Ende der Politökonomie

Moishe Postones »neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx« an der Grenze von Theorie und Kritik. von joachim bruhn

Ist der Nationalsozialismus eine neue Ordnung?« fragt Friedrich Pollock im Dezember 1941 als letzter Redner einer Ringvorlesung des Instituts für Sozialforschung in New York. In den Wochen zuvor haben Marcuse, Gurland, Neumann und Kirchheimer versucht, den Nazifaschismus begrifflich zu fassen. Nun versucht sich Pollock an der Bilanz: »Mein Ziel ist es, das neue gesellschaftliche und ökonomische System im Gegensatz zum Monopolkapitalismus zu erklären«, d.h. das System des totalitären Staatskapitalismus, die Gesellschaftsformation eigener Qualität, die der Schematismus des Aufstiegs der Menschheit von der Urhorde zum Kommunismus unmöglich voraussehen konnte. Es ist der Versuch, im Bewusstsein der marxistischen Tradition eine Gesellschaft zu erfassen, die sich allen Kategorien der Tradition entzieht, d.h. das Resultat der »deutschen Revolution« begrifflich zu fixieren, die dem Kapitalverhältnis im doppelten Sinne entsprungen ist, die nur aus dem Kapital erwachsen, gleichwohl nur in der Barbarei als Gesellschaft sui generis enden konnte. Mit der Tradition das ihr Entronnene zu fassen, das fordert die äußerste Anspannung des Begriffs; aber noch dieser Anstrengung des Begriffs muss die Subsumtion der Sache unter den Begriff misslingen. Die Bestimmung der »neuen Ordnung« als »Staatskapitalismus« bleibt Definition und äußerlich. Im Dezember 1941 ist die Zeit nicht reif, in Gedanken gefasst zu werden.

Die Wannsee-Konferenz wird vier Wochen später stattfinden. Das Wesen des Nazifaschismus tritt definitiv in Erscheinung. Dadurch wird Pollocks These ambivalent, später er selbst sprachlos. Man merkt es daran, wie bemüht er ist, das Wesen der »deutschen Revolution«, die Transformation der antagonistischen Gesellschaft ins geschlossen antisemitische Mordkollektiv, zu reduzieren: Der NS habe, mit dem Schritt von der Markt- zur Kommandoökonomie, die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem niedergerissen, »die brutalsten Instinkte des Individuums« entfesselt. Dies zeigt vor allem »die Grausamkeit gegen die Kranken und Hilflosen (Juden, Geisteskranke und Schwache), der Rassenhass, (…) die masochistische Unterwerfung unter das Kommando, unter Leid, Opfer und Tod.« Das stimmt. Wahr ist es aber nicht: Denn die Spaltung der Gattung in Unmensch und Übermensch, die die Deutschen ins Werk setzen, entspringt der juristischen Person, dem Menschen der Menschenrechte, d.h. dem »Überbau« des freien und gleichen Tausches. Insofern sind die Juden das Glied einer namenlosen Kette von Toten.

Die Genesis ist aber nicht die Geltung. Und das Entsprungene setzt sich als eigene »Basis«. Insofern sind die Juden nicht die Toten unter anderen, nicht »Opfer«, sondern die Quintessenz aller Toten. Die arbeitsteilige, so klassenübergreifende wie klassenaufhebende Organisation der Vernichtung ist unmittelbar zugleich die ökonomische wie politische Synthesis der antagonistischen Gesellschaft, ihre Raison d’être, ihr Wesen und das, was das Kapital als automatisches Subjekt war, bevor das absolut Negative aus der Großen Krise folgte. Die Vernichtung der Juden ist das »unmittelbar Allgemeine«, das, was den deutschen Bourgeois zum Citoyen der Volksgemeinschaft adelt, das Geld der Nazis, ihr Kapital. Was Pollock 1941 unbedingt theoretisch begreifen will, das ist, was Adorno und Horkheimer drei Jahre später als das Unbegreifliche kritisieren, als das zentrale der »Elemente des Antisemitismus«, d.h. als den Umschlag der Gleichheit des Rechts in das Unrecht durch die Gleichen, das »barbarische Kollektiv« der Deutschen, das die Klassen im Staat, im politischen Souverän, vereint und aufhebt zu ihrem wahnwitzigen Versuch, die Herrschaft des sich selbst verwertenden Werts erneut zu errichten.

