Gott kriegt die Krise

Wo andere einen Konflikt »Orient gegen Okzident« oder »The West Against the Rest« ausmachen, sollte die Linke die kulturalistische Identitätspolitik auf beiden Seiten angreifen. Von Ernst Lohoff

Die meisten politischen Debatten und Richtungsstreitigkeiten verebben mehr oder minder spur- und folgenlos. Viele sind quasi schon vergessen, während sie noch toben. Nur ganz wenige zeigen historische Brüche an und finden irgendwann einmal Eingang in die Geschichtsschreibung. Von der unseligen Debatte um den »Kampf der Kulturen«, die in den letzten Jahren und noch einmal verstärkt seit dem Frühjahr 2006 nicht nur die deutsche Öffentlichkeit beschäftigte, steht zu befürchten, dass sie in diese Königskategorie fallen könnte.

Sicher, die hohen Wellen, die der »Karikaturenstreit« schlug, haben sich inzwischen gelegt, und auch die Diskussion um die Einführung spezifischer, entlang des Feindbilds Islam gestrickter Einbürgerungstests ist mittlerweile vorbei; angesichts der zugespitzten Lage im Konflikt zwischen Israel und der Hizbollah und der Endlosmisere des zerfallenden Iraks erscheint der Kampf mit den islamistischen, antiokzidentalistischen Strömungen im Augenblick vorderhand als »außenpolitisches« Problem der USA und Israels, und seine identitätspolitische Funktion ist erst einmal in den Hintergrund getreten. Das kann sich aber jederzeit schlagartig ändern. Nicht nur im meteorologischen, auch im ideologischen und identitätspolitischen Sinn steht die Weltgesellschaft am Rande einer globalen Klimakatastrophe mit unabsehbaren Folgen.

Angesichts der Krise der Weltwarengesellschaft fliehen die modernen Weltbürger in kulturalistisch definierte Gemeinschaftlichkeit und suchen Halt in der Pseudoeindeutigkeit von Freund-Feind-Verhältnissen, indem sie ethnische und religiöse Differenzen zu Wesensgegensätzen überhöhen. Diese Flucht droht zu einem sich selbst verstärkenden Prozess zu geraten, der die weitere Krisenentwicklung entscheidend prägen dürfte. Was die westlichen Zentren angeht, spielt dabei die Gegnerschaft zu »dem Islam« eine Schlüsselrolle. Die Konfrontation mit der islamistischen Herausforderung aktualisiert und reaktiviert ausgerechnet die nach dem projektiven Hassobjekt »des Judentums« am tiefsten im kollektiven Selbstverständnis des Okzidents verankerte Feindbestimmung.

Niemand kann die Reichweite und die Folgen der gegenwärtigen Entwicklung genau abschätzen. Allerdings lässt sich konstatieren, wie weit der Zeitgeist bereits von dem weggedriftet ist, was während der achtziger und neunziger Jahre noch hegemonial war. Das neoliberale Zeitalter verband die Marktreligion mit einem extremen Individualisierungskult, was Margaret Thatcher vor vielen Jahren auf die ebenso prägnante wie berühmte Formel brachte: »There’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families.«

Angesichts der verheerenden Konsequenzen der neoliberalen Politik hat dieses schlichte Weltbild jedoch seine Überzeugungskraft verloren. Dennoch gibt es kein Zurück zum fordistischen Status quo ante. Die Nationalstaaten verlieren tatsächlich, wie vom Neoliberalismus propagiert, ihre Fähigkeit zur ideologischen und praktischen Integration der Gesellschaft, aber nicht um künftig dem Einzelkämpfer, der nur sich selbst und seine Kleinfamilie kennt, allein das Feld zu überlassen; ihren Platz nehmen vielmehr neue auf Ausgrenzung und Feinderklärung geeichte Kollektiv­iden­titäten ein. Die Gesellschaft geht, und kulturalistisch oder religiös definierte Gemeinschaften füllen die Lücke, die ihr sukzessiver Rückzug hinterlässt.

In den peripheren Ländern übernehmen diese Gemeinschaften bereits seit Jahren Teile jener Funktionen, die dem klassischen Modernisierungsideal zufolge der weltanschaulich neutrale Staat auszufüllen hätte. Die Hizbollah etwa und nicht der libanesische Nominalstaat sorgt in ihrem Herrschaftsbereich für die Aufrechterhaltung einer gewissen Infrastruktur und garantiert ihrer Klientel einen Rest an sozialer Absicherung.

