Stütze für Unternehmer

Hartz IV subventioniert die Unternehmer, drückt die Löhne und senkt die Steuereinnahmen. Das neue »Optimierungsgesetz« verstärkt diese Tendenz. von ernst lohoff

Man möchte sich die Augen reiben. Wer wüss­te nicht aus eigener Erfahrung oder Beobachtung, dass der arbeitslose Teil der Bevölkerung mit der Einführung von Hartz IV den größten Verarmungsschub der bundesdeutschen Geschichte durchgemacht hat? Trotzdem verkünden alle Kanäle und Blätter: Hartz IV kommt viel zu teuer und ist deshalb dringend reformbedürftig! Der Bund muss für das Arbeitslosengeld II rund zehn Milliarden Euro mehr ausgeben als veranschlagt, und damit steht die angestrebte Konso­lidierung des Haushalts in Frage. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hü­ther, kommentierte: »Aus Angst vor dem Sozialabbau wurde ein unkontrollierter Sozialaufbau.« Die Große Koalition begreift diese Unverschämtheit als Diagnose und zieht die Konsequenz. Am 1. August soll ein Gesetz zur »Optimierung des Sozialgesetzbuches II« in Kraft treten, das die Langzeitarbeitslosen noch weiter maßregelt.

Die Regierungsparteien sprechen von einem »mas­senhaftem Missbrauch«. Würde man das »Erschleichen« von Leistungen konsequent bekämpfen, würden die Ausgaben um eine halbe Milliarde Euro senken, will das Bundesarbeitsministerium errechnet haben. Die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit dementierte umgehend und bezifferte die zu Unrecht ausgezahlten Beträge auf lediglich 26 Millionen Euro – zu Deutsch: Peanuts.

Tatsächlich ist, seit die Hartz-IV-Gesetze in Kraft getreten sind, die Anzahl der »Bedarfsgemeinschaften« mit einem Anspruch auf Arbeitslosengeld II von 3,3 auf 3,9 Millionen angestiegen. Das ist eine leicht erklärbare, allerdings Kosten treibende Vermehrung. Ein zentraler Inhalt von Hartz IV war die groß angelegte Streichung individueller Versicherungs­ansprüche. An ihre Stelle trat mit dem Arbeitslosengeld II eine egalitäre Minimalversorgung, die jedoch nur den »Bedürftigen« vorbehalten bleiben soll. Im Klartext heißt das, die »Arbeitsmarktreform« zielt wesentlich darauf, die materielle Versorgung der Arbeitslosen, wo immer möglich, auf ihre Angehörigen abzuwälzen. Das reale bzw. meldetechnische Dasein als Single bot sich als ein Mittel an, um dieser Familiarisierung partiell auszuweichen. Unverheiratete Paare gaben sich nicht mehr als Paare zu erkennen, um zu ermöglichen, dass der arbeitslose Partner den vollen Betrag des neuen Arbeitslosengeldes erhält. Junge Erwachsene kehrten trotz Arbeitslosigkeit »Hotel Mama« den Rücken.

Über die gnadenlose Enteignungspolitik empört sich kaum jemand, skandalisiert wird stattdessen der Versuch, sie, so gut es geht, individuell zu unterlaufen. Die Chuzpe, eine solche Umkehrung zu vollziehen, ist aber nicht das einzig Bemerkenswerte an der gegenwärtigen Debatte. Völlig auf den tatsächlichen oder vermeintlichen Anteil der Leistungsbezieher am Finanzierungsproblem fixiert, sind auch die primären Ursachen der Haushaltslöcher kein Thema. Das Geld, das den Leistungsempfängern zukommt, soll weiter gekürzt werden, während immer größere Summen in der Folge von Hartz IV an anderen Stellen verloren gehen. Die Bundesregierung und die Öffent­lichkeit lamentieren, weil die Privatisierung des ma­teriel­len Elends nicht auf Anhieb im gewünschten Umfang gelang, und laden Dritte ein, sich aus der Bundeskasse zu bedienen.

Eine große Veränderung betrifft das Verhältnis der öffentlichen Kassen untereinander. Während die Summe der Transferleistungen, die bei den Langzeit­arbeitslosen ankommt, keineswegs gewachsen ist, hat sich die Verteilung der Lasten entscheidend verändert. Auch nach der Zusammenlegung der kommunal finanzierten Sozialhilfe und der vom Arbeitsamt bezahlten Arbeitslosenhilfe müssen die Kommu­nen de jure für all jene ehemaligen Sozialhilfeempfänger aufkommen, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Städte und Gemeinden haben die Gesetzesnovelle indes dazu genutzt, Hunderttausende ihrer »Kunden« offiziell in die Kategorie »arbeitsfähig« umzubuchen. Damit wurde de facto der Unterhalt von allein erziehenden Müttern mit Kindern unter drei Jahren, Alkoholabhängigen usw. dem Bund untergeschoben.

Was die Gesamtausgaben der öffentlichen Hand angeht, ändern derlei Tricksereien natürlich kaum etwas. Viel entscheidender ist, dass mit Hartz IV die fatale Parole »Arbeit zu finanzieren, ist besser, als Ar­beits­losigkeit zu finanzieren« erstmals zum Gesetz geworden ist. Der Staat ist dazu übergegangen, die Unternehmer zu subventionieren. Es ist ein vom Staat alimentierter Dumpinglohnsektor entstanden, der im Gegensatz zum »zweiten Arbeitsmarkt« der Vergangenheit in direkte Konkurrenz zur regulären Arbeit tritt. An dem für die Kassen der Sozialversicherungen verheerenden Verdrängungswettbewerb hat nicht nur die eine Million »Minijobber« teil, die zusätzlich Arbeitslosengeld II erhält. Auch die so genannten Ich-AGs, jene am staat­lichen Tropf hängenden Pseudoselbständi­gen, leisten dazu unfreiwillig ihren Beitrag sowie ein Gutteil der 260 000 Ein-Euro-Jobber.