Kann, wer diese Ausnahme missversteht, die Regel verstehen, das Gesetz des Werts? Postones »neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx« besticht und befremdet zugleich. Sie besticht als kohärentes System. Sie befremdet durch Rationalisierung: Das hätte man vom Autor der These über Antisemitismus und Kapital, die die Theorie revolutioniert hat, so nicht erwartet. Für Postone nämlich muss die Frage Pollocks nach der »neuen Ordnung« des Nationalsozialismus herhalten, nicht nur die »Grenzen des traditionellen Marxismus« aufzuzeigen, sondern der Kritischen Theorie eine »pessimistische Wende« zu attestieren. Gegen Pollock erhebt er den ärgsten Vorwurf, den man gegen Theorie nur überhaupt erheben kann: Geschichte sei ihr bloß Fakt, nur Empirie und Illustration, nicht durchdachte Erfahrung. Der Nazifaschismus sei der Kritischen Theorie nur »Ereignis« gewesen, ein, wie er sagt, »Kontext«, nur Vorwand. Ihr Geschichtspessimismus sei, in Konsequenz der Tradition, schon zuvor fix und fertig gewesen. Das heißt: Der Nazifaschismus habe, die Kritische Theorie nicht wirklich berührt.

»Der Verweis auf historische Ereignisse, selbst wenn es sich um so einschneidende wie den Holocaust handelt«, schreibt Postone, erkläre gar nichts; erklärt werden müsse vielmehr »die Auswirkung dieser Ereignisse auf die Theorie«, d.h. der kategoriale Grund ihrer Beeindruckbarkeit überhaupt, ihr Traditionsmarxismus. Weiterhin liege Pessimismus darin, dass die Kritische Theorie nicht dem Maßstab genüge, den Postone, so, als verstehe sich das wie von selbst, ihr anlegt: »Die Kritik muss in dem Sinne immanent sein, dass sie reflexiv sich selbst begreifen kann und die Möglichkeit ihrer eigenen Existenz aus dem Wesen ihres gesellschaftlichen Kontextes zu begründen vermag«, wird verfügt. Kurzum: Jedwede Kritik habe »immanent« zu sein. Das ist der klandestine Dogmatismus Postones, sein Traditionalismus: die verdammte Pflicht zur Hoffnung, wenn auch im Modus der Möglichkeit. Genau die Frage, was am Nazifaschismus »immanent« zu kritisieren wäre, ist es, die befremdet. Diese schiefe Perspektive, in der Postones Kritik an Pollock steht, erklärt sich daraus, dass er dessen Frage, ob der NS eine neue Ordnung sei, nach der verdinglichten Definition hin auflöst: Staatskapitalismus, nicht aber das Verstörende aufnimmt, dass Pollock im Gewand von Definition fragt: Ist das eine historisch neue, noch nie dagewesene, undenkbare, ungeahnte Form gesellschaftlicher Synthesis: Barbarei?

In der Konsequenz hatte Horkheimer vom »Ende der politischen Ökonomie« geschrieben, von der negativen Aufhebung des Kapitals aus der Logik des Kapitals selbst heraus, vermittelt durch Krise und Zusammenbruch. »Die Kategorien der politischen Ökonomie: Äquivalententausch, Konzentration, Zentralisation, sinkende Profitrate usf. haben auch heute noch reale Gültigkeit, nur ist ihre Konsequenz, das Ende der politischen Ökonomie, erreicht.« Ein Begriff, der keine Konsequenz hat, ist aber kein Begriff, sondern nur Theorie, d.h. rationalisierter Ausdruck der Subjektivität des Denkens, das Objektivität erschleichen will, nur ein Wort, das Konsens heischt. Horkheimer hatte, wenn auch in der Sprache der Tradition, das Tabu des »Marxismus« ausgesprochen, den Moment bestimmt, in dem er in Materialismus überzugehen verpflichtet ist. Postone dagegen verharrt inmitten dieses Augenblicks, auf einer Grenze, auf der man sich nicht halten kann. Er sieht den Kairos der Theorie. Er sieht nicht, dass hier und jetzt die Frage nach der »immanenten Kritik« durch die Logik des Gegenstands selbst überschritten wird, dass die Regel ihre Ausnahme gesetzt hat, nun ihrerseits überschritten wird.

