Im eigenen Parteiauftrag

Zum Tod des jüdischen Kommunisten Peter Gingold. von tjark kunstreich

Es gab zwei Kontinuitätslinien in Peter Gingolds Leben, die eine war seine über 60 Jahre währende Liebe zu seiner Frau und Gefährtin Etty, geborene Stein-Haller, die andere seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Den politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts ausgesetzt, aber nie unterworfen, veränderte sich ansonsten vieles in den 90 Jahren seines Lebens, das am 28. Oktober 2006 zu Ende gegangen ist. Es war ein Leben, das geprägt war von Zwangsläufigkeiten, denen Gingold eigene Entschei­dungen entgegenzusetzen vermochte. Die innere Freiheit, sich selbst einen Parteiauftrag zu geben, ohne je zum Dissidenten oder Renegaten zu werden, war vielleicht die Voraussetzung dafür, jeden Linienwechsel mitmachen zu können, ohne in je­ne erfahrungsresistente Starre zu verfallen, die nicht nur alte Parteikommunisten häufig auszeichnet.

Seine Fähigkeit, auf sich verändernde Situationen zu reagieren, bildete er in seiner Jugend aus: Sie war existenziell, um zu überleben, sei es am Ende der Weimarer Republik, in der Emigration und später in der Illegalität, aber auch angesichts der Säuberungen in der kommunistischen Bewegungen nach 1945 und der erneuten Illegalität nach dem KPD-Verbot 1956. Gingolds Eltern waren polnische Juden, die vor dem ersten Weltkrieg nach Deutschland kamen, sie konnten zwar lesen, aber kaum und gerade mal ihren eigenen Namen schreiben und waren von der jid­dischen Welt des Schtetls geprägt. Sie verließen sofort nach dem Boykott-Tag vom 1. April 1933 Deutschland in Richtung Paris.

Diese Sensibilität gegenüber dem Antisemitismus hat Peter Gingold geprägt: »Ich hatte 1930 aufgehört, Jude zu sein, 1933 hat mich der Nazi-Faschismus wieder zu einem Juden gemacht, ›blutsmäßig‹. Und so gehöre ich dazu: Ich habe nur mit Glück überlebt, ich bin Auschwitz entronnen. Wir waren alle zum Tode verurteilt. Heute verbindet sich alles mit dem jüdischen Schicksal, das hat nichts mit Religiosität zu tun, aber ich gehöre zu ihnen. Insofern spielt Jüdischsein ständig und immer eine Rolle, ich kann mich nicht davon lösen. Wir sind gleich 1945 hier Mitglieder der jüdischen Gemeinde geworden, vor allem auch deshalb, weil es Lebensmittelpakete von der Gemeinde gab. Anfang der sechziger Jahre sind wir ausgetreten, weil wir uns gesagt haben, das ist ein religiöser Verband, aber wir sind nicht religiös. Im Nachhinein sehe ich das als Fehler an«, erzählte er mir im Jahr 2000 in einem Gespräch.

Als Gingold im Juni 1933 bei einer SA-Razzia verhaftet wurde, bei ihm jedoch nur sein polnischer Pass und einige Gewerkschaftsunterlagen gefunden wurden, wurde er mit der Auflage entlassen, das Land zu verlassen. Er ging zu seiner Familie nach Paris und nahm Kontakt zur politischen Emigration auf. 1936 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Freien Deutschen Jugend, einer antifaschistischen Sammlungsbewegung, die von den Kommunisten dominiert wurde. Dort lernte er auch Etty kennen, die mit ihrer Familie aus Rumänien emigriert war, eine sehr gebildete, mehrsprachige junge Frau, die er 1940 heiratete. Während des Einmarschs der deutschen Truppen in Paris wurde Alice geboren, das erste von drei Kindern der Gingolds. Die Beziehung der beiden war ungewöhnlich, denn nicht Peter, son­dern seine Ehefrau war der politische Kopf der Fami­lie. Wie Peter war sie in der Résistance aktiv und arbeitete als Kurierin. Die Rückkehr nach Deutschland konnte Peter nur gegen Ettys Willen durchsetzen. Sie zogen nach Frankfurt am Main und blieben damit zumindest in der Nähe zu Frankreich, wo der Rest der Familie wohnen blieb.

