Keine Ringparabel

Judentum, Christentum, Islam und ihr Verhältnis zu Staat und Recht. Eine Religionskritik nach Sigmund Freud. Von Gerhard Scheit

Der »Altersstil« von Freud könne gar nicht genug verehrt werden, meinte Walter Benjamin in einem Brief an Gretel Adorno und bewunderte, wie dieser Autor im »Vorübergehen« oft die größten Gedanken aufnehme.

Das gilt insbesondere für die späte Studie über den »Mann Moses und die monotheistische Religion«. Die zentrale These, dass Moses ein Ägypter war, ist eigentlich nur ein kleiner, müßiger Gedanke für einen verträumten historischen Roman – weniger als eine Hilfskonstruktion –, ein Gedanke, der Freud jedoch en passant erörtern ließ, was ihn eigentlich beschäftigte: die Frage, wodurch allein die Idee des mosaischen Gottes »das Volk Israel alle Schicksalsschläge überstehen ließ und es bis in unsere Zeiten am Leben erhielt«.

Dieser Gott verschmähe »Opfer und Ze­remoniell« und fordere stattdessen ein »Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit« auf der Grundlage der Gesetze und der heiligen Tex­te. In wenigen Worten ist damit die merk­würdige Antizipation des abstrakten Rechts umrissen, die für die jüdischen Traditionen maßgebend wurde. Gerade sie zeigt sich nir­gendwo erstaunlicher als in Moses: Die Gesetze selbst erscheinen durch seine Vermitt­lung als göttliche Setzung, buchstäblich von Gott konstituiert, um als solche ihre Unabhängigkeit von jedem real herrschenden Souverän zu behaupten.

In dieser außergewöhnlichen Stellung der Halacha manifestierte sich die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft, die in der Tora erzählt wird, sie lässt aber auch archaische Formen einer Gewaltenteilung im frühen Königreich Israel vermuten. Wäh­rend im Alten Orient gewöhnlich das Recht als unmittelbares Staatsrecht galt und mit Königen identifiziert wurde, versteht es sich im Judentum als vor dem Staat entstanden und über den Staat gesetzt, mit Gott und niemandem sonst identifizierbar.

Da Freud (in Anlehnung an andere reli­gionsgeschichtliche Forschungen) die Hypothese formuliert, Moses sei von seinem Volk gestürzt worden, weil es noch nicht bereit war, die neue Religion wirklich anzunehmen, kann er auch behaupten, dass später ausgeprägte Züge des Judentums, vor allem die allgemeine Entfremdung vom Opferkult, die sich besonders bei den Propheten Amos und Hosea wie im Buch Jesus Sirach zeigt, schon die Einführung des monotheistischen Glaubens durch Moses kenn­zeichneten. Mit dem Sturz des historischen Religionsstifters wären sie demnach zunächst verdrängt worden, während ja die Mosesfigur, die von der Tora überliefert wird, umfangreiche Opferkulte verlangt.

Jene Entfremdung dürfte aber das Judentum erst durch weitere »Schicksalsschläge« wirklich nachhaltig geprägt haben: Der Ver­lust des Tempels und die Erfahrung des Exils nötigten dazu, Opfer und Zeremoniell ganz zu entsagen. Die Rückprojektion, die sich bei Freud findet, folgt gleichwohl einer Logik, die im Gegenstand selber liegt, kann doch der Monotheismus als Voraussetzung gelten, die Opferpraxis generell zu überwinden und, mit Kant gesprochen, eine »reine moralische Religion« hervorzubringen.

Beides – unsichtbare und singuläre Gottheit und Aufhebung von Opfer und Zeremoniell – fasst Freud jedenfalls als »Vergeistigung«, und davon ausgehend erscheint das Christentum notwendig als »eine kulturelle Regression«: »Die christliche Religion hielt die Höhe der Vergeistigung nicht ein, zu der sich das Judentum aufgeschwungen hatte«; sie übernahm wieder zahlreiche Riten, stell­te die große Muttergottheit wieder her, ver­schloss sich nicht dem Eindringen abergläu­bischer, magischer und mystischer Elemente.

Im Zentrum dieser im »Mann Moses« genannten Elemente des Christentums steht je­doch das von Jesus verkörperte und in die­ser Personifizierung vergöttlichte Selbst­opfer, das all jene Übernahmen ermöglichte. Es konstituierte schließlich auch das Verhältnis der Individuen zum Staat, das Freud aller­dings kaum interessiert: In der Identifikation mit dem Gekreuzigten entwickelt das Subjekt ganz von sich aus und ohne Rücksicht auf die Gesetze jene unbedingte Opferbereitschaft, die der Souverän im Ausnahmezustand fordert.

