Werder Bremen wird deutscher Fußballmeister und Pokalsieger

Die Manchmalmeister

Warum Werder Bremen dieses Jahr deutscher Fußballmeister wird. Oder Pokalsieger. Oder beides.
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Ein Artikel über den eigenen Lieblingsverein ist keine einfache Angelegenheit. Seitdem Nick Hornby in dem Roman »Fever Pitch« sein Leben mit Arsenal London beschrieb, haben viel zu viele Leute versucht, ihm nachzueifern, und das ist oft schief gegangen.

Mein Arsenal London heißt Werder Bremen. Schon immer. Oder zumindest, seit ich mit drei Jahren unser Grün-Weiß vom Grün-Weiß-Schwarz Borussia Mönchengladbachs unterscheiden konnte. Seitdem hatte ich ein paar Freundinnen, ein paar Wohnungen, ein paar Gelderwerbe. Aber immer nur einen Verein. Wie alle ernst zu nehmenden Fußballfans.

Gottlob haben sich die Spieler von Werder Bremen nie so verhalten, dass ich nun Analogien zu meinem Leben erzwingen müsste. Als ich bärenstolz meine ersten Schülerzeitungsartikel veröffentlichte, verbrachten die eine Saison in der zweiten Liga. Als ich durch die schlimmsten Jahre meines Lebens torkelte, gewannen die den Europapokal der Pokalsieger. Antizyklisch zu mir verhält sich mein Club auch nicht. Mir geht es gerade gut, Werder steht an der Spitze der Liga und im Pokalfinale. Also lassen wir das und wenden uns einem wichtigeren Thema zu: Warum wird Werder Bremen am Ende dieser Saison seine vierte deutsche Meisterschaft gewonnen haben?

Schlichte Gemüter schauen auf die Tabelle und sagen: Vier Spieltage vor Schluss haben sie trotz des 0:0 vom vergangenen Sonntag gegen Bochum immer noch sechs Punkte Vorsprung, und so etwas verspielt nur Bayer Leverkusen.

Die richtige Antwort lautet natürlich: Weil Werder Bremen ein rachedurstiger Kaufmann auf dem Weg von einer Tanzveranstaltung ist.

Pragmatische Kaufleute – um mal mit dem Einfachsten zu beginnen – waren sie an der Weser schon immer. 1898 gewannen ein paar Bremer Realschüler bei einem Sportwettbewerb einen Fußball. Und weil der schon mal da war, gründeten sie im Februar 1899 gleich einen Verein dazu. 1905 stellten sie um ihren Sportplatz einen Zaun auf, damit sie Eintrittsgelder kassieren konnten. Das Image von den notorisch schuldenfreien Pfennigfuchsern – Mythos und Realität zugleich – begann hier. 1909 luden sie eine britische Profimannschaft zum Freundschaftsspiel ein, was damals noch eine Sensation war, und 1922 holten sie aus Ungarn einen bezahlten Trainer. Das alles machte sie zur Nummer eins in Bremen. Nummer eins im Norden war der HSV; deshalb ist für Bremer Fans bis heute der HSV die einzige Mannschaft, gegen die Bayern München in jeder Saison zwei Mal gewinnen darf. Da Werder Bremen sich im Dritten Reich klaglos in die nationalsozialistischen Sportverbände eingliedern ließ, war der Verein, wie alle bürgerlichen Sportvereine, nach Kriegsende ein Jahr lang verboten.

Auf nationaler Bühne machte Werder 1961 erstmals von sich reden. Die Mannschaft gewann den DFB-Pokal, und im Europapokal erreichte sie die dritte Runde. Genau rechtzeitig, denn danach war Werder für die neue Bundesliga quasi gesetzt.