Anfang 1943 wurde Gingold von der Gestapo in Dijon verhaftet, über mehrere Wochen gefoltert und dann nach Paris gebracht. Ihm gelang die Flucht, weil er vorgab, Aussagen machen zu wollen und ein angebliches Versteck zu offenbaren. Aber später war es nicht diese wirklich abenteuerliche Geschichte, die er oft erzählte, sondern die seines Bruders, der mit seinen Papieren in einer illegalen Wohnung verhaftet wurde, als Peter Gingold nach Auschwitz deportiert wurde, und nie zurückkehrte. Auch eine Schwester Gingolds wurde in Auschwitz ermordet. Doch die Eltern und viele Verwandte konnten überleben, weil sie sich versteckten. Aber dennoch wurde wenig bekannt über die Vernichtung der Juden: »Ich weiß nicht, wann ich das Wort ›Auschwitz‹ zum ersten Mal hörte, es muss später gewesen sein. Wir hörten ja jeden Tag Radio, man kroch förmlich mit dem Kopf ins Radio, und mit viel Glück hörten wir dann BBC oder Radio Moskau. Aber auch da war immer noch nicht genau klar, worum es ging – es hieß, sie sollten arbeiten. Das andere sickerte erst allmählich durch«, berichtete Gingold in dem Gespräch.

Peter und Etty Gingold arbeiteten im »Travail anti-allemand«, der später nur noch »Travail allemand« genannt wurde und dessen Aufgabe darin bestand, deutsche Soldaten zu agitieren. »Die ›Blitzkriege‹ waren vorbei, der Nimbus der unbesiegbaren Wehrmacht angekratzt, der Glaube an den ›Endsieg‹ schwand zusehends. Die deutschen Soldaten hatten Angst, nach dem Osten zu kommen, wollten lieber in Frankreich bleiben: die Voraussetzungen unserer Tätigkeit verbesserten sich. Stalingrad war eine Wende, und unsere Frauen, die Agitation betrieben, konnten ein kleines Netz unter den Deutschen aufbauen – ins­gesamt zwischen hundert und hundertfünfzig Angehörige der Wehrmacht«, erinnerte sich Gingold. »Ritter, der Beauftragte von Sauckel für die ›service travail obligatoire‹, die Zwangsarbeit im Reich, wurde mit einer Wehrmachtspistole erschossen, die ein Offizier, der mit uns zu­sammenarbeitete, uns geliehen hatte. Hinterher hat er sie wiederbekommen.«

Die Befreiung erlebte Gingold in Italien, von wo er über Wien zunächst nach Berlin ging, um am Aufbau der KPD mitzuwirken: »Obwohl ich nie daran gedacht habe, nach Ostdeutschland zu gehen, war die DDR doch immer meine politische Heimat, mein Rückzugsgebiet. Als ich in Berlin war, legten mir die Genossen, vor allem Hermann Axen und Erich Honecker, nahe, zu bleiben. Aber Frank­furt war einfach näher an Paris. Das war der eigent­liche Hintergrund.« Etty Gingold wäre lieber in Paris geblieben, und auch Peter fiel der Entschluss nicht leicht: »Ich bin nur aus Parteidisziplin hierher gekommen. Um hier zu leben oder einfach, um Geld zu verdienen, wäre ich niemals wieder gekommen.«

Diese Haltung, Widersprüche auszuhalten und eigene Entscheidungen zu treffen, hat vielen Angehörigen der Familie Gingold das Leben gerettet – Peter Gingold war noch vor dem Überfall auf die Sowjetunion in die Illegalität gegangen, Etty und er hingen keinerlei Illusionen über den temporären Charakter des Hitler-Stalin-Paktes an, an dessen Notwendigkeit sie jedoch nie zweifelten. Wer weiß, wo die Geschichte der Gingolds geendet hätte, wären sie in die DDR gegangen. Sie wussten von der Zerschlagung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und den Ärzteprozessen in der Sowjetunion. Als West-Emigranten waren enge Freunde und Genossen der Gingolds Anfang der fünfziger Jahre von der Säuberungskampagne betroffen. »Es war eine schlimme Atmosphäre; es war so, dass jeder ›West-Emigrant‹ von vornherein verdächtig war. Wir wurden auch über mehrere Ecken von Noel Field versorgt. Die meisten wurden von ihren Funktionen entbunden, einige wurden in die DDR bestellt und verschwanden. In dieser Situation dachte ich mir, womöglich bist du objektiv in ein Netz geraten, wo du nichts dazu kannst. Das war schon in der Atmosphäre des Kalten Krieges, und ich fand es einsichtig, dass die Partei sich absichern musste.«

So ging es bei den Gingolds mindestens immer um das politische Überleben. Das Verbot der KPD und das Berufsverbot für die Tochter Sylvia 1972 waren weitere Einschnitte, aber: »Es war nicht so, dass wir ständig erschrocken und empört waren – so habe ich mich zwar geäußert, aber innerlich war ich nie empört. Das gehört zur Normalität, das ist dieses Land.«