Die Aufwertung des reinen Glaubens gegenüber der Geltung der Gesetze schon im frühesten Christentum (»So halten wir denn dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben«; Römer 3, 28 – »Christus aber hat uns erlöst vom Fluch des Gesetzes«; Galater 3, 13) muss in diesem politischen Zusammenhang gesehen werden. Die besondere Bedeutung des Rechts als göttlicher Setzung, die durch Moses vermittelt ist, wird außer Kraft gesetzt durch die göttliche Setzung des Selbstopfers, das Jesus verkörpert – im offenen Widerspruch zur Tora, wo es heißt: »Es stand hinfort kein Prophet mehr auf in Israel so wie Mose, den sich Jhwh von Angesicht zu Angesicht vertraut gemacht hatte mit all den Zeichen und Wundern (…).« (Dtn 34,10f.)

Überraschender ist, dass Freud in der Darstellung christlicher Regression wie jüdischer Vergeistigung auch die sexuelle Komponente nicht so sehr zu interessieren scheint. Es handelt sich zwar wie bei den Neurosen um die Wiederkehr eines Verdräng­ten, wodurch die Religionen ihre Macht gewinnen. Darüber besteht für ihn kein Zweifel. Die Frage bleibt allerdings, ob im Fall der Religionen dasselbe verdrängt worden ist.

Sex und Religion

In dem frühen Aufsatz über »Zwangshandlungen und Religionsübungen« hat Freud bereits klargelegt, dass die sexuelle Kompo­nente bei der Bildung religiöser Vorstellungen und Zwänge lediglich einen »Beitrag«, wenn auch einen wesentlichen, darstellt – im Unterschied zur Entstehung von Neurosen, wo sie alles dominiert. Auch in der Schrift über Moses werden die einzelnen Re­ligionen als verschieden geartete Antwor­ten auf ein Schuldbewusstsein aufgefasst, dessen Ursprünge eben nicht rein sexueller Natur sein können, fallen sie doch mit der Etablierung gesellschaftlicher Macht und der Entstehung materiellen Reichtums zusammen.

Auf ihre Einheit zielte schon das Morphem, mit dem die Kantsche Aufklärung in der berühmten Formulierung über die »selbst verschuldete Unmündigkeit« auf dem Schuldigsein beharrt und eigentlich den kategorischen Imperativ gegen seine Ableitung aus der Tauschgesellschaft wendet. Denn diese Schuld bedeutet zu Ende gedacht: Das Individuum wirkt ebenso an der eigenen Erniedrigung, Ausbeutung und Verdummung mit, als es einen Vorteil von der des anderen erwartet. Dass es selbst mit Leib und Seele beteiligt wird, ist nur die Perfektibilität der Herrschaftsformen. Und perfekt sind sie, wenn jeder sich schuldig fühlen mag, ohne noch zu wissen, warum.

Für diese Einheit, die nur empfunden, aber nicht mehr gedacht werden kann, fand Freud in »Totem und Tabu« die Theorie vom Mord am Urvater der Urhorde, der in seinem Denken den Beginn der Zivilisation mar­kiert. Die historische Konstellation wird zwar mit der rezenten Struktur der Familie verglichen, die Psychologie der »Naturvölker«, welche der historischen Konstellation entsprangen, mit der Psychologie des Neurotikers, der aus jener familiären Struktur hervorgeht, und daraus werden die schwer wie­genden Erkenntnisse über die geschichtliche Entwicklung gewonnen, aber die Analogie dient dem Vergleich und gerät nicht einfach zur Gleichsetzung.

Es sind eben nicht allein »sexuelle Ansprüche«, sondern es ist ganz allgemein das »Machtbedürfnis«, woraus die Gewalttat gegen den Urvater einmal resultierte; die frühe Untersuchung über »Zwangshand­lungen und Religionsübungen« lehrt, genau hier zu nuancieren und auf die Konjunk­tion zu achten, die nicht zum Gleichheitszeichen werden soll. Der Begriff des Todestriebs, den Freud später einführte, könnte sogar als Versuch gelten, jenes Machtbedürfnis unvermischt zu fassen; jedenfalls ist im »Unbehagen in der Kultur« von der »Ubiquität der nicht erotischen Aggression und Destruktion« die Rede.