In Europa, wo die Rücknahme der staatlichen Integrationsleistung von einem viel höheren Vergesellschaftungsniveau ihren Ausgang nimmt, bleibt die ethnizistische Konstruktion »imaginärer Gemeinschaften« (Benedict Anderson) zunächst im Wesentlichen ein ideologisches Phänomen – allerdings eines mit Tiefgang und weiter Verbreitung. Das lässt sich u.a. daran ablesen, dass selbst die offizielle Legitimationsideologie für die Demontage des hiesigen Sozialstaats zusehends eine neue Färbung annimmt. Das Selbstverantwortungsgewäsch ist geblieben; aber es wird immer weniger mit dem Kultus des Individuums begründet. Stattdessen nimmt in den Sonntagsreden der Regierenden derjenige, der den Sozialstaat nicht mit seinen Rechten und Ansprüchen belästigt, seine Verantwortung gegenüber dem nationalen Ganzen wahr.

Die Hinwendung zur kulturalistisch und religiös definierten Gemeinschaftlichkeit fällt mit der Hinwendung zum Irrationalen zusammen. Das neoliberale Zeitalter kannte nur den »Terror der Ökonomie«, also die verrückte Rationalität des Profits; sein Ideal war der auf seinen eigenen Vorteil bedachte kühle Rechner. Heute feiert dagegen mit der Gemeinschaft das Heroische fröhliche Urständ. Fast ein Vierteljahrhundert lang beherrschte die antikollektive Utopie die ideologische Landschaft, nach der in einer entgrenzten und von politischen Feindschaften befreiten Welt unmittelbar dem Weltmarkt unterworfene Menschen einander ohne rassistische und kulturalistische Vorbehalte friedlich zu Tode konkurrieren sollten.

Die kollektive Identitätsinszenierung, die mit dem »Kampf der Kulturen« neben die individuelle Selbstbehauptung im Wettbewerb der Arbeits- und Konsumsubjekte tritt, beinhaltet demgegenüber nicht allein den ethnizistisch begründeten Ausschluss, sie ist zugleich gewaltästhetisch aufladbar.

Antiokzidentalistischer Kulturalismus

Das Phantom einer entgrenzten Weltmarktgesellschaft, die sich in Milliarden erfolgsverwöhnte Ich-AGs auflösen solle, war ein Produkt des kasinokapitalistischen Honeymoons. In den Weltregionen, die nicht bzw. kaum am langen finanzmarktinduzierten Boom teilhatten, konnte es sich nie derart tief ins Massenbewusstsein hineinfressen wie in den Metropolen. Dort setzte sich denn auch deutlich früher als in den Weltmarktzentren die Ethnisierung der warengesellschaftlichen Widersprüche als dominante ideologische Reaktionsform auf den krisenträchtigen Globalisierungsprozess durch.

Insbesondere der islamische Raum zwischen Marokko und Pakistan geriet mit dem Übergang zum globalisierten Kapitalismus ökonomisch und politisch noch weiter als bisher ins Hintertreffen und erfuhr drastische Verelendungsschübe. Das endgültige Scheitern der sich meist sozialistisch definierenden nationalen Modernisierungsregimes in Algerien, Ägypten, Syrien, dem Irak usw., das mit dem Kollaps des Realsozialismus offiziell besiegelt wurde, hinterließ zusammen mit dem Bankrott der traditionell-marxistischen Kapitalismuskritik ein Deutungsvakuum.

Dieses wurde von antiokzidentalistischen Strömungen gefüllt, die für die fatale Lage der islamischen Welt statt des Weltkapitalismus die »zersetzenden« Einflüsse der »abendländischen Kultur« verantwortlich machen. Die erfolglose Erfindung arabischer Nationen machte einem poststaatlichen und – entgegen allem Anschein – postmodernen Kollektivkonstrukt Platz: der Umma, der Gemeinschaft aller gläubigen Muslime, die einem »authentischen« Islam Folge leistet.

Den traditionellen Islam zeichnete stets eine hohe Anpassungsfähigkeit gegenüber den regionalen Gewohnheiten und den jeweiligen Zeitumständen aus. Der Islam vereinte stets Menschen mit höchst heterogenen Sitten und Glaubensvorstellung unter einem religiösen Dach. Den »reinen und unveränderlichen Islam« hat es nie gegeben. Die projektive Umfunktionierung der Umma zum mit sich identischen, Zeit und Raum übergreifenden Kollektivsubjekt bietet aber gerade nach dem Scheitern des laizistischen arabischen Nationalismus einen hohen identitätspolitischen Mehrwert.

