Das Hemd und der Rock

Götz Alys Materialismus ist ebenso wie der Materialismus mancher seiner Kritiker eine Rationalisierung des Wahns und eine Absage an materialistische Kritik. von gerhard scheit

Es ist die Stunde der deutschen Materialisten, jener Leute also, die in der Materie die Ursachen und die Begründungen der Volksgemeinschaft suchen und finden. Da weist einer mit vielen Fakten nach, was jeder weiß: dass der Vernichtungsfeldzug, der 1933 begann, Bereicherung für die Volksgenossen bedeutete. Aus dieser materialistischen Erkenntnis zieht er messerscharf seine Schlüsse und schlägt sich coram publico mit der flachen Hand auf die Stirn: Darum also waren sie alle Nazis, jetzt verstehe ich!

Umgekehrt folgt daraus: »Der Meinung, in Deutschland habe sich ein spezieller, ein exterminatorischer Antisemitismus und Fremdenhass früh entwickelt, fehlt jede empirische Basis. Es ist irrig anzunehmen, für eine besonders folgenschwere Fehlentwicklung müssten sich spezielle, langfristig angelegte Gründe finden. Die NSDAP eroberte und konsolidierte ihre Macht aufgrund der situativen Konstellationen.«

So lautet Götz Alys materialistische Antwort aus Deutschland auf den Idealismus Daniel Goldhagens, der von Amerika ausging. Denn dieser musste bei einer gleichsam idealistischen Konstruktion Anleihe nehmen, um das seltsamste aller Völker, Hitlers willige Vollstrecker, auf den einzig möglichen Begriff zu bringen, der ihren exterminatorischen Taten gerecht wird: Die Deutschen töteten die Juden, weil sie die Juden töten wollten. Damit es wissenschaftlicher und amerikanischer klingt, wählte er dafür den Begriff »kognitives Modell«.

Dieses Modell, dessen sich Goldhagen bedient, um die Taten der Deutschen adäquat zu beschreiben, kann nicht kausal abgeleitet werden, weder naturwissenschaftlich noch geistesgeschichtlich. Es lässt sich lediglich konstatieren und analysieren und führt gerade darum den politischen Wahn als einen Zustand vor Augen, in dem keine Erfahrung möglich ist. Die Deutschen fühlten sich von Goldhagens Buch bekanntlich getroffen.

Götz Aly erwähnt es nicht einmal mehr. Was soll er mit dem Begriff des »kognitiven Modells« oder der Denunzierung des politischen Wahns? Das mag vielleicht für den Ersten Weltkrieg noch Gültigkeit haben, »als die Deutschen aus purem Patriotismus in den Krieg ziehen wollten«, wie er meint. Nun aber, im Dritten Reich, herrschte gewissermaßen eine kriminelle Rationalität, denn die Deutschen waren materialistisch geworden: »Es kam darauf an, sie am wirtschaftlichen Erfolg der verschiedenen Raubzüge sofort und spürbar zu beteiligen«, schreibt er.

Die Basis ist unmittelbar der Überbau, Hitlers Volksstaat eine situative Konstellation, die sich aus allen ökonomischen Quellen der Jahre 1933 bis 1945 erschließen lässt. Die Volksgenossen folgen keinem kognitiven Modell, sind keine negativen Idealisten, sondern verhalten sich zu ihrem Staat je nachdem, wie viel dabei herausspringt. Das wissen ihre Führer und errichten darum eine »Gefälligkeitsdiktatur«.

Die Stimmung, in der Götz Alys Buch geschrieben ist, tritt deutlich zutage: Bomber Harris im Dienste seiner Majestät Hartz IV. Aber da kriecht aus den Ruinen der zerbombten Volksgemeinschaft, die eine Zumutungsdemokratie geworden ist, schon wieder der alte deutsche Materialist hervor. Seine Materie ist die Historie im geistesgeschichtlichen Sinn, seine Majestät noch immer Wilhelm II. oder Liebknecht I., für ihn gibt es die guten alten, gediegenen Ursachen (Betonung auf »Ur«) und nicht die ständig wechselnde, eben flexible Konstellation.

Während Götz Aly behauptet, es gebe »keinen deutschen Sonderweg«, der sich »in eine plausible Beziehung zu Auschwitz setzen« ließe, wird Hans-Ulrich Wehler alles auf diesem Sonderweg nach Auschwitz plausibel, der die Via Dolorosa des deutschen Volkes war: »Mit der Ausnahme Österreichs hat kein europäisches Volk derart massiv wie das deutsche nach 1918 unter dem Trauma der Niederlage, dem Versailler Frieden, der ›Reparationsknechtschaft‹, der Hyperinflation und der großen Wirtschaftskrise seit 1929 gelitten.« Daraus schlussfolgert Wehler, dieser wahrhaft historische Materialist, im Spiegel: »Der rassistische Antisemitismus hatte seit dem Ersten Weltkrieg weithin an Boden gewonnen, und immer wieder entlud er sich in militanter Aggressivität«. Und am schlimmsten entlud sich der Versailler Friede bekanntermaßen in Auschwitz.

Was diesen deutschen Materialismus eint, der sich in solchen Debatten verewigt, das ist die Austreibung materialistischer Kritik. Alle Erkenntnis, die einmal im Geist von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Franz Neumann und Otto Kirchheimer, Heinz Langerhans und Herbert Marcuse über autoritären Staat und Antisemitismus formuliert worden ist, soll ausgelöscht werden. Abgesehen von einer Anspielung auf Horkheimer im letzten Satz des Buches fehlt bei Aly jeder Bezug auf die Diskussionen der dreißiger und vierziger Jahre, weil überhaupt jeder Begriff gesellschaftlicher Synthesis fehlt.