Neuere psychoanalytische Arbeiten zur Religionskritik übergehen gerne jene Nuancen und Konjunktionen, die Freud zwischen Familie und Geschichte, sexuellen Ansprüchen und gesellschaftlichem Machtbedürfnis gewahrt sehen möchte, setzen beides widerspruchslos in eins, und die Probleme, die sich durch die Einführung des Todestriebs stellen, will ohnehin kaum jemand zur Kenntnis nehmen.

So werden religiöse und politische Bewegungen wie Christentum und Nationalsozia­lismus unmittelbar aus der »Vermeidung des Ödipus« (Béla Grunberger/Pierre Dessuant: Narzissmus, Christentum, Antisemitismus) deduziert – ganz als wäre »Mensch­heits­neurose« wirklich einfach nur Neurose. Dabei tritt zwar mit der nötigen Deutlichkeit hervor, dass es in signifikant judenfeindlichen Religionen und Ideologien eine Tendenz gibt, die Trennung von der Mutter zu revozieren, also die unabdingbare Voraussetzung ödipaler Entwicklung, die vom jüdischen Gesetz geradezu zwanghaft befestigt wurde, zu beseitigen; eine Tendenz, die der analsadistischen Entwicklungsphase ge­spenstische Macht über die Erwachsenen ver­leiht: narzisstische Identifikationen dichten das Bewusstsein gegen alle Realitätserfahrung ab und entgrenzen die Projektionen. Und genauer wäre darum die christliche Re­ligion auch als Menschheitspsychose oder universelle Psychose vom Judentum zu unterscheiden, das demgegen­über in einer Art Überhöhung des Ödipuskomplexes die universelle Neurose auf geradezu klassische Weise, das heißt verall­gemeinert für die Menschheit, ausgeprägt hat.

In der Interpretation religiöser Phänomene wird die direkte Ableitung aber fast läppische Tautologie: Eine Geschichte wie die von der unbefleckten Empfängnis (die übrigens auch der Islam übernommen hat) muss schließlich gar nicht mehr gedeutet werden. Und statt die politische Regression selber aus der Vermeidung des Ödipus – wie die Marxisten den Überbau aus der Basis – abzuleiten, wäre eine Form vorauszusetzen, die sich psychoanalytischer Begrifflichkeit zwar nicht wirklich erschließt, aber durch die hindurch die narzisstischen Wahngebilde, die der Vermeidung des Ödipus entspringen, erst als total gewordene begriffen werden können.

Diese Form bleibt bei Freud im Dunkeln, das auch der aufgeklärte Mord am Urvater nicht wirklich aufhellen kann; sie muss es auch, solange die Vorgeschichte der Moder­ne aus der Perspektive bloßer Geschichtsschreibung behandelt wird. Soweit jedoch hat Freud auch hier Selbstanalyse betrieben, als er im Unterschied zum gewöhnlichen Historiker sich dessen einigermaßen bewusst geworden ist, dass ursprüngliche Familie und Urhorde überhaupt nur unter dem Gesichtspunkt einer, historisch betrach­tet, späteren Einheit gedacht, d.h. näher bestimmt, werden können – einer Einheit, die einen »notwendigen Entwicklungsgang von der Familie zur Menschheit« eben voraussetzt.

Worin die Notwendigkeit in diesem Entwicklungsgang besteht, darüber schweigt Freud, aber dessen Konsequenzen fürs Subjekt bringt er zur Sprache: Wenn es die Haupt­sache des Kulturprozesses ist, eine »Einheit aus den menschlichen Individuen« herzustellen, bleibt »das Ziel der Beglückung« der einzelnen Individuen zwar noch irgendwie erkennbar, es wird jedoch »in den Hintergrund gedrängt; fast scheint es, die Schöpfung einer großen menschlichen Gemeinschaft würde am besten gelingen, wenn man sich um das Glück des Einzelnen nicht zu kümmern brauchte«.

Das ist ein Begriff von Menschheit, der den Kulturfortschritt nur als Steigerung der Schuldgefühle, Verminderung des individuellen Glücks und damit bloße Verlagerung des Leids möglich erscheinen lässt – Einheit der Menschheit also, mit Marx gesprochen, in der Form von Rechts- und Kapitalverhältnis, von der Freud sich nur mit der vorsichtigen Formulierung »fast scheint es« distanziert, aber in dieser Distanznahme liegt natürlich mehr Kritik als in allen revolutionären Phrasen.

