische Dauermeister Olympiakos Piräus am selben Platze wieder seine Erfolge feiern dürfen. Wer heute an diesem Grundstück vorbeifährt, vermag das nicht zu glauben. Dem IOC bleibt nichts, als auf die rastlosen Bauarbeiter aus der Ukraine, Kasachstan und sonstwo zu vertrauen, die dort in 24-Stunden-Schichten schuften.

Immerhin lassen sich am anderen olympischen Krisenherd, dem Olympiastadion, erste Baufortschritte ausmachen. Dorthin nämlich wurden im Juli aus Italien, mit dreimonatiger Verspätung, die ersten Fertigbauteile für das von dem spanischen Stararchitekten Salvatore Calatrava entworfene Dach geliefert. Zwar liegt die wertvolle Bausubstanz seitdem achtlos in der grellen griechischen Sonne hinter einem großen Zaun herum, aber allein ihre Anwesenheit gibt in Athen bereits viel Anlass zur Hoffnung.

Montiert wird die schicke Glas- und Stahlkonstruktion jedoch noch nicht. Denn das IOC hat im vergangenen Monat wieder einmal die Athener Olympiastrategen ins Gebet genommen. Dem Herzstück der Spiele soll nämlich nur dann das postmoderne Dach aufgesetzt werden, wenn die Athener Baumeister garantieren könnten, dass es zu den Olympischen Sommerspielen im August 2004 auch komplett fertig ist. Versprechen möchte das in der griechischen Hauptstadt derzeit jedoch keiner.

Vorsichtshalber haben die griechischen Organisatoren schon die Testwettbewerbe im Olympiastadion im Juni 2004 abgesagt. Ebenso wurden die ursprünglich für den Februar 2004 terminierten Bahnradtests im Velodrom ersatzlos gestrichen. Die Radfahrer kämpfen mit demselben Problem, auch ihnen fehlt es an einem Dach über dem Kopf, wenngleich die ersten Teile schon draussen vor ihrer Nase liegen. »Wir sind darüber nicht glücklich, aber es könnte schlimmer sein«, bemerkte trocken der IOC-Sportdirektor Gilbert Falli im Juni auf einer Sitzung in Prag.

Mittlerweile sind die Dächer von Calatrava so etwas wie ein Symbol für den Stand der Olympiavorbereitung in Griechenland geworden. Denn irgendwie geht es nahezu an jeder Ecke vorwärts und doch so ganz auch wiederum nicht. Mal verhindern technische Probleme, mal archäologische Funde den Baufortschritt. Und oft sind es auch wütende, von Lärm und Staub geplagte Anwohner, die mit einer in Griechenland einmaligen Prozesslawine immer wieder kurzfristige Baustopps durchsetzen. Denn die Olympiade macht, und das nimmt ausserhalb Athens so recht keiner wahr, den Bürgern das Leben ziemlich schwer. Die Straße, auf der man gestern noch mit dem Bus zur Arbeit fuhr oder einen Parkplatz fand, ist vielleicht heute schon aufgerissen und für die kommenden sechs Monate, ohne jegliche Vorankündigung, gesperrt.

Busfahrer und Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel finden plötzlich ihre Haltestellen nicht wieder, weil diese irgendwo im Athener Baustellendschungel verschwunden sind. Zum sommerlichen Athener Smog gesellt sich in diesem Jahr eine feine, durch die knapp 300 (!) olympischen Baustellen verursachte Staubschicht hinzu, die sich über die Olympiastadt legt. Das Gesundheitsministerium sah sich bereits genötigt, diverse Warnungen auszusprechen, und rief betagtere Bürger dazu auf, doch lieber nicht vor die Tür zu gehen oder ans Meer zu fahren. »Wir Athener müssen bis zu den Olympischen Spielen 2004 leiden«, hatte in diesem Frühjahr die konservative Bürgermeisterin Dora Bakoyannis ihren ohnehin schon vom Alltagswahnsinn ziemlich mitgenommenen Bürgern im Fernsehen mitgeteilt.