So wird im Nachhinein deutlich, wo die Grenze der historischen Thesen Postones über Nationalsozialismus und Antisemitismus lag. Damals bestimmte er die »deutsche Revolution« als den Aufstand des pseudokonkreten Gebrauchswerts gegen das geldförmige Realabstraktum. Er definierte: »Auschwitz war eine Fabrik zur ›Vernichtung des Werts‹ d.h. zur Vernichtung der Personifikation des Abstrakten.« Diese apodiktische Einsicht war und ist allerdings umstürzend gegen die nicht-, bzw. antikommunistische, bzw. anti-antideutsche Linke. Aber sie ist, als Definition, die man sich verdächtig gut merken kann, viel zu theoretisch, um wahr zu sein.

Pollocks Frage nach der »neuen Ordnung« geht über den theoretischen Horizont, trotz ihres Leninismus, ihrer Planillusion. Denn das macht das »Ende der politischen Ökonomie« aus, dass das Kapital in der Flucht seines Zusammenbruchs weniger den Wert in Gestalt der Juden zu vernichten, sondern das Geheimnis gelingender Akkumulation, die Selbstverwertung des Werts, durch das Leben der Juden hindurch sich anzueignen strebt. Die Vernichtungslager waren Raubmord; das Laboratorium, den Juden das gesellschaftliche Mysterium des automatischen Subjekts aus den Körpern zu reißen, gerade so, als besäßen sie es als Ding, waren die Todesfabriken, die der Volksgemeinschaft das Geheimnis der Selbstverwertung einverleiben sollten. Aus dem Sadismus der Nazis, der aus der Visage der »ganz normalen Männer« anspringt, greift an die Angstlust nach den authentischen, von Staats wegen und volkswirtschaftlich brauchbaren »Protokollen der Weisen von Zion«: die mörderische Gier nach dem esoterischen Wissen, was die Gesellschaft, als kapitalistische, im Innersten zusammenhält, zu der einen und identischen macht.

Das ist, versteht sich, auch nur: Definition. Aber eine, die, im Gegensatz zu der Postones, die durchweg sich dem erkenntnistheoretischen Gehalt der Marxschen Kritik als Kritik objektiver »Denkformen« (und damit als Kritik der Rationalisierung objektiv irrationaler Gegenstände zu verständigen Objekten der Theorie) verschließt, an der im Diesseits der Weltrevolution unüberschreitbaren Grenze von Theorie und Kritik steht, ohne sich abzufinden und einzurichten. Die daher nachvollzieht, dass die Kritische Theorie keinesfalls unter der Last der Tradition gescheitert ist, sondern daran, das Unbegreifliche begreifen zu wollen: trotz alledem – also daran, Hegels Bestimmung des »Wesens der philosophischen Kritik« so bitterernst zu nehmen, wie man sie nach Lage der Dinge zu nehmen hat: dass eben da, wo keine Vernunft mehr in der Sache ist, d.h. nach dem »Ende der politischen Ökonomie«, auch die Theorie untergeht und zudem die »immanente Kritik«; dass an dieser Grenze die Vernunft dazu bestimmt ist, Polemik zu werden und d.h. Krieg und d.h. zur »unmittelbaren Verwerfung«, wie Marx hinzufügt.

Das Wesen ist und bleibt das Unwesen. So stellt es an sich selbst die Grenze dar, die zwischen einer guten Theorie und materialistischer Kritik verläuft.