Zwar hatte der Gesetz­geber vorge­sehen, dass die neuen Stellen »gemeinnützig« zu sein hätten und keine vorhandene Stellen ersetzen dürften; mit diesen Grundsätzen ist es aber angesichts knapper Budgets nicht weit her. Stichproben des Bundesrechnungshofs ergaben kürzlich, dass ein Viertel der geschaffenen Stellen gegen die Bedingung der Zusätzlichkeit verstößt und 50 Prozent jener Stellen vorsichtshalber gar nicht erst auf dieses Kriterium hin geprüft wurden. Mit rund 75 Prozent aller Ein-Euro-Jobs betreibt der Staat sozusagen »Missbrauch« an sich selbst. Ob ar­beits­lose Sozialpädago­gin, Handwerker oder Informatikerin – immer mehr Menschen bekommen die großartige Chance, ihre Qualifikation zum Preis von einem Euro pro Stunde plus Arbeitslosengeld II zum Wohl ihres Unternehmers wieder zu nutzen und regulär bezahlte Kollegen auf die Straße zu drängen.

Im Augenblick sind es primär kommunale Arbeitgeber und Wohlfahrtsverbände, die von dieser Praxis profitieren und die durch Personalkürzungen gerissenen Lücken mit Ein-Euro-Jobbern auffüllen. Grund­sätzlich ist das Modell aber auch auf die »freie Wirtschaft« übertragbar. Wenn die Große Koalition diese Politik fortsetzt und die glorreichen innovativen Beschäftigungsformen weiter ausbaut, dann muss sich dies als wahrer Geniestreich entpuppen. Auf diesem Weg gelingt es nämlich gleichzeitig, einen enormen Druck auf das Lohnniveau der Lohnabhängigen aufzubauen, damit indirekt die Steuereinnah­men zu senken, die Sozialversicherungen ihrer Einkünfte zu berauben, die Arbeitslosen zu terrorisieren und die Staatsaus­gaben enorm zu steigern.

Ein weiterer Faktor erhöht die Ausgaben, ohne dass sich deswegen der Lebensstandard der Bezieher des Arbeitslosengeldes verbessern würde. In der Tradition der Sozialhilfe übernimmt der Staat bisher auch unter dem Regime von Hartz IV neben dem Regelsatz von 345 Euro auch die Miet-, Neben- und Heizkosten. Von diesen Kosten tragen die Kommunen zwei Drittel, der Bund den Rest. Gerade dieser Grundbedarf hat sich in jedoch den vergangenen Jahren und insbesondere im Jahr 2005 enorm verteuert. Nicht, dass die Bezieher von Transferleistungen komfortabler als früher wohnten, öfter heizten, kochten oder duschten. Dennoch stiegen die Preise für Mie­ten, Nebenkosten und die Strom- und Gasrechnun­gen im vorigen Jahr zum Teil um zweistellige Pro­zentzahlen. Solange sich die öffentliche Hand den ungeheuren Luxus erlaubt, Grundbedürfnisse der Bezieher des Arbeitslosengeldes II – wie etwa eine halbwegs warme und beleuchtete Wohnung – zu erfüllen, wirkt sich die Privatisierung öffentlicher Güter auch auf den Staatshaushalt aus. Denn die früher staatlichen und kommunalen Infrastrukturunternehmen richten ihre Geschäftspolitik nun einmal nicht mehr an der Grund­versorgung der Bürger, sondern an der Maximierung des Profits aus.

Zu allem Überfluss stellt diese Neuausrichtung auch noch das heilige Lohnabstandsgebot in Frage. Die perfide Logik lautet: Wenn schon Wenigverdiener angesichts sinkender Löhne kaum mehr die steigenden Fixkosten aufbringen können, warum sollen dann Arbeitslose in diesen Genuss kommen?

Zu den vorgesehenen »Nachbesserungen« an den Hartz-IV-Gesetzen gehört es entsprechend, diese »Verschwendung« zu beenden. Luxus­artikel wie Strom und Gas sollen die Leistungsbezieher künftig aus dem Regelsatz bezahlen. Offenbar kursiert in Berlin-Mitte ein neuer Masterplan, was die im Kyoto-Abkommen vorgesehene Reduktion des Ausstoßes von Kohlendioxid angeht. Den hiesigen Arbeitslosen wird das Heizen abgewöhnt und der künftige Energieverbrauch sinkt mit jeder wegen einer nicht bezahlten Rechnung abgeklemmten Leitung.

Ideologisch betrachtet steht Hartz IV für eine Politik, die stur die »Krise der Arbeit« als das individuelle Versagen der Unverkäuflichen behandelt. Faulheit und Dummheit sind demnach die einzigen Gründe, weshalb jene sich nicht auf dem Arbeitsmarkt behaupten können. Praktisch verbindet Hartz IV die Priva­tisierung und Familiarisierung der Kosten der Arbeitslosigkeit mit einem für So­zial­kassen und Bundeshaushalt verheerenden Förderprogramm für die Unternehmer. Das »Optimierungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II«, das am 1. August in Kraft treten soll, trägt seinen Namen im schlimmsten Sinne zu Recht. Die darin enthaltenen Maßnahmen führen die Generalmobilmachung gegen die Arbeitlosen gnadenlos fort und treiben die fatale Abwärtsentwicklung weiter, in der gleichzeitig Arbeitslose und Beschäf­tigte verarmen und die öffent­lichen Kassen geplündert werden.