Dieses Konstrukt erlaubt zum einen, »dem Westen« auf gleicher identitätspolitischer Augenhöhe gegenüberzutreten; die transnationale Umma ist die antiokzidentale Version des postmodernen Weltbürgers. Zum anderen erlaubt die Frontstellung (zwischen »reinem Islam« auf der einen Seite und den Ungläubigen und Apostaten auf der anderen Seite), alles Bedrohliche und Verheerende am globalisierten Kapitalismus zu einer fremden, äußeren Macht zu erklären.

In Westeuropa fasste der Ethnizismus in den achtziger und neunziger Jahren zunächst vornehmlich als neonationalistische Schmuddelideologie Fuß, die weit verbreitete, von der neoliberalen Weltanschauung aber nicht zugelassene Deklassierungsängste in aggressive Ausgrenzungsprogramme übersetzte und darüber hinaus einer vom Absturz bedrohten weißen Männlichkeits­identität die performative Selbstvergewisserung erlaubte. Was die Feindbildbestimmung und die Wahl seiner Identitätsmuster angeht, lehnte sich der aufkommende europäische Ethnizismus zunächst einmal noch recht eng an die klassischen nationalistischen und rassistischen Ideen an.

Die Entwicklung in God’s own country bot demgegenüber ein anderes, von vornherein reiferes Bild. Hier war es vor allem der christliche Fundamentalismus, der an Kraft gewann und dessen Netzwerke von Beginn an sehr viel mehr Einfluss auf den öffentlichen Diskurs ausübten als Schönhuber, Haider, Le Pen und Konsorten. Darüber hinaus bewegte sich die christlich-fundamentalistische Weltdeutung im Gegensatz zum nur unvollständig vom kleinräumigen Nationalismus abgelösten europäischen Ethnizismus von vornherein auf der postnationalstaatlichen, weltgesellschaftlichen Höhe der Zeit.

Während man sich in Europa darauf beschränkte, in der Grundausrichtung defensiv die nationalen »Leitkulturen« vor der angeblich drohenden »Überfremdung« retten zu wollen, traten die US-amerikanischen protestantischen Sekten von vornherein als ideologische global player auf und entfalteten insbesondere in Latein-amerika und Westafrika eine rege Missionstätigkeit zur Verbreitung ihres Weltbilds.

Feindschaft verbindet

Der islamische Fundamentalismus richtete sich zunächst unmittelbar praktisch gegen die in Korruption versunkenen einheimischen Modernisierungsregimes und die Satrapenregierungen des Westens in den islamischen Ländern. In dieser Phase wurde er in Europa und den USA trotz blutiger Bürgerkriege, etwa in Algerien, nur am Rande wahrgenommen. Die Ausbildung eines jihadistischen Flügels, der die Konfrontation von der innerstaatlichen auf die globale Bühne trug, bedeutete demgegenüber nicht allein für die Entwicklung des islamischen Fundamentalismus einen qualitativen Sprung, sondern auch für die Umgestaltung der ideologischen Landschaft im »Okzident«.

Als ob man auf diesen Gegner nur gewartet hätte, markiert der 11. September 2001 den Übergang von einem schleichenden zu einem rasanten und offenen Ethnisierungsprozess. Indem der Westen dem islamischen Fundamentalismus offiziell die Stirn bietet, eifert er inoffiziell dessen Vorbild nach. In der Verteidigung des Individuums und der pluralistischen Demokratie gegen die als Wiederkehr der fanatischen Masse und der »totalitären Herausforderung« imaginierte »islamische Kultur« nimmt die westliche Menschenrechtsideologie unter der Hand immer mehr Züge einer postmodernen Stammesreligion an.

Nicht nur, dass sie eine Milliarde Menschen als ideologische Haftungsgemeinschaft behandelt, unter Generalverdacht stellt und damit deren präventiven Ausschluss legitimiert; indem die Verteidiger der »westlichen Wertegemeinschaft« ein Wesen der »islamischen Kultur« konstruieren, zu dessen Kernelementen Gewalt und Frauenunterdrückung gehören, externalisieren sie projektiv den gewaltförmigen und sexistischen Charakter der kapitalistischen Gesellschaft und schaffen sich ein Gegenbild zum »Westen«, das gleichzeitig als Feind- und Vorbild funktioniert.