Mag sie psychoanalytisch auch nur als Verallgemeinerung des Ödipuskonflikts denk­bar sein, mit der eine nicht näher bestimmte gesellschaftliche Machtfrage kooptiert werden kann, so fungiert diese Einheit in den Arbeiten von Freud selber doch als Apriori, das erlaubt, in der Ödipuskonstellation einen verallgemeinerbaren Kon­flikt zu erkennen: Wie könnte sonst der Begründer der Psychoanalyse, die es ja mit der Sexualität der einzelnen Individuen zu tun hat, vom »Schuldbewusstsein der Menschheit« sprechen und von einer »Wiederkehr des Verdrängten« in diesem allumfassenden Bewusstsein, das die jüdische Religion unverstellt zum Ausdruck bringt (in der grundlegenden Idee, das erfahrene Leid sei Strafe Gottes: mipnej chata’enu, unserer Sünden wegen); wie könnte er in der »Erlösungstat« von Jesus zugleich die scheinbar »universelle« Lösung für dieses vom Judentum festgehaltene Problem erblicken, die allen Individuen der Menschheit zugute kommen soll.

Vermittlung und Antisemitismus

Dieses Apriori auszudrücken, ohne es zu begreifen, braucht Freud die Spekulation vom Urvatermord, worin sexueller Anspruch und gesellschaftliches Machtbedürfnis verschränkt, aber nicht identisch sind. Und so fragwürdig sie für Fachhistoriker klingt, der materialistischen Kritik kommt sie desto näher, je mehr sie die unauflösbaren Widersprüche der zivilisatorischen Entwicklung im Bewusstsein der Individuen erschließen kann. Auf ihrer Basis erst erkennt Freud, was die putative Allgemeinheit des Christentums ausmacht: zum erstenmal für In­dividuen verschiedener »Völker«, das heißt unterschiedlicher, ökonomisch und politisch ungleich entwickelter Gesellschaftsformen, eine Antwort auf die Schuldgefühle zu bieten, deren Herkunft eben sexuelle Bedürfnisse und gesellschaftliche Machtansprüche auf mehr oder weniger undurchsichtige Weise vereint.

Im Sinne der universellen Lösung, die das Christentum für die Gegensätze des Zivi­lisationsprozesses bereithält, können aber selbst noch jene Übernahmen abergläubischer, magischer und mystischer Elemente als eine Art Fortschritt betrachtet werden, insoweit sie Vermittlungen anbahnten oder zuließen – zwischen den ungleich entwickelten Stufen der Vergesellschaftung, den differierenden Standards im Abstraktionsvermögen; insofern die christliche Religion also regressive Regungen institutionell und ideologisch integrieren und auf diese Weise neutralisieren konnte.

Damit erscheint die christliche »Aufspaltung der Einheit Gottes in vermittelnde Instanzen« gar als Voraussetzung für die Säkularisierung der bürgerlichen Gesellschaft und für die Gewaltenteilung moderner Politik – vom reinen Glaubensinhalt der Dreifaltigkeit und der geheiligten Rolle von Seliggesprochenen und Priestern bis zu den praktischen Erfordernissen des Kirchenapparats, der die antike Rechtstradition aufbewahrte.

Aber da die Vermittlungen im Namen des Selbstopfers durchgesetzt werden, gerät die universell angelegte Lösung doch zur allgemein vorgetäuschten Erlösung, die allen aufgezwungen werden soll, reproduziert sie als Missionierungsdrang das Unheil, und dieses Unheil manifestiert sich vollständig im Antisemitismus. Die Juden werden nicht bloß als diejenigen identifiziert, die das vergöttlichte Selbstopfer nicht anerkennen, sie werden selber noch als die Mörder des Gottessohns in die Enge getrieben und verfolgt. Ihnen wird also letzt­lich zur Last gelegt, worauf nach Freud alle Zivilisation gründe: der Mord am Ur­vater.

