Zur falschen Zeit am falschen Ort

Der Schuss auf Carlo Giuliani

Der dicke junge Mann, der im Fernsehstudio sitzt, heißt Mario Placanica. Der heute 24jährige mit dem Hundeblick war vor fünf Jahren ein Carabiniere. Der andere Studiogast ist ein schüchtern wirkender Mann um die 60. Er trägt eine große Brille, sein Name ist Giuliano Giuliani. Der Vater von Carlo Giuliani, dem jungen Mann, der 2001 während der Proteste gegen den G 8-Gipfel in Genua erschossen wurde, sitzt zum ersten Mal dem Mann gegenüber, der einem gerichtlichen Urteil zufolge am 20. Juli 2001 auf der Piazza Alimonda »aus legitimer Notwehr« mindestens drei Kugeln abfeuerte, wovon eine, so das Gericht, von einem fliegenden Stein abgelenkt wurde, deshalb den Kopf des Demonstranten traf und ihn sofort tötete.

Der ehemalige Carabiniere spricht mit einem starken kalabresischen Akzent, und er vermittelt den Eindruck, sich jeden Satz genau zu überlegen. Vor zwei Wochen behauptete er im Interview mit einer Lokalzeitung, »man« habe auf der Piazza Alimonda einen Toten gewollt, er habe lediglich einige Warnschüsse in die Luft abgefeuert und sei später zum Sündenbock gemacht worden, »um jemand anderen zu decken«. Das Bild ging um die Welt: Man sieht den vermummten Demonstranten von hinten, er trägt ein weißes, ärmelloses Shirt und hat einen Feuerlöscher in der Hand. Vor ihm steht ein Jeep der Carabinieri, aus dem Inneren des Fahrzeugs sieht man einen ausgestreckten Arm und eine zielgerichtete Pistole ragen. Wenige Sekunden später ist Carlo Giuliani tot.

Placanica ist nun sicher: Geschossen habe jemand, der sich außerhalb des Fahrzeugs befand. Konkrete Aussagen macht er dazu nicht, was sein plötzliches coming out als Opfer einer Verschwörung nicht gerade glaubwürdig macht. An rätselhaften Details fehlt es in seiner Rekonstruktion allerdings nicht: Es lohne sich, sagte er zum Beispiel, eine Frau zu fragen, die im dritten Stock eines Wohnhauses auf der Piazza Alimonda wohnt. Sie habe nämlich kurz vor Giulianis Tod »Besuch von einem Polizeibeamten« bekommen. Genauere Angaben macht der ehemalige Carabiniere nicht.

Was will er eigentlich? Während des Prozesses versuchten die Parteien der Koalition von Silvio Berlusconi sowie die rechtskonservative Presse, den jungen süditalienischen Carabiniere aus einfachen Verhältnissen zu einem »proletarischen Helden« zu stilisieren, der sich gegen gewalttätige Linksex­tremisten verteidigen musste. Nach seinem Freispruch wurde Placanica jedoch wegen psychischer Störungen aus seiner Einheit entlassen. Nach einer Reihe psychiatrischer Untersuchungen und heftigen medikamentösen Behandlungen wurde er schließlich für untauglich erklärt. Seine Karriere als Carabiniere war beendet. Später versuchte er es in der Politik. Er wollte für die postfaschistische Alleanza Nazionale bei den Kommunalwahlen in Kalabrien kandidieren, doch die wollte ihn als Kandidaten nicht haben.

In der Fernsehsendung, in der er dem Vater von Carlo Giuliani gegenübersaß, erklärte er, er wolle mit der Familie zusammenarbeiten. Die Staatsanwaltschaft in Genua hat bereits angedeutet, dass sie Placanica für einen schlechten Zeugen hält. Ein neues Verfahren werde aufgrund seiner Aussagen nicht eingeleitet, ließ sie in der vorigen Woche verlauten.

Für glaubwürdiger scheinen ihn diejenigen in der Mitte-Links-Koalition von Romano Prodi zu halten, die eine parlamentarische Untersuchungskommission zum G 8-Gipfel in Genua fordern: Rifondazione Comunista und die Grünen. Unumstritten ist das Thema innerhalb der Koalition nicht. Die anderen Parteien würden eine solche Kommission nur dann akzeptieren, wenn sie sich nicht nur mit dem Verhalten von Polizei und Carabinieri, sondern auch mit »der Gewalt der Demonstranten« beschäftigt.