Schon bei Abu Huntington, dem Vordenker des clash of civilizations, ist das Doppelbödige der Erfindung einer geschlossenen und überzeitlich gedachten islamischen Kultur mit Händen zu greifen. »Culture is to die for«, schrieb er dem in seinen Augen dekadenten Westen ins Stammbuch und erklärte damit schon 1993 die Übernahme der »dem Orientalen« vorgeblich wesenhaften Todesgeilheit zur Vorbedingung dafür, dass der »Westen« im »Kampf der Kulturen« bestehen könne.

Und auch was er »der westlichen Wertegemeinschaft« neben dem Sterben und Sterben-Lassen als Rezept fürs Überleben verschreibt, spricht eine eindeutige Sprache: »What ultimately counts for people is not political ideology or economic interest. Faith and family, blood and belief, are what people identify, and what they will fight and die for.«

Die geistige Einheit der globalen Warengesellschaft steht also allen anders lautenden Gerüchten zum Trotz mit dem clash of civilizations keineswegs zur Disposition. Sie stellt sich im Wechselspiel von demokratischen Kreuzrittern und islamistischen Gotteskriegern überhaupt erst in einem bislang nie erreichten Grad her. Nur nimmt sie eine etwas andere Gestalt an als jene, die den neoliberalen Vordenkern einst vorschwebte. Sie besteht im gentlemen’s agreement der Ethnizisten und Fundamentalisten aller Länder zur Installation einer Art weltumspannender Hooligankultur mit ausgeprägtem Hang zum Apokalyptischen.

Zwar zieht, schon was das Verhältnis zu den in Westeuropa lebenden Muslimen angeht, die Mehrheit der Bevölkerung und der Meinungsmacher nicht unbedingt mit überschießendem Enthusiasmus in die Auseinandersetzung zwischen »westlicher Wertegemeinschaft« und »islamischer Kultur«. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, welche tiefgreifenden Veränderungen sich gerade vollziehen.

Das lange im Ungefähren gebliebene Bedürfnis, »das Fremde« auszugrenzen, hat mit dem Islamkonstrukt nicht nur einen identifizierbaren Gegenstand bekommen, es ist gleichzeitig als »Verteidigung westlicher Errungenschaften« liberalismuskompatibel geworden. Das dumpfe und unspezifische »Ausländer raus« des braunen Bodensatzes nimmt in der Frage nach der so genannten Integrationsfähigkeit von Muslimen eine der Denkweise der demokratischen Mitte adäquate double-bind-Gestalt an.

Zur Kritik der vermeintlichen oder tatsächlichen Selbstghettoisierung der muslimischen Minderheit umgebogen, werden antiislamische Ressentiments hoffähig. Die Forderung nach Integration wird zum Mittel der Ausgrenzung, und natürlich finden sich genug Talkshow-taugliche, von Spiegel, Schily und Co. protegierte freiheitlich-demokratische Konvertitinnen wie die unvermeidliche Necla Kelek, die als Kronzeuginnen gegen ihre verstockten ehemaligen Glaubensbrüder und -schwestern auftreten.

Wie dramatisch sich mit dieser Volte die Konsensfähigkeit des Ausschlusses erhöht hat, lässt sogar schon ein Blick auf neuere demoskopische Erhebungen erahnen. Nach einer Allensbach-Umfrage verneinten bereits unter dem Eindruck des 11. September nur noch 43 Prozent der deutschen Bevölkerung die Frage, ob größere Spannungen mit der muslimischen Bevölkerungen in Deutschland zu erwarten wären. Eine Nachfolgestudie hat erbracht, dass dieser Anteil mittlerweile auf nur noch 22 Prozent abgestürzt ist (FAZ vom 17. Mai 2006). Das ist der Boden, auf dem der »Kampf der Kulturen« als groß angelegter, populistischer Präventivkrieg führbar wird und den Charakter einer self-fulfilling prophecy annimmt.