So registriert Freud zugleich die schwerste Hemmung der geistigen Entwicklung, die mit diesem religionsgeschichtlichen »Fortschritt« zur universellen Religion einhergeht. Es handle sich dabei um eine »Ver­schiebung«: Judenhass wäre als Selbsthass der Christen zu begreifen. Unter »einer dün­nen Tünche von Christentum« seien »sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Die Tatsache, dass die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhass ist im Grunde Christenhass (…).«

Die dünne Tünche ist aber so verstanden allein das vom Judentum Angenommene. Wenn im göttlichen Selbstopfer des christlichen Heilands der »barbarische Polythe­ismus« schon einbezogen ist in die neue Religion und darin den Kern bildet – eben jene allgemeine Regression, von der Freud spricht –, dann kann, was das Christentum vom Judentum übernimmt, in der Tat nur Tünche sein: Verbot des Opferkults – aber zugunsten des einen großen Opfers; Nächstenliebe – aber als abgeleitete Form der Jesusliebe entwertet; »Aufforderungen zu Sublimierungen« – aber ausgerichtet auf die Entsublimierung im Auskosten des eigenen Leidens und in der Gewalt gegen die Anderen.

Die Regression, die das Christentum betreibt, sollte darum vielleicht besser als Verinnerlichung des Barbarischen begriffen werden. Sie besteht gleicherweise darin, die Vergeistigung abzuwehren wie die »ungeistigen« Bedürfnisse nicht wirklich zu befriedigen. Resultat ist der Hass auf die Juden, der immer doppeldeutig ist: Sie stehen in den christlichen Mythen für den unversöhnten, gesellschaftlich reproduzierten Gegensatz von Geist und Körper, Über-Ich und Es, von dem sich die falsche Versöhnung im Christentum abheben muss, um als Versöhnung überhaupt zu erscheinen – und je größer der Hass auf sie, ob als Verkörperung des »Geistes« oder des »Fleisches«, desto weiter geht die christliche Ver­innerlichung, um die seelischen Gegensätze wie die eigene Physis, das Über-Ich eben­so wie das Es, schließlich ganz zu verleugnen.

Indem sich also das Subjekt in seinem Innersten mit dem repräsentativen Selbstopfer des Erlösers identifiziert, droht immer wieder jede Vermittlung, die es doch von ihm unterscheidet, liquidiert zu werden: Das wird im Pogrom demonstriert.

Die jüdische Religion hingegen kennt ein solches Ersatzobjekt so wenig, wie es jenen Gegensatz leugnen würde. Hier ist die Vergeistigung der Kern, dessen Anziehungskraft aber das als unaufhebbares begriffene Verhältnis zur Physis. In der Frage, ob und wie dabei Versöhnung möglich wäre, unterschei­den sich die verschiedenen Phasen und Strö­mungen des Judentums, das geeint wird von dem Wissen, dass sie nach dem Stand der Dinge nirgendwo eingetreten ist. Die Juden sehen sich dazu auserwählt, nicht erlöst zu sein; genauer: das Bewusstsein davon zu haben und zu wahren. Darum gibt es auf der Seite des Judentums keine vergleichbare Einstellung zu den Christen: kein Missionierungszwang, keine Verschiebung, kein »Antichristismus«.

»Der Mann Moses« und der Jihad

»R. Abba sagte im Namen Šemuéls: Drei Jahre stritten die Schule Šammajs und die Schule Hillels: eine sagte, die Halakha sei nach ihr zu ent­scheiden, und eine sagte, die Halakha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine Hallstimme und sprach: (Die Worte) der einen und der anderen sind Worte des lebendigen Gottes; jedoch ist die Halakha nach der Schule Hillels zu entscheiden. – Wenn aber (die Worte) der einen und der anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, dass die Halakha nach ihr entschieden wurde? – Weil sie verträglich und bescheiden war, und sowohl ihre eigene An­sicht als auch die der Schule Šammajs studierte; noch mehr, sie setzte so­gar die Worte der Schule Šammajs vor ihre eigenen.« (Érubin 13b, Der Babylonische Talmud)

Mit dem Islam sind die Grenzen der Universalisierbarkeit und der Integrationsleistung des Christentums markiert; anders ge­sagt: An diesen Grenzen bringt es selber die neue Religion hervor. Die Ansätze zu Vermitt­lungen, die von ihm entwickelt werden, soweit es mit der Staatsmacht nicht mehr wie frühere Religionen vollständig verschmol­zen ist, sind nicht unbedingt erwünscht und können sich nicht überall behaupten.

Wo sie der Herrschaft, die auf unmittelbare Despotie nicht verzichten will, im Weg stehen; wo die Kräfte zu schwach sind, die despotische Macht aufzuspalten, dort muss die Dissoziation der Einheit Gottes revidiert werden, und die Dreifaltigkeit wie die antike Rechtstradition sind dem Glauben auszutreiben, damit die unmittelbare Ausübung von Gewalt zu seinem Inhalt werden kann. Dem verstiegenen Rabbi, der fordert: liebet eure Feinde und gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, folgt der fanatische Prophet, der die Gläubigen in die permanente Schlacht gegen die Feinde führt.

