Keine Katharsis

30 Jahre deutscher Herbst

Der deutsche Durchschnittsexistenzialist kann sich Veränderungen nur als kathartische Katastrophe vorstellen, die regelmäßig in der Affirmation des Bestehenden endet. Wie die Eltern die elenden Jahre unmittelbar nach 1945 als notwendiges Durchgangsstadium zum Wirtschaftswunderland interpretiert hatten, so emp­fanden ihre Söhne und Töchter die siebziger Jahre als Durchquerung des Tals der Tränen, deren Vollendung auf das Jahr 1977 datiert werden kann.

1977 wurde gehobelt, und es fielen Späne; Helmut Schmidt bedankte sich zwei Jahre später bei den deutschen Juristen für ihren Verzicht auf eine genauere Überprüfung der eilends eingeführten Sondergesetzgebung. Was 1977 und danach eigentlich nur von der RAF selbst behauptet wurde – sie habe mit der »Offensive 77« die Machtfrage stellen wollen –, ist nun freimütiger Konsens der Demokraten. Allerdings als Loyalitätsfrage: »Die im Herbst 1977 ihren Höhepunkt erreichende Auseinandersetzung zwischen der RAF und der Bundesrepublik trug Züge einer gesamtgesellschaftlichen Teufelsaustreibung, in deren Zentrum die Frage des legitimatorischen Verhältnisses von Staat und Gesellschaft stand«, zitiert die Welt die Historikerin Dagmar Hauser.

Viele Linke erlebten dieses Jahr als per­sönliche Katharsis: Waren sie vor der Erschießung des Generalbundesanwalts Buback im April 1977 vielleicht Kritiker der RAF, begriffen sich aber durchaus als Staatsfeinde in revolutionärer Absicht, hatten sie sich zum Ende des Jahres in öffentlichen und nicht öffentlichen Unterwerfungsgesten zum Gewaltmonopol des Staats bekannt. Ihrem erfolgreichen Aufstieg in Regierungsposten und Ministerämter stand nichts mehr im Wege. Aus heutiger Sicht scheint es tatsächlich so, als habe die RAF der verhassten reformistischen Linken den Weg an die Futtertröge freigeschossen, als habe die Strategie, mittels bewaffneter Aktionen den Staat zu zwingen, seine faschistische Fratze zu zeigen, nirgendwo anders enden können als in jener Identifikation mit dem Souverän, die für alles, was folgte, entscheidend war: die Wiedervereinigung und den Aufstieg Deutschlands zur europäischen Führungsmacht.

Entgegen anderer Vermutungen war es nicht so, dass diese Linken alles über Bord geworfen hatten – ihren Antiamerikanismus und Antiimperialismus nahmen sie mit, ebenso die bizarre Faszination für Stämme, Völker und sonstige Gemeinschaften: alles, von dem sie nicht zu Unrecht annahmen, es könnte auf dem Weg zur Macht noch einmal nützlich sein. Wie nützlich, das haben sie wohl nicht einmal zu träumen gewagt. Auch die Gefangenen waren ihnen nützlich, als ihr negatives Abziehbild, vor dem sie umso heller strahlten.

Dass es gerade jene Ideologieversatzstücke waren, die den einen zur Macht und die andere auf Jahrzehnte ins Gefängnis brachten, zeigt zum einen, wie wenig diese zum Maßstab irgendeiner fortschrittlichen Entwicklung taugen. Zum anderen zeigt es, dass weder militanter Antiimperialismus noch fehlende Reue hinreichende Gründe für die weitere Inhaftierung der Gefangenen darstellen. Der Grund liegt in der Verweigerung tränenreicher Talkshowbekenntnisse oder anderer Heimkehr symbolisierenden Verrenkungen, mit der die letzten beiden Staatsfeinde nachholen könnten, was ihre Generation 1977 vorgemacht hat. Die vorerst letzte deutsche Katharsis fällt aus, weil die Hauptdarsteller sich weigern, ihren Text aufzusagen.

tjark kunstreich