Das Feindbild Islam gewinnt im »Inneren« immer klarere Konturen. Dagegen stößt der als »Kampf gegen den Terror« apostrophierte demokratische Kreuzzug im Irak und in »Alteuropa« insgesamt (und insbesondere hierzulande) auf weit verbreitete Skepsis. Zum einen weckt verständlicherweise die Aussicht auf einen Weltbürgerkrieg bei jedem irgendwie noch Zurechnungsfähigen mehr Angst als Verzückung. Zum anderen überlagert und konterkariert eine andere kulturalistische Projektion den antiislamischen Affekt.

Gerade in Deutschland, der geistigen Urheimat des Antiokzidentalismus, gehört es zum in Krisenzeiten abrufbaren ideologischen Fundus, das als bedrohlich Empfundene am Weltkapitalismus in der projektiven Gestalt der »westlichen Zivilisation« zu externalisieren, um sich umso entschlossener mit dessen »guter Seite« zu identifizieren. Das alte Konstrukt »deutsche Kultur vs. westliche Zivilisation« hat in der Gegenüberstellung des friedliebenden »Alteuropa« und des wild gewordenen Westens, den USA, eine zeitgenössische postnationalstaatliche Ausformung gefunden.

Die innerimperialistische Ethnisierung mag zwar als Gegengewicht zum Feindbild Islam wirken. Dafür demonstriert das prekäre Gleichgewicht der konkurrierenden kulturalistischen Feindbestimmungen umso eindringlicher, wie allgegenwärtig ethnizistische Deutungsmuster insgesamt geworden sind. Auch dass in der offiziellen Politik der Ruf nach einem »Dialog der Kulturen« den Schrei nach dem »Kampf der Kulturen« derzeit noch übertönt, bietet wenig Anlass zur Entwarnung.

Diese Sprach- und Denkregelung verweist im Gegenteil gerade darauf, wie weit die kulturalistische Metamorphose inzwischen vorangeschritten ist.

Wo »Kulturen« miteinander in Dialog treten sollen, da sind die Individuen und ihre Probleme schon zum Schweigen gebracht, und Menschen mit spezifischer Vorgeschichte und unterschiedlichen sozialen Hintergründen haben sich bereits in Repräsentanten homogen gedachter kollektiver Identitätsblöcke verwandelt.

Im Prinzip wäre es ja zu begrüßen, wenn im Einwanderungsland Deutschland auf politischer Ebene endlich einmal nicht nur über Migranten, sondern mit ihnen geredet würde. Warum aber gelten ganz automatisch islamische Organisationen und nicht religiös indifferente Gruppierungen als privilegierte Sprecher und Repräsentanten der Einwanderer aus Nordafrika und Vorderasien? Warum das Bedauern darüber, dass auf »islamischer Seite« ein Pendant zu den christlichen Kirchen fehlt? Das Gerede vom notwendigen Brückenschlag zwischen »Christentum« und »Islam« beruht auf der Anerkennung des ethnizistischen Bezugssystem, das Huntington und die Jihadisten predigen, demzufolge die Weltgesellschaft in feste und klar abgegrenzte kulturelle und in der Regel religiös definierte Entitäten zerfällt.

Ein intrakultureller Konflikt

Der islamische Fundamentalismus hat seinen offiziellen Gegner in der »westlichen Zivilisation«, inkarniert in erster Linie im »großen und kleinen Satan«, also in den USA und Israel. Dieses Selbstverständnis darf indes über etwas ganz Wesentliches nicht hinwegtäuschen. Trotz der spektakulären Aktionen gegen »Zionisten und Kreuzfahrer« von Organisationen wie der Hizbollah oder al-Qaida, sein eigentliches Schlachtfeld und seinen eigentlichen Adressaten findet der islamische Fundamentalismus in den islamischen Gesellschaften und migrantischen Communities.

Mary Kaldor hat in ihrer Analyse der »neuen Kriege« herausgearbeitet, dass die Ethnokrieger der neunziger Jahre nicht primär gegeneinander in die Schlacht ziehen, sondern in erster Linie gegen die unwillige Zivilbevölkerung auf der »eigenen Seite«. Dieser Befund trifft auch für den »Kampf der Kulturen« zu. Die lautstarke Kriegserklärung nach »außen« kündet vor allem von einem gar nicht so stillen Feldzug nach »innen«. Der »Kampf der Kulturen« schafft den Rahmen, in dem der islamische Fundamentalismus mit der Erfindung des »reinen Islam« sowohl in der muslimischen Diaspora wie in den islamischen Ländern einen rigiden Anpassungs- und Gleichschaltungszwang legitimieren und entfalten kann. Die Repressionswelle, die derzeit über den Iran hinwegschwappt, spricht in dieser Hinsicht Bände. Erst die Konfrontation mit den USA macht es möglich, die vor wenigen Jahren noch mächtige zivile Opposition als vermeintliche »fünfte Kolonne« zu kriminalisieren und zu marginalisieren.