Es kehrt dabei nicht einfach die alte Barbarei zurück, vielmehr wird, als wollte man sich auf Moses besinnen, der Monotheismus beibehalten, die Wesensart der Gesetzesreligion wieder angenommen und auch das Menschenopfer scheinbar abgelehnt. Aber der Opfertod des Vergöttlichten wird zum Jihad für alle – und darin liegt die christliche Wurzel, die in der neuen Religion fortwest: Die sich niederknien, müssen noch mit dem Kopf auf den Boden, und statt des einen großen stellvertretenden Selbstopfers, das kniend angebetet wird, weil in dessen Namen die Erlösung bereits eingetreten sei, wird jedem einzelnen Hingeworfenen der Tod für die Gemeinschaft der Gläubigen als lohnendes Ziel vor Augen geführt: kein passives Erleiden des notwendigen Opfers durch den prädestinierten Gottessohn, sondern freudiges Erreichen des vorher­be­stimm­ten Ziels einer ganzen Heerschar von Auserwählten im Krieg gegen die Ungläubigen.

Die Freude besteht im endlos fortgesetzten Opfer: Die für den Pfad Gottes getötet worden sind, empfangen sie von jenen, die auf diesem Pfad noch folgen (Koran, Sure 2, 163–165. Das prägt noch die vom Koran nacherzählte Bibelgeschichte von Abraham, der von Gott aufgefordert wird, seinen Sohn Isaak zu opfern: Der Sohn, der im Alten Testament über seine bevorstehende Tötung im Dunkeln gelassen wird, bestärkt in der Version des Koran geradezu den Vater, »so Gott will« zu tun, was ihm geboten ist und ihn zu opfern – s. Sure 37, 97–113).

An die Stelle des christlichen Melancho­likers, der sich mit Inbrunst ins Leid und Martyrium des sterbenden Jesus einfühlt, tritt unvermittelt der universelle Psychotiker, manisch drauflos schlagend, wo immer seine eigenen Wahngebilde die Realität ver­stellen. Während diese Realität den Individuen gesellschaftliche Widersprüche aufnötigt, die schon christliche Innerlichkeit nur durch Identifikation mit dem Gottessohn loswird, sucht der islamische Märtyrer die Aufhebung aller Widersprüche in der offensiven Gewalttat; Maria Mutter Gottes, in deren Schoß der tote Christus zurückfällt, wird zur Umma, der im Jihad konstituierten Gemeinschaft, die ihren Namen vom arabischen Wort für Mutter bekommen hat.

In der Schrift über den »Mann Moses« wird der Islam nicht weiter beachtet. Die »mahomedanische Religionsstiftung« erscheint darin eher »wie eine abgekürzte Entwicklung der jüdischen, als deren Nachahmung sie auftrat«; in ihrer Entwicklung sei sie aber »bald zum Stillstand« gekommen, »vielleicht weil es an der Vertiefung fehlte, die im jüdischen Falle der Mord am Religionsstifter verursacht hatte«.

Seltsamerweise klammert Freud genau hier die christliche Lösung aus, obwohl er sie doch als universell im Sinn eines unumkehrbaren weltgeschichtlichen Prozesses begreift und obwohl historisch gesehen das Christentum bereits jenen Raum erreicht hatte, dem der Islam entsprang. Es kennzeichnet ja gerade die islamische Welt, den Universalismus der christlichen Lösung zu übernehmen, ihn jedoch – dem repräsentierenden Sinn des christlichen Selbstopfers entgegengesetzt – zum unbedingten Verhängnis (qisma; Kismet) fürs einzelne Indi­vi­duum zu machen, zur tyrannisch durchgesetzten Abstraktion, der es sich gleich machen muss: Abstraktion von jeglichen Bedürfnissen, die es von seinen Glaubensgenossen unterscheiden könnten. Vollendet wird sie im Tod des einzelnen für die universelle Gemeinschaft.

Unter diesem Gesichtspunkt wäre das Verhältnis der beiden Gesetzesreligionen Judentum und Islam zueinander und zum Staat überhaupt erst näher zu bestimmen. Der Islam hörte nicht auf, jenen Kriegspfad des Selbstopfers zu beschwören und den Koran, der nicht übersetzt werden durfte, wörtlich zu nehmen, weil er im Unterschied zum Judentum »Staatsreligion« blieb, seine Gebote mit denen der anerkannten politischen Gewalt identisch waren oder unbedingt sein sollten.