Bis heute wurde der Verein drei Mal deutscher Meister. 1965 – in den Anfangstagen der Liga. 1988 und 1993 – als eine Weltordnung ins Wanken geriet und eine neue sich formieren musste. Auch der zweite von bisher drei Pokalsiegen (1991) und der Europapokalerfolg (1992) fallen in diese Zeit mit Otto Rehhagel an der Seitenlinie. In der aktuellen Saison – wo die großen europäischen Vereine vor der Pleite stehen, wo Borussia Dortmund einen Schuldenberg vor sich herschiebt und Bayern München die Gehälter kürzt – spielt Werder die beste Serie der Vereinsgeschichte. Es scheint, als ob die Bremer immer in unsicheren Zeiten mit dem Wissen, eine solide gefüllte Kasse im Vereinsschrank zu haben, zu großen Taten bereit sind. Ein einziges Mal verstießen sie gegen dieses Prinzip: Anfang der Siebziger sollte das Glück erzwungen werden. Man kaufte nahezu den gesamten Sturm von Borussia Mönchengladbach. Die daraus entstehende Mannschaft war die erste in der Ligageschichte, die als »Millionarios« verspottet wurde. Ein knappes Jahrzehnt Abstiegskampf und ein Jahr in der zweiten Liga waren die Folge. Deswegen zucken die älteren Bremer Fans auch bereits zusammen, wenn sie hören, wen sich Werder alles in Erwartung der Champions League gekauft hat: Miroslav Klose, Frank Fahrenhorst, Yildiray Bastürk, dazu aus Brasilien Gustavo Nery.

Ein solcher Verein wäre natürlich kaum zu ertragen, geschweige denn zu lieben, wenn es nicht eine reizende Bruchstelle in all der kaufmännischen Vernunft gäbe. Die viel beschworenen »Wunder von der Weser«. Weder Fans noch Sporthistoriker noch Psychoanalytiker haben meines Wissens bislang eine Erklärung dafür gefunden, dass Werder sich manchmal – und meistens bei Europapokal-Rückspielen im Weserstadion – durch einen jähen Spielrausch aus ausweglosesten Situationen befreit. Die Kaufleute beginnen plötzlich einen wilden Tanz. Spartak Moskau, Dynamo Berlin, SSC Neapel (mit Diego Maradona!), RSC Anderlecht (5:3 nach 0:3 zur Pause!), Olympique Lyon – alle fielen diesem Phänomen zum Opfer. Wann es auftritt, kann niemand sagen. Es tritt allerdings garantiert nicht auf, wenn jemand danach ruft. Nach der 0:4-UI-Cup-Niederlage im vergangenen Sommer bei einer österreichischen Retortenmannschaft versuchte eine Armada deutscher Zeitungen, ein Wunder herbeizuschreiben – es gelang nur ein 1:1. Das ist logisch. Auch die Bochumer waren »unabsteigbar«, bis irgendein Depp dieses Wort auf T-Shirts druckte.

Ein Bremer Spielrausch dauert nie lange. Ein paar Minuten im Pokal, ein paar Spiele in der Liga. Dann bricht sich wieder die Vernunft Bahn. Dennoch: Werder-Fans sitzen noch nach schlimmsten Klatschen mit feuchten Händen im Stadion oder vor den Fernsehgeräten, jahrelang und fast immer erfolglos, um dabei gewesen zu sein, wenn das Wunder sich zeigt.

Für diese Saison ist der Tanz schon lange vorbei. Aber Werder ist in der Lage, einen ertanzten Vorsprung zäh zu verteidigen. Das unterscheidet sie von Bayer Leverkusen. Und das macht sie gefährlicher für die Bayern.

Damit kommen wir zur Rachelust. Ausgerechnet in der Endphase der Meisterschaft scheinen Bremer und Bayern innezuhalten: Werder vergibt unnötig Punkte, die Münchner setzen nur verhalten nach. Menschen, die etwas von Rache verstehen, wissen, warum: Eine alte Rechnung muss beglichen werden. In der Saison 1985/86 entschieden die beiden Begegnungen dieser Mannschaften den Titelkampf. Am 16. Spieltag (Werder lag drei Punkte vor Bayern) zertrat Klaus Augenthaler im Olympiastadion mit einem brutalen Foul Rudi Völler. Am 33. Spieltag im Weserstadion vergab Kutzop in der 86. Minute einen Elfmeter, der den Sieg und die Meisterschaft gebracht hätte. Für Werder-Fans über dreißig ist das der schwärzeste Tag neben dem Abstieg in die zweite Liga.

Am 32. Spieltag dieser Saison werden die Bremer in München antreten. Der einzige Ort, wo die Rechnung beglichen werden kann. Danach wird die Meisterschaft entschieden sein. Natürlich für Werder. Weil die beste Bremer Mannschaft der letzten Jahre dann auseinander geht. Und die Bayern einfach weitermachen.

Und wenn es anders kommt? Dann gewinnen wir eben den Pokal. Und spielen in der Champions League.