Aber das ist nur die staatliche Variante eines Mechanismus, der gerade auch poststaatlich funktioniert. Der »Westen« muss Muslime nur als dumpfe fanatische Masse imaginieren und behandeln, um antiokzidentale Identitätspolitiker zu stärken. Indem die hiesige Gesellschaft ausgrenzt, indem die westliche »Sicherheitspolitik« die Geiseln für die Geiselnehmer abstraft, schafft sie genau das, wovor sie sich fürchtet. Das ist die Sorte von ideologischen, polizeilichen und militärischen Schlägen, unter denen das angeblich Bekämpfte hervorragend gedeiht.

Aber auch in anderer Hinsicht funktioniert das westliche Menschenrechtskriegertum als präventive Konterrevolution. Sein Ausgrenzungsprogramm wirkt nicht nur gegenüber dem islamischen Fundamentalismus als Förderprogramm, darüber hinaus schafft der »Kampf der Kulturen« das ideale Klima, um innerhalb der westlichen Gesellschaften auf Repression und verstärkten Anpassungsdruck umzuschalten und einen fatalen Burgfrieden zu stiften. Mit dem Patriot Act und den einschlägigen Sicherheitsgesetzen in Europa haben sich die Regierungen überdies Waffen geschmiedet, die zwar in der Konfrontation mit dem neuen äußeren Feind wenig ausrichten, aber als Instrument zur Unterdrückung emanzipativer Regungen vielleicht noch einmal ihre Nützlichkeit beweisen können.

Unter der Hülle des interkulturellen Kampfes verbirgt sich in Wahrheit ein intrakultureller Konflikt. Das gilt nicht allein in dem Sinn, dass sich im clash of civilizations eine Art heimliche »Große Koalition« zwischen den antiemanzipatorischen Kräften auf beiden Seiten des behaupteten »kulturellen« Grabens herstellt; der islamische Fundamentalismus ist selber Fleisch vom Fleisch jener westlichen Zivilisation, gegen die er zu Felde zieht. Die Vorstellung, beim Zusammenprall der »Kulturen« handle es sich um das Gegeneinander von Moderne und Vormoderne, ist pure Ideologie und als solche genauso weit verbreitet wie in der Sache absurd.

Der islamische Fundamentalismus mag sich noch so energisch als absoluter Bruch mit dem modernen westlichen Denken gerieren, realiter handelt es sich bei ihm um eine hypermoderne Bewegung. Das betrifft keineswegs bloß die Nutzung der Mittel der modernen Technik, insbesondere den oft virtuosen Umgang mit den medialen Möglichkeiten des »Informationszeitalters«, sondern auch ihren Inhalt und ihre Ziele. Wer die Ideologie des islamischen Fundamentalismus und dessen Identitätsproduktion mit dem traditionellen Islam verwechselt, könnte genauso gut vom Germanenkult von Himmler und Co. darauf schließen, dass die Nazis wie die alten Germanen gedacht und gefühlt hätten.

Schon die Idee eines in sich homogenen, »reinen Islam« hat ihre Wurzeln nicht in irgendeiner verflossenen historischen Realität; es handelt sich dabei vielmehr um eine genuin westliche Vorstellung. Und auch die gern zur Schau gestellte Todesverliebtheit entstammt keineswegs der spezifisch islamischen Tradition, sondern bezieht sich auf die Geschichte der Moderne und hat dort ihre Vorbilder.