Wehler geht noch einen Schritt weiter. Er spricht vom »nationalsozialistischen Leviathan«, wie um die grundlegende Studie zum Nationalsozialismus, Franz Neumanns »Behemoth«, nicht nur zu verschweigen, sondern geradezu ungeschehen zu machen. Neumann wählte den Namen »Behemoth« zur Bezeichnung des nationalsozialistischen Staates, weil dieses biblische Ungeheuer bei Thomas Hobbes dem anderen namens Leviathan genau entgegengesetzt ist, um, wie Neumann sagt, »einen Unstaat, ein Chaos, einen Zustand der Gesetzlosigkeit, des Aufruhrs und der Anarchie« zu symbolisieren.

Der Nationalsozialismus realisiere nun auf der Grundlage der modernen Gesellschaft Unstaat und Chaos in totaler Form, verschlinge nicht nur »die Rechte wie die Würde des Menschen«, sondern drohe, die ganze Welt »durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos« zu verwandeln. Der Leviathan jedoch ist für Hobbes wie für Neumann das Symbol eines Staatsungeheuers oder politischen Zwangssystems, bei dem die unmittelbare Gewalt des Souveräns nicht unbedingt die Vermittlungsform des Rechts und die Reproduktion der Gesellschaft ausschließen muss, sodass Reste der Herrschaft des Gesetzes und von individuellen Rechten bewahrt werden können.

Aber schon erscheint die jüngste Generation auf dem Schauplatz, und ihr gelingt ohne größere Umstände die Versöhnung von Vater und Großvater in der Geschichtsforschung wie die Kreuzung der Staatsungeheuer in der Theorie.

Gerhard Hanloser demonstriert in seinem Beitrag zu Götz Aly (Jungle World, 15/05), wie man die Kritische Theorie vollständig ignoriert, indem man sich ausdrücklich auf sie bezieht. Deren Repräsentanten erscheinen lediglich als verkleidete Leninisten. Der Begriff des »Rackets« und die »Resistenzkraft des Rechts« bei Horkheimer oder Neumanns Darstellung Nazideutschlands als einer monströsen »Bande«, die das Recht im »technischen Mittel« ihrer politischen Zwecke aufgehen lässt – all das ist der Erwähnung nicht wert, würde doch sonst auch die Notwendigkeit deutlich, die inneren Gegensätze und ausgetragenen Kontroversen der Kritischen Theorie zu explizieren. Stattdessen werden diese kurzerhand aufgelöst, wie es dem linken Hausverstand entspricht, der alles verwischt: Leviamoth oder Behethan müsste diese Analyse heißen, die von Neumann nur so viel verstanden hat, dass der Nationalsozialismus »immer noch eine Klassengesellschaft« sei.

Hanloser entwickelt darum einen Sinn für die fundamentale Erkenntnis, in der Alys Buch gipfelt: dass einem Volksgenossen das Hemd näher ist als der Rock. Zugleich sieht er, ähnlich wie Wehler, im Nationalsozialismus »eine Sonderform«: Die »widersprüchliche Gestalt der NSDAP« war eine »Antwort auf die tiefe Krise des Kapitalismus«.

Das Leid und das Trauma der Deutschen, die den alten Sonderweghistoriker noch bewegten, rühren indessen den neuen Krisentheoretiker nicht mehr. Wenn sie bereitwillig jedes Hemd an- oder auszogen und im Soldatenrock sogar sich selbst opferten, nur um die Juden zu vernichten, will er hingegen um jeden Preis die »Widersprüchlichkeit« des Nationalsozialismus geachtet wissen. Aber nichts könnte den Kern dieser deutschen Barbarei besser verstellen, die doch auf Eliminierung aller Widersprüche, auf Vernichtung zielte und darum überhaupt nur zur Sprache gebracht werden kann, wenn die Grenze des Kapitalbegriffs in ihrer Darstellung bewusst wird.

Mit der Sprache und den Begriffen will der Krisentheoretiker sich jedoch nicht beschäftigen, den Satz von Marx, dass die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt, hat er nie begriffen. Also bleibt er bei der Frage stehen: »Wie lässt sich der Durchhaltewillen im Krieg und die bis in die letzten Tage durchgeführte Vernichtung der europäischen Juden erklären, wenn doch ›die Deutschen‹ nur wegen ihrer materiellen Besserstellung aus ihrer Mitte heraus ›beispiellose Massenverbrechen zulassen und begehen‹?«

Wie immer die Antwort darauf lauten mag, sie darf am Begriff der Totalität nichts ändern, das heißt: die Klassenfrage nicht tangieren. Und die ergibt sich ganz von selbst aus der bloßen Annahme, dass die nationalsozialistische Gesellschaft »immer noch« nach Maßgabe dieser Frage zu begreifen wäre. Zur Debatte steht also nicht mehr »der Sozialismus des dummen Kerls«, sondern die Klassengesellschaft desselben.

In dieser »Gehirnschande«, wie Karl Kraus einmal die interessierte Verharmlosung politischer Wahnvorstellungen nannte, gleicht ein deutscher Materialist dem anderen, nur dass der eine mit seinem Rückgriff auf den Marxismus über die situative Konstellation der Gegenwart wie den Sonderweg der Vergangenheit sich erhaben glaubt. Dabei wäre mit beidem nur zu brechen, wenn endlich der Rationalisierung des Wahns – sei es als Klassenkampfkrise, als »Gefälligkeitsdiktatur« oder als Trauma-Antisemitismus – ein Ende gemacht würde.

Von Gerhard Scheit erschien im Freiburger Verlag ça ira kürzlich das Buch: »Suicide Attack – Zur Kritik der politischen Gewalt«.