Verstehen Sie Marx!

Michael Heinrich hat eine »Einführung in die politische Ökonomie« geschrieben, die für Anfänger und Fortgeschrittene taugt. von kolja lindner

Das Problem, komplexe begriffliche Zusammenhänge verständlich zu vermitteln, ist vermutlich so alt wie das theoretische Denken selbst. Marx folgte einem Rat seiner Freunde Engels und Kugelmann, als er einen die Wertformanalyse vereinfachenden Anhang zum ersten Band des »Kapital« verfasste und ihn dem nicht »in dialektisches Denken eingewohnten Leser« zur Lektüre empfahl: Hier werde versucht, »die Sache so einfach und schulmeisterlich darzustellen, als ihre wissenschaftliche Fassung erlaubt«.

Geradezu »schulmeisterlich« geht es auch in Michael Heinrichs Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zu. Sie trägt deren Methodenüberlegungen Rechnung, da erst die Struktur des Kapitals und dann dessen historische Herausbildung erläutert wird, und steckt Grenzen ab. Es sei z.B. eine Illusion, »dass mit der Analyse der Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise bereits alles Entscheidende über kapitalistische Gesellschaften gesagt wäre«. Auch weiß Heinrichs Kritik, was außerhalb ihres Geltungsbereichs liegt: »Die Marxsche Kritik besteht nicht in einer moralischen Vorhaltung, sondern im Nachweis, wie der Kapitalismus tatsächlich funktioniert.«

Den Hauptteil des vorliegenden Buches bildet eine systematische Zusammenstellung aller wichtigen Theoreme aus den drei Bänden des »Kapital«, die gestützt wird von der Auswertung anderer Marxscher Texte aus dem Umkreis der »Kritik der politischen Ökonomie«, wie der »Grundrisse« und der »Theorien über den Mehrwert«. Heinrichs Ziel ist dabei, das Marxsche Œuvre von traditionsmarxistischen Verstellungen – dem »Weltanschauungsmarxismus« – zu befreien. So werden deutlich vorbelastete Begriffe auf ihren Gehalt hin befragt. Z.B. sei Dialektik keine »marxistische Wunderwaffe«, sondern eine Darstellungsmethode, mit der verschiedene Kategorien auseinander entwickelt werden können. Den Begriff der Klasse fasst Heinrich ganz nüchtern als »eine rein strukturelle Kategorie«. Ausbeutung schließlich »bezeichnet einzig und allein den Sachverhalt, dass die Produzenten lediglich einen Teil des von ihnen neu produzierten Wertes erhalten – unabhängig davon, ob die Löhne hoch oder niedrig, die Arbeitsverhältnisse gut oder schlecht sind«.

Mit diesen Erklärungen gegen ein wesentlich vom Weltanschauungsmarxismus geprägtes Marxverständnis immunisiert, erwartet die LeserInnen eine allgemeinverständliche Lektüre. Wie Marx beginnt Heinrich mit der Ware und verweist auf ihre Konstitution durch »abstrakte Arbeit«. Beachtlich ist dabei Heinrichs Vermögen, die Begriffe zu erklären: So wird »Realabstraktion« ganz nüchtern definiert als »eine Abstraktion, die im wirklichen Verhalten der Menschen vollzogen wird, unabhängig davon, ob sie dies wissen oder nicht«. Außerdem werden Marx’ Ausführungen dort, wo es nötig erscheint, ganz sanft problematisiert. Gegen die vorherrschende, naturalistische Bestimmung abstrakter Arbeit als »Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (Marx) wird diese als »ein im Tausch konstituiertes Geltungsverhältnis« konkretisiert. Viele Zusammenhänge werden zudem mit anschaulichen Beispielen illustriert, wie z.B. die notwendige Einheit von Produktions- und Zirkulationssphäre: »Der Wert ›entsteht‹ nicht irgendwo und ist dann ›da‹. Bei einem Brötchen lässt sich (auch wenn die Antwort eindeutig ist) die Frage wenigstens noch stellen, wo es entstanden ist, ob in der Backstube oder beim Verkauf auf der Ladentheke. Der Wert ist aber nicht ein Ding wie ein Brötchen, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, das als dingliche Eigenschaft erscheint.«

Die Methode »mit Marx gegen Marx« wendet Heinrich auch bei seiner Thematisierung des Geldes an. Würde im »Kapital« noch von einem Warengeld ausgegangen, könne avancierte marxistische Theorie nicht an dieser, spätestens seit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods zu Beginn der siebziger Jahre anachronistischen Vorstellung festhalten. Der Verzicht auf Gold als Geldware mache Marx’ Theorie selbst aber nicht obsolet: »Im Rahmen der Wertformanalyse hatte er die Formbestimmungen des allgemeinen Äquivalents entwickelt, und die Analyse des Austauschprozesses ergab, dass die Warenbesitzer ihre Waren tatsächlich aufeinander beziehen müssen. Dass das allgemeine Äquivalent unbedingt eine Ware sein müsse, hatte Marx aber nicht gezeigt, sondern unterstellt.« Hinsichtlich des Geldes betont Heinrich außerdem, dass die Marxsche Werttheorie nur als »monetäre Werttheorie« zu begreifen sei: »Erst die Geldform ist die dem Wert angemessene Wertform.«