Sie fügt sich – Farhad Khosrokhavar hat das schon vor zehn Jahren entwickelt – in eine gemeingefährliche Neubegründung moderner Subjektivität vor dem Hintergrund einer gescheiterten, nationalstaatlich eingehegten Modernisierung ein: »Wenn das Projekt der Konstitution von Individuen, die vollständig an der Modernität teilhaben, in der wirklichen Erfahrung des Alltagslebens seine Absurdität enthüllt, wird die Gewalt für das neue Subjekt zur einzigen Form der Selbstbestätigung. Die Neo-Gemeinschaft wird dann zur Nekro-Gemeinschaft. Die Ausschließung von der Moderne nimmt religiöse Bedeutung an: So wird die Selbstaufopferung zu einem Weg, auf dem man gegen die Exklusion ankämpfen kann.«

Angesichts dieser Konstellation erübrigt sich die Diskussion, ob der Westen in seiner neuen Wehrhaftigkeit oder der islamische Fundamentalismus als das eigentliche Übel zu gelten haben. Sie ist müßig und fatal. Der westliche Menschenrechtskulturalismus und die religiös eingekleideten Nekro-Gemeinschaften sind nicht dasselbe, aber sie sind zwei Seiten des Selben, einer brandgefährlichen postmodernen Identitätspolitik im Zeichen der Krise der Weltmarktgesellschaft. Sie lassen sich nur zusammen begreifen und bekämpfen oder gar nicht.

Gesellschaftskritische Theorie, die sich antiidentitätspolitisch orientiert, muss keineswegs die Differenzen zwischen dem islamischen Antiokzidentalismus und dem westlichen Menschenrechtskriegertum klein reden, ganz im Gegenteil. Erst eine radikale Kritik des gemeinsamen Bezugsfeldes, in dem die Kontrahenten denken und agieren, aber macht auch klar, was die verfeindeten Brüder trennt und unterscheidet.

Emanzipation ist ­antikulturalistisch

Es gibt wenig Grund, dem neoliberalen Zeitalter und seinem Individualisierungskult nachzuweinen. Trotzdem hatte es zumindest einen Kollateralnutzen. In seinem Windschatten gedieh über Jahre hinweg in den intellektuell ambitionierten Kreisen die Kritik an der Vorstellung fester »kultureller«, »rassischer« und »geschlechtlicher« Identitäten. Der dekonstruktivistische Gedanke blieb in dieser Hinsicht nicht ohne eine gewisse gesellschaftliche Ausstrahlungskraft.

Heute vollzieht sich auf breiter Ebene ein roll back. Der Kulturalismus ist drauf und dran, die Definitionsmacht und Meinungsführerschaft zu übernehmen. Das Verlangen, gerade angesichts der Krise der Weltgesellschaft identitäre Eindeutigkeiten herzustellen, wird zu einer der Hauptquellen von Unterdrückung, Zerstörung und Chaos. Wer auf Emanzipation statt auf Selbstdestruktion setzt, muss angesichts dieser Entwicklung gegensteuern. Der Standpunkt der Befreiung konnte unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus von Beginn an immer nur ein Standpunkt der »Entvolkung« (Franz Schandl) und der Dekulturalisierung sein. Das gilt erst recht nach dem Ende der »Schönwetterphase«, in der die herrschende Meinung die Globalisierung mit Verfriedlichung im Zeichen des totalen Marktes verwechselte.

Man kann der Linken Europas bislang schwerlich nachsagen, dass sie sich dieser Aufgabe stellen würde. Statt eine offensive Gegenposition zur Kulturalisierungsbewegung zu beziehen, reproduziert sie in kleinem Maßstab nur den allgemeinen Trend. Während das Gros der Linken in Schweigen versunken ist, geben in den einschlägigen Debatten vor allem Stimmen den Ton an, die in der einen oder anderen Weise die regressive kulturalistische Wendung mitmachen.

Mit besonderem Eifer betreibt jene Minderheit das Ethnisierungsgeschäft, die im Kampf gegen das »ewige islamische Unwesen« den Part der Hardcore-Fraktion übernimmt und dabei vom Antikapitalismus zum Liberalismus konvertiert. In den Augen der »Freunde der offenen Gesellschaft« verwandelt das irrationale und hochgradig destruktive Potenzial des islamischen Fundamentalismus ausgerechnet dessen Ko­operations­partner Bush und Co. in Vorkämpfer der Emanzipation, und die USA mutieren in einer Art spiegelverkehrtem Antiamerikanismus zum »Hort der Freiheit«. Auf der gesamteuropäischen Bühne dokumentiert unter anderem das im vergangenen Jahr von britischen Bloggern verfasste »Euston-Manifesto«, wie diese Form der Versöhnung mit den herrschenden Verhältnissen funktioniert.