Während im Judentum seit der ersten Vertreibung das eigene Gesetz der Tora in irgendeiner Weise vermittelt werden musste mit dem fremden Gesetz der anderen, das hier nicht fremd bleiben soll, und den sich verändernden Bedingungen der Diaspora – als Bedingungen des Überlebens, wodurch die Ausnahme von der Regel gewissermaßen den Status einer eigenen Regel erhielt –, behauptete sich das islamische unmittelbar als das Gesetz der eigenen Herrschaft und der persistierenden Verhältnisse, indem die mit ihm identische Staatsmacht Ausnahmen nur als solche gelten oder auch noch dann verbieten ließ.

Dan Diner spricht sogar »von einer Art Präambel des jüdischen Religionsgesetzes«, die in aramäischer Sprache ausgedrückt lau­tet: dina demalkhuta dina – das Gesetz des jeweiligen Landes ist das Gesetz. Aber dieses Gesetz entwertet dennoch nicht die Gesetze der Tora. Der Grundsatz berührt zwar alle Rechtsbelange und schließt die Identität des jüdischen Gesetzes mit politischer Herrschaft aus, es bleiben jedoch zwei selbständige »Rechtssphären« bestehen, zwischen denen ständig zu vermitteln den Juden aufgegeben ist. Und die Vermittlung erst schafft immer neue Bedeutungen in der Auslegung des Rechts, sie nicht nur zuzulassen, sondern förmlich zu provozieren, gehört zur Eigenart der jüdischen Gesetzesreligion.

So wurde der Kommentar, wie Gershom Scholem schreibt, »zur charakteristischen Ausdrucksform des jüdischen Denkens über die Wahrheit, dessen, was man rabbinischen Genius nennen könnte (…) Es ist gerade der Reichtum an Widerspruch, der lautwerdenden Meinungen, der von der Tradition umfasst und in unbefangenster Weise bejaht wird. Der Möglichkeiten, die Tora zu interpretieren, waren viele, und der Anspruch der Tradition war gerade, alle auszuschöpfen. Sie bewahrt die widersprüchlichsten Meinungen mit einem Ernst und einer Unerschrockenheit, die erstaunlich ist, gleichsam als ob man nie wissen könne, wo eine einmal verworfene Meinung doch noch zum Grundstein eines ganz neuen Gebäudes werden könne.«

Der Dualismus der Rechtssphären, der solchermaßen das ständige Weiterspinnen der Deutungen erfordert und schon die argumentative Dynamik des Talmud ausmacht, löst sich auch im modernen Israel nicht auf, das Gewicht der Geschichte und der Diaspora wiegt zu schwer. Er schlägt sich hier in einer Vielzahl offenkundiger Gegensätze zwischen religiösem Leben und zio­nis­tischem Staatswesen, rituellen Erfordernissen und administrativen Notwendigkeiten, aber auch zwischen patriarchaler Familienform und individueller Emanzipation nieder, die auf je verschiedene Weisen überbrückt werden müssen.

In ihm könnte nicht zuletzt die Besonderheit des jüdischen Staats, das Spezifische seiner Verfassungswirklichkeit, gesehen werden – eines Staats im übrigen, der zwar eine Gründungsurkunde und eine Reihe grundlegender, die Rechte des einzelnen betreffender Gesetze hat, aber keine geschriebene Verfassung.

Doppelte Herrschaft des Islam

Während Juden »religionsgesetzlich legitimiert, unter nicht jüdischer Herrschaft zu leben« vermögen – ein Umstand, der ihrer diasporischen Existenz entspricht –, sind hingegen Muslime gehalten, »sich der Herrschaft des Islam in doppelter Hinsicht zu unterstellen: dem Gesetz des Islam im Alltagsleben wie der die Einhaltung des Gesetzes garantierenden muslimischen Herrschaft. (…) Denn eigentlich sind Mus­lime nur unter muslimischer Herrschaft in der Lage, die Maßgaben der Sharia zu erfüllen.«

Eine Vermittlung des Gemeinschaft stiftenden heiligen Textes mit Gegebenheiten, die außerhalb seines Einflussbereichs liegen und von anderen Mächten erzwungen sind, eine Vermittlung also verschiedener Rechtssphären, wird im Geiste Mohammeds verschmäht. Es kann ja eine wirkliche Überschneidung mit Gesetzen anderer Gesellschaften gar nicht geben, denn entweder handelt es sich dabei um die Länder der Un­gläubigen, die zu bekriegen sind, oder um die Enklaven der bereits Unterworfenen; in beiden Fällen ist eine eindeutige Abgrenzung möglich.