Die Überlegungen zum Geld werden bei der Darstellung der Marxschen Kredittheorie wieder aufgegriffen. Explizit gegen Marx, der im dritten Band des »Kapital« von einem »Umschlag des Kreditsystems in das Monetarsystem« ausgeht, d.h. der Einlösung der Golddeckung umlaufender Banknoten in Zeiten der Krise, stellt Heinrich die Dysfunktionalität eines Warengeldes für das moderne Kreditsystem heraus. Und ähnlich wie ohne Geld keine Ware existiere, so existiere ohne Kredit kein Kapital. Hier erweist sich, dass die Analyse der Grundlagen kapitalistischer Produktionsweise keine abstrakt akademische Frage ist, sondern unmittelbare politische Relevanz besitzt. Bereits das Kapitel zum Produktionsprozess hatte – entgegen mancherlei Gewerkschaftsvorstellungen – verdeutlicht, dass es ob der notwendigen »industriellen Reservearmee« keinen Sinn ergebe, den Kapitalismus für die von ihm induzierte Arbeitslosigkeit anzuklagen. An dieser Stelle zeigt Heinrich gegen die falsche Gegenüberstellung von »spekulativen« Finanzmärkten und »solider« kapitalistischer Produktion, wie sie häufig von Gruppen wie Attac bemüht wird, dass es ihm ums Ganze geht: »Jede kapitalistische Produktion beinhaltet ein spekulatives Element, kein Kapitalist kann sich völlig sicher sein, dass er seine Waren absetzt bzw. welchen Preis er für sie erzielt. Die Spekulation an den Finanzmärkten ist offensichtlicher und kurzfristiger, aber keineswegs etwas qualitativ ganz anderes als die kapitalistische Produktion.«

Ohnehin argumentiert Heinrich gegen Ende seines Buchs politischer – was auch daran liegt, dass sich seine Darstellung am Aufbau des »Kapital« orientiert: Im dritten Band thematisiert Marx den »Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion« sowie die damit verbundenen notwendigen Erscheinungs- und Bewusstseinsformen, in denen sich alltägliche politische Praxen bewegen. Heinrich stellt heraus, dass alle Mitglieder der bestehenden Gesellschaft dem »Fetischismus der bürgerlichen Verhältnisse« unterliegen, den Marx in der »trinitarischen Formel« zusammenfasst. Diese Feststellung zielt erneut auf den Weltanschauungsmarxismus, der meint, für das Proletariat eine privilegierte Erkenntnisposition ausmachen zu können. Zugleich behält Heinrich aber auch gegen die Kritische Theorie darin Recht, dass der Fetischismus »kein völlig in sich geschlossener Verblendungszusammenhang« sei, er vielmehr »einen strukturierenden Hintergrund« bilde. Allerdings bleibt dabei unklar, wie er von Einzelnen »aufgrund von Erfahrungen und Reflexion auch durchbrochen werden kann«. Es scheint dies sogar im Widerspruch zu Heinrichs eigenem Befund zu stehen, dass der Fetischismus so lange existiert, wie seine kapitalistischen Grundlagen bestehen. Und diese sind bekanntlich weder durch »Reflexion« noch durch »Erfahrung« abzuschaffen.

Als Grenze seiner Marx-Aufarbeitung hatte Heinrich behauptet, dass mit der Analyse der Grundlagen kapitalistischer Produktionsweise noch nicht alles über kapitalistische Gesellschaften gesagt sei, und so stellt sich die Frage nach der Kompatibilität der Kritik der politischen Ökonomie mit der Analyse anderer sozialer Zusammenhänge. Heinrich zeigt an den Beispielen von Ökologie (er bricht mit der traditionsmarxistischen Vergötterung der Produktivkraftentwicklung, indem bestimmte technisch-industrielle Entwicklungswege, z.B. Atomenergie, als zerstörerische Dynamik des Kapitals gedeutet werden), asymmetrischen Geschlechterverhältnissen (Hierarchisierung von Beschäftigungsverhältnissen und weibliche Reproduktionsarbeit fasst Heinrich mit Marxschen Kategorien) und antisemitischer Ideologie (ein Exkurs definiert Antisemitismus als »besondere Form der Personalisierung« zentraler Konstitutionsprinzipien kapitalistischer Gesellschaften), dass die Schnittstellen zahlreich sind. Das vorletzte Kapitel versucht, einige staatstheoretische Überlegungen anzuschließen.

Mit Johannes Agnoli wendet sich Heinrich gegen die Staatsvorstellungen des Weltanschauungsmarxismus – geläufig ist die Rede von »Basis/ Überbau« bzw. dem Staat als »Instrument der herrschenden Klasse« – und kritisiert das Gros marxistischer Kommunismuskonzeptionen, die diesen entweder als Ideal betrachteten oder in eine langweilige »Verstaatlichung der Produktionsmittel« transformierten. Emanzipation vom anonymen Zwang des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch bewusste Gestaltung gesellschaftlicher Abhängigkeiten bleibt dagegen das Ziel, meint Heinrich.

Marx hat sich durch die Abfassung des Anhangs zur Erstauflage des »Kapital« dem Vorwurf ausgesetzt, er habe Popularisierung betrieben. Heinrich kann dieser Vorwurf nicht treffen: Sein Buch ist allgemeinverständlich und selbst für Marx-KennerInnen ein Gewinn. Es taugt als Ein- und Weiterführung.

Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Schmetterling Verlag 2004, 234 S., 10 Euro