Zum großen regressiven Kulturalisierungsstrom gehören indes nicht nur diejenigen, die im Zeichen der »westlichen Werte« mit Liberalismus und Reaktion fraternisieren, auch ihre linke Konkurrenz treibt in diesem mit. Bei den Vulgär-Antiimperialisten (etwa der AIK) ist das ganz offensichtlich. Sie betrachten die postmodernen antiemanzipatorischen Strömungen solange durch die aus den siebziger Jahren ererbte Brille, bis sie sich diese zu neuen nationalen Befreiungsbewegungen schön gesehen haben. Man gratuliert allen Ernstes der Hamas zum Wahlsieg, als sei sie eine Art palästinensische Unidad Popular, man applaudiert dem so genannten irakischen Widerstand, als handle es sich dabei um eine arabische Neuauflage des Vietcong.

Aber auch die Mehrheitslinke, die auf derlei schauerliche Parteinahme verzichtet und sich in Äquidistanz und Neutralität übt, steht damit keineswegs außerhalb der Kulturalisierungsbewegung. Zum einen ist nicht nur hierzulande unabhängig vom »Krieg gegen den Terror« die Grenze zwischen dem linken Wald-und-Wiesen-Antikapitalismus und einer weit verbreiteten antiamerikanischen Unterstimmung äußerst durchlässig. Vor diesem Hintergrund hat es sich eingebürgert, das Mord- und Suizidprogramm todesfanatischer Modernisierungseliten als einen zwar hässlichen, aber irgendwie doch verständlichen Seufzer der erniedrigten und beleidigten Massen der islamischen Welt misszuverstehen. Was offiziell als Neutralität und Äquidistanz gegenüber den Konfliktparteien daherkommt, hat oft genug eine ziemlich eindeutige Schlagseite.

Zum anderen verfehlen »Neutralität« und »Unparteilichkeit«, auch wo sie ernst gemeint sind, den Charakter des Konflikts. Dieser Standpunkt bezieht sich nur auf die offizielle Seite und sitzt den Kulturideologen auf, die einen intrakulturellen Konflikt als interkulturellen verkaufen. Gegenüber dem rigiden Bekenntnis- und Militarisierungszwang, der auf »beiden Seiten« der Zivilbevölkerung zuteil wird, verbietet sich von vornherein jede »Äquidistanz«. Und was den Zusammenprall der offiziellen Parteien angeht, unterstellt »Neutralität« eine Symmetrie, die an der Wirklichkeit vorbeigeht.

Antikapitalismus, der diesen Namen verdient, hat mit dem heraufbeschworenen clash of civilizations anders umzugehen. Er darf weder abstrakt an »den Frieden« appellieren, um auf bessere Zeiten zu spekulieren, noch darf er sich auf das Spiel der Ethnizisten einlassen und sich auf die Seite des vermeintlich geringeren Übels stellen. Statt die weiße Fahne zu hissen, gilt es, ganz bewusst Partei zu ergreifen, Partei allerdings für das, was die kooperierenden Gemeinschaftsideologien zerstören, Partei für diejenigen, die dem Gleichschaltungs-, Zuordnungs- und Militarisierungsdruck zu entkommen versuchen.

Die Situation schreit nicht nach Vermittlung und Versöhnung auf dem Boden des Kulturalismus, sondern nach einer »dritten« gesellschaftlichen Kraft, die sich gegen den Kulturalismus insgesamt wendet. Im Augenblick mögen strikt antikulturalistische Initiativen wie Medico International rar gesät sein – gerade an den Brennpunkten des Konflikts –, zur konsequenten Weiterentwicklung ihrer Antipolitik gibt es aber keine Alternative.

Wer darauf wartet, dass sich die ethnizistischen Wogen glätten und andere »Themen« wieder Konjunktur bekommen, kann lange warten. Die Zeiten, da der Kulturalismus ein weltlokales Phänomen der Weltmarktperipherie war, an dem der kapitalistische Kern unbeteiligt blieb, sind endgültig vorbei. Ob es gefällt oder nicht, die europäische Linke hat sich auf eine veränderte historische Konstellation einzustellen. Eine linke Perspektive lässt sich heute nur noch gegen die Aussicht auf einen mehr oder minder in Permanenz schwelenden Weltbürgerkrieg formulieren, als eindeutig antiidentitätspolitisches Gegenstück zum Programm der Schaffung kulturalistischer Eindeutigkeiten.

Wenn die europäische Linke diese Neu­orientierung nicht vollzieht, dann verliert sie nicht nur ihre Existenzberechtigung, sondern auch ihre Existenzgrundlage.