Der Kommentar zum heiligen Text verkümmert zur Befehlsausgabe; ihn zu interpretieren, soll möglichst auf eine einzige Bedeutung zielen, andere werden unterdrückt und ein für alle Mal verteufelt. Diese Armut an Widerspruch erlaubt es schließ­lich, technologische und finanztechnische Verfahren zu übernehmen, ohne im Inneren der religiösen Lehre einer Verbürgerlichung der Verhältnisse, also der relativen Autonomie des Individuums, Rechnung zu tragen, wie sie doch jenen Verfahren ursprünglich zugrunde liegen.

Die bürgerliche Moderne, mit der das Judentum – den Widerspruch integrierend – in unendlich vielen Abstufungen eine Balance herzustellen sucht, wird also vom Islam in toto ausgegrenzt: Sie soll als Widerspruch nirgendwo eindringen, nur so wird das Bewusstsein des geschichtlichen Stillstands bewahrt, auf dem die Aura der »heiligen Schrift« beharrt.

Den Widerspruch abzuwehren, der in der Krisensituation nach dem Ende des Osmani­schen Reichs unnachgiebig in Erscheinung tritt, bedarf es jedoch ersichtlich einer Projektion, die wie im Christentum auf die Juden zielt. Sie, die sich einerseits zu wenig bekehren lassen, vor allem aber selbst kaum jemanden bekehren wollen, andererseits umso mehr genötigt sind, ihre Schrift mit den Bedingungen fremder Herrschaft zu vermitteln, das heißt: in widersprüchlichen Einklang zu bringen; die also keine Versöhnung behaupten, aber die Vermittlung suchen, sie stehen auch innerhalb der Feind­bilder des Islam wie keine andere Religions­gemeinschaft für den unversöhnten, gesellschaftlich reproduzierten Gegensatz von Geist und Natur, Über-Ich und Es, denn sie stellen die gewaltsame Versöhnung in Frage, die der Märtyrer verkörpert, der den eigenen Leib im Namen Allahs opfert.

Erlaubt jedoch die Verinnerlichung im Christentum noch in der Verteufelung der Juden die Reflexion, dort wo die Nähe zum Judentum bewusst wird (die Bachschen »Passionen« sind dafür paradigmatisch), wird dem Islam die Nähe nicht wirklich zu einem Problem, das die eigene Subjektivität ins Spiel bringen könnte.

Denn dazu wäre wiederum jene, wie auch immer prekäre, christliche Anerkennung von Vermittlung nötig, die der Jihad nicht zulässt, weil er den stellvertretenden Charakter des Selbstopfers abgeschafft hat. So ist auch die subjektive Möglichkeit, innere Distanz zu sich selbst zu gewinnen, ver­schlossen. Das verteufelte Fremde darf immer nur als äußere Bedrohung der politischen Einheit Allahs wahrgenommen werden. Und gerade um sich von dieser inneren »Schwäche« des Christentums abzugrenzen, braucht es desto dringlicher der antijüdischen Projektion. Die Juden in »Affen« und »Schweine« zu verwandeln (Sure 5, 64–69) ist das Bild, das vom islamischen Bilderverbot ausgenommen wird.

Das Christentum hat das Seine zur politischen Form des Antisemitismus, zum entfesselten Vernichtungswahn im National­sozialismus, beigetragen; sein Agens zur Vermittlung war auch zu deren Abschaffung dienlich, weil es im Bann des Selbstopfers stand; würden die Christen sich dessen end­lich bewusst, es gäbe kein Christentum mehr.

Wo jüdische Traditionen aber nicht zwang­haft abgewehrt wurden und somit noch das Unwahre am Selbstopfer zu Bewusstsein kommt, bildete das Christentum zugleich Voraussetzungen einer westlich orientierten Aufklärung aus, die den Kampf gegen den Antisemitismus aufnehmen konnte. Die Resonanz, die jener Vernichtungswahn im Islam hervorgerufen hat, ist heute umso bedrohlicher, je weniger sich dort solche Voraussetzungen zeigen.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Gerhard Scheit: Jargon der Demokratie. Über den neuen Behemoth. ça ira, Freiburg 2006, 260 Seiten, 18 Euro. Das Buch erscheint im Dezember.