Auf Eis gelegt, dann aufgetaut

In dieser Woche soll die umstrittene Bolkestein-Direktive verabschiedet werden. Mit ihr soll der Binnenmarkt der EU für Dienstleistungen liberalisiert werden. von marcus engler

Nie zuvor in der Geschichte der europäischen Integration hat eine Richtlinie bereits vor ihrer Verabschiedung so viel Aufmerksamkeit hervorgerufen wie die so genannte Bolkestein-Direktive, mit der die Kommission den Binnenmarkt für Dienstleistungen vollenden wollte. Es gab unzählige Proteste, Diskussionsveranstaltungen sowie eine intensive Medienberichterstattung.

Am heutigen Mittwoch wird über die EU-Dienstleistungsrichtlinie in zweiter Lesung im Plenum des Europäischen Parlaments diskutiert, und sie wird zur Abstimmung gebracht. Es wird allgemein erwartet, dass sie angenommen wird. Bereits am 23. Oktober wurde der abgeschwächte Entwurf im Binnenmarktausschuss angenommen. Sollte das Parlament den Entwurf nicht in seiner derzeitigen Form annehmen, ist der Rat erneut am Zug. Sollte es auch dann keine Einigung geben, kommt es zu einem Vermittlungsausschuss. Nach der endgültigen Verabschiedung der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten drei Jahre Zeit für ihre Überführung in nationales Recht.

Die Richtlinie wurde von der Europäischen Kommission bereits im Januar 2004 vorgelegt und blieb zunächst lange Zeit von der Öffentlichkeit unbemerkt. Zum Thema für die europäische Öffentlichkeit wurde sie erst im Frühjahr 2005, im Zuge der Referendumskampagne in Frankreich. Die Angst vor dem »polnischen Klempner«, der zur Symbolfigur für die hemmungslose Liberalisierung des europäischen Arbeitsmarktes wurde, verbreitete sich in den westlichen Staaten der Union, insbesondere in Frankreich und Deutschland. Die Richtlinie wurde zum greifbaren Symbol der marktradikalen Politik der EU-Kommission.

Daraufhin versuchten Jacques Chirac und Gerhard Schröder, auf dem Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs im März 2005 die Richtlinie aus dem Verkehr zu ziehen, zumindest für einige Zeit. Chirac bangte um den Ausgang des Referendums und somit um seine politische Zukunft. Am Ende des Gipfels verkündete er: »Die Bolkestein-Direktive existiert nicht mehr.« Das Referendum ging bekanntlich trotzdem verloren. Entgegen Chiracs Beteuerungen nahm das Gesetzgebungsverfahren weiter seinen Lauf.

Nun war das Europäische Parlament an der Reihe. Diesem kommt, neben dem Rat, deshalb eine wichtige Rolle zu, da bei der Bolkestein-Direktive das Mitentscheidungsverfahren angewandt wird und beide Institutionen zustimmen müssen. Vor der Parlamentsdebatte im Februar 2006 einigten sich Konservative und Sozialdemokraten auf eine Abschwächung des ursprünglichen Kommissionsentwurfs in den beiden zentralen Streitpunkten. So wurde zum einen das umstrittene Herkunftslandprinzip entfernt und durch eine gemäßigtere Formulierung ersetzt. Zum anderen wurde der Anwendungsbereich der Richtlinie eingeschränkt (Jungle World 08/2006). Die Parlamentsdebatte wurde dennoch von Protesten von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Linksparteien begleitet.

Infolge der weitreichenden Änderungen durch das Parlament musste die Kommission eine neue Fassung vorlegen, die fast allen Änderungen Rechnung trug. Dass die Kommission so leicht von ihrem Standpunkt abrückte, den sie lange Zeit vehement verteidigt hatte, liegt vor allem daran, dass sie die Richtlinie als neoliberales Symbol – vor dem Hintergrund der politischen Krise nach dem Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden – so schnell wie möglich aus den Schlagzeilen haben wollte.

Was zeigt nun der Verlauf der Debatte über die Zukunft des europäischen Projekts? Die Kommission begründet die Richtlinie mit der bekannten neoliberalen Doktrin: Durch die Intensivierung des Wettbewerbs entstünden Wohlfahrts­effekte, von denen letztlich alle profitieren. Marktöffnungen dieser Art gab es zahlreiche in der Geschichte der Europäischen Union. Was war diesmal anders?

Zunächst sind die Reichweite der Richtlinie, die ursprünglich so unterschiedliche Bereiche wie den Gesundheitssektor, Zeitarbeitsfirmen, die Reinigungsbranche, den Informatiksektor oder Sicherheitsfirmen umfasst, und der Modus der Marktöffnung – das Herkunftslandprinzip – zu nennen. Beide sorgten vor allem für eines: große Unklarheit darüber, was genau die Konsequenzen sein würden. Das entscheidende Ereignis war aber die EU-Ost-Erweiterung, mit der die sozio-ökonomischen Unterschiede in der EU dramatisch zugenommen haben. Hierdurch wurden Ängste ausgelöst, deren zentrales Motiv in der Wahrnehmung der EU als Bedrohung für Arbeitsplatz und soziale Sicherheit liegt.

Besonders deutlich trat es in Frankreich und Deutschland hervor, wo der Umfrage »Eurobarometer« zufolge im Frühling 2006 etwa 85 Prozent der Befragten Angst davor haben, dass Arbeitsplätze in EU-Länder mit niedrigeren Lohnkosten verlagert werden. Circa 65 Prozent befürchten zudem den Verlust sozialer Standards und Sozialleistungen infolge der EU-Integration. Die »Europäische Union wird hier nicht als mögliche Lösung, sondern eher als Teil der negativen Entwicklung gesehen«, heißt es selbst in einem begleitenden Kommentar der EU-Kommission.

Diese Ängste zeigen, dass hier eine Kollision stattfindet zwischen bislang überwiegend nationalen Solidaritäts- und Gleichheitsvorstellungen vieler EU-Bürger mit einer Politik, die alle Bürger »gleich behandelt«, weil sie Gesetze schafft, die für alle Mitgliedsländer gleichermaßen gelten. In den osteuropäischen Ländern werden die Ängste in den westlichen EU-Staaten als unfair erlebt, man fühlt sich wie »Bürger zweiter Klasse« behandelt.

Aus Befürchtungen in der Bevölkerung entsteht jedoch noch keine Politik. Entscheidend ist vielmehr, ob und wie sie in die Sprache des politischen Systems übersetzt werden. Beobachtet man die politische Debatte über die Dienstleistungsrichtlinie, so irritiert auf den ersten Blick die Tatsache, dass linke und rechte Kritiker einen fast identischen Diskurs verwenden. Fast wörtlich gleichen sich ihre Statements. Die Kommission wird als neoliberal gebrandmarkt, und es wird vor den desaströsen Folgen von Lohn- und Sozialdumping gewarnt. Der überwiegende Teil der linken Kritik bezeichnet die Richtlinie als reaktionär, weil sie mühsam erkämpfte soziale Rechte einzuschränken droht, und beruft sich dabei auf ein nicht genauer definiertes »europäisches Sozialmodell«. Die Kritik der Rechten ist dagegen ausschließlich natio­nalistisch.

In der Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie wurde noch eines deutlich: die ambivalente Rolle der EU, die ein Teil der kapitalistischen Globalisierung ist und gleichzeitig Schutz davor zu bieten verspricht. Zwar wurde die Richtlinie formal entschärft. Weiterhin unklar bleibt jedoch, wie sie sich tatsächlich auswirken wird. Im schlimmsten Fall führt der Europäische Gerichtshof das Herkunftslandprinzip wieder ein. Die Debatte um die Bolkestein-Direktive sowie die Ablehnung des Verfassungsvertrags zeigen, dass die Zukunft des europäischen Projekts nicht zuletzt davon abhängt, ob sich Europa als »sozialer Schutzraum